Vom Hilfsverein zum virtuellen Zentrum

Peter Finkelgruen im Gespräch mit Joachim Scholl · 18.06.2009
Das P.E.N.-Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland habe sich seit der Gründung seines Vorläufers, dem deutschen Exil-P.E.N., vor 75 Jahren von einem "Hilfsverein" für verfolgte Autoren zu einem "gesellschaftlich literarischen Produkt" und "virtuellen Zentrum" entwickelt, erklärt der Schriftsteller und frühere Vorstand Peter Finkelgruen.
Joachim Scholl: Das war Michael Opitz über die Gründung und Geschichte des deutschen Exil-P.E.N., aus dem das P.E.N.-Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland hervorging. Zu Gast ist jetzt Peter Finkelgruen, Schriftsteller und früherer Vorstand im Verein. Herzlich Willkommen im "Radiofeuilleton"!

Peter Finkelgruen: Danke, guten Morgen!

Scholl: In Ihrer Satzung, Herr Finkelgruen, heißt es: "Mitglieder können ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit und ihren Wohnsitz deutschsprachige Autoren werden, die sich bedeutende Verdienste um die deutschsprachige Literatur erworben haben." Das heißt, auch Schriftsteller, die in Deutschland leben, können im P.E.N.-Zentrum der Auslandsautoren aufgenommen werden oder der deutschsprachigen Auslandsautoren. Das klingt ein bisschen widersinnig im ersten Moment?

Finkelgruen: Nein. Nein, nein. Also es ist ja so: Es gibt ja durchaus unter unseren Mitgliedern ein paar der Pioniere, die zur Gründergeneration noch gehörten, das ist das eine. Das andere ist, dass sich in diesem Verein auch Autoren zusammengefunden haben, die sich schwer im deutschen P.E.N. oder anderen deutschen Organisationen heimisch fühlen konnten, was schon mit der mangelnden Sensibilität vieler deutscher Einrichtungen gegenüber den Opfern beider deutscher Diktaturen zusammenhängt.

Scholl: Sie selbst kennen noch die Exilsituation. Sie sind 1942 in Shanghai geboren, als Kind aus Deutschland vertriebener jüdischer Eltern, haben im Ghetto dort gelebt. Dann sind Sie nach Prag gekommen, später nach Israel. Heute leben Sie in Köln. Hat Sie diese biografische Odyssee zu einem deutschsprachigen Schriftsteller im Ausland gemacht?

Finkelgruen: Sogar formal, ja. Weil ich durch diese Biografie natürlich mehrere Staatsangehörigkeiten habe, kann ich natürlich auch sagen, ich bin ein israelischer Staatsbürger deutscher Sprache, der gerade in Deutschland ist, oder ein tschechischer Staatsbürger, der in Deutschland schreibt. Also die Biografien des 20. Jahrhunderts sind vielfältig und haben sehr merkwürdige Blüten produziert.

Scholl: Warum sind Sie, als Sie dann nach Köln gingen, nicht in die "normale", in Anführungszeichen, Sektion des P.E.N. eingetreten, was waren Ihre Beweggründe für dieses P.E.N.-Zentrum?

Finkelgruen: Also ich kann das sehr konkret benennen und bei anderen Mitgliedern war es sicherlich ähnlich. Für mich war die Vorstellung, Mitglied eines Vereins zu werden, in dem zu der Zeit, als es um die Frage des Eintritts ging, Mitglieder waren, die seinerzeit lieber in der Reichsschrifttumskammer waren als im Exil-P.E.N., und die konkret in der Zeit, in der ich im Shanghaier Ghetto war, bei der deutschen Botschaft am Generalkonsulat mit der Verfolgung der Juden etwas zu tun hatten, einfach undenkbar.

Scholl: Diese Diskussion hat damals im P.E.N. auch nicht stattgefunden?

Finkelgruen: Diese Diskussion hat in diesem Lande nie wirklich stattgefunden. Also die deutsche Nachkriegsgeschichte ist eine Nachkriegsgeschichte des Verdrängens, des Nichtwissenwollens, was man damals wer, wo war, und des Hinnehmens, dass die Täter von gestern zu den Machthabern von heute gehörten. Das war Teil der restaurativen Periode der Bundesrepublik. Das ist Teil der Realität nach der Vereinigung mit der DDR. Das ist auch ein Grund, warum wir einige Autoren aus der DDR in unseren Reihen finden, weil sie diese Realität nicht akzeptieren können.

Scholl: Lassen Sie uns das noch einen Moment zurückstellen, Peter Finkelgruen, auf jeden Fall kommen wir darauf zu sprechen. Zum Jubiläum des Zentrums haben Sie eine Anthologie herausgegeben. Darin habe ich diese Verse von Mascha Kaléko gefunden: "Mich trieb von Berlin nach Amerika ein Abschnitt der jüngsten Geschichte. Nun sitz ich im fernen New York, USA, und schreibe dort – deutsche Gedichte." Darin liegen Schmerz und Klage des Vertriebenseins und zugleich auch, ja, eine humorvolle Umgangsweise damit. Heute wissen wir ja auch durch die Exilforschung, wie versprengt und vereinzelt und auch zerstritten die deutschen Exilschriftsteller damals in den Nazi-Jahren waren. Welche Rolle hat die Gründung dieses Exil-P.E.N. 1934 eigentlich gespielt?

Finkelgruen: Nun ja, es war in den ersten Jahren, war diese Organisation ja eher so etwas wie ein Hilfsverein, um anderen verfolgten Autoren zu helfen, aus Deutschland rauszukommen. Es ging darum, Empfehlungsschreiben zu schreiben, damit die Leute Visa bekamen und raus konnten. Also bis 41 war so das eher ein Hilfsverein auf Gegenseitigkeit. Danach gab es schon, Alfred Kerr hat sich bemüht, daraus ein gesellschaftlich literarisches Produkt zu formen, das ist auch gelungen. Nach dem Krieg sah man sich wieder vor neue Realitäten gestellt. Es gab immerfort Veränderungen, bis zu heute. Heute sind wir auch, obwohl wir eins der ältesten P.E.N.-Zentren sind, die es ja gibt, sind wir sehr innovativ. Ich nenne uns manchmal ein virtuelles Zentrum, weil gerade dadurch, dass unsere Mitglieder verstreut sind von Neuseeland über Kanada, Lateinamerika und Israel und Deutschland, sind wir beinahe im täglichen Kontakt übers Internet. Es finden Mitgliederversammlungen im Internet statt, es finden Vorstandssitzungen … Also das ist natürlich ein Vorteil, den unsere Gründer nicht hatten. Damals musste man noch handgeschriebene Briefe mit dem Schiff über den Atlantik schicken.

Scholl: Ich meine, das Exil bestand ja weiterhin im Grunde nach 1945. Viele Autoren sind nicht zurückgekommen, auch weil man sie gar nicht wollte – etwa Alfred Döblin oder viele andere. 1948 hat sich dann der Exil-P.E.N. in das Zentrum für deutschsprachige Autoren Ausland verwandelt. Welche Ziele hatte man sich nun gesetzt?

Finkelgruen: Die Ziele blieben die gleichen. Man muss wissen, dass es nach dem Krieg ironischerweise, also der Exil-P.E.N. gehörte ja zu den Geburtshelfern des deutschen P.E.N., das muss man, wenn Sie sich die Archive anschauen, werden Sie sehen, welchen Beitrag der Exil-P.E.N. geleistet hat, um den deutschen P.E.N. wieder auferstehen zu lassen. Aber merkwürdigerweise besonders aus den Reihen des ostdeutschen P.E.N. gab es Bestrebungen und Bemühungen, den Exil-P.E.N. aufzulösen. Dagegen hat man sich gewehrt und als Kompromiss entstand dann ein neuer Titel.

Scholl: Sie haben es schon angesprochen vorhin, ostdeutsche Autoren. Es ist ja interessant, dass sich nach 1989 etliche ostdeutsche Schriftsteller dem Zentrum für deutschsprachige Autoren im Ausland anschlossen, auch aus Protest gegen die Vereinigung von Ost- und West-P.E.N., weil man damals auf die Stasiüberprüfung verzichtet hatte. Günter Kunert etwa, der heute Präsident ist. Ich meine, Sie haben vorhin die Parallele gezogen, warum Sie in das Zentrum gegangen sind. Spielt eigentlich heute dieser Ost-West-Gegensatz noch eine Rolle? Wir sind jetzt im 20. Jahrhundert.

Finkelgruen: Aber ja, hören Sie mal: Beide historische Gruppen sozusagen begegnen den Schreckgespenstern von gestern noch immer tagtäglich auf irgendeine Art und Weise, sei es auf der Behörde, sei es in irgendwelchen Vereinen oder was auch immer.

Scholl: Sie sind jetzt hier in Berlin zur Vorstandssitzung. Was steht denn auf der Agenda?

Finkelgruen: Wir benutzen solche Gelegenheiten, wenn wir eine Versammlung haben, bei der Präsentation der Anthologie oder so etwas, um kleinere Mitgliederversammlungen abzuhalten. Und gut, dann werden die neuesten Dinge besprochen, es werden auch Neuaufnahmen beraten und so weiter - was so zum Alltagsleben eines Vereins gehört.

Scholl: Dann wünschen wir gutes Gelingen. Das P.E.N.-Zentrum für deutschsprachige Autoren im Ausland wird 75. Zu Gast war der Schriftsteller und frühere Vorstand Peter Finkelgruen. Schönen Dank für Ihren Besuch und das Gespräch. Alles Gute!