Vom "gottgleichen Gebilde" zum Stern unter vielen

08.06.2012
Richard Cohen hat acht Jahre für dieses Buch recherchiert, ist durch 18 Länder gereist und hat sechs Kontinente besucht. Was er an Geschichten, Mythen und Legenden, aber auch an Fakten und wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Sonne zusammengetragen hat, ist einmalig.
1616 verwarnte die katholische Kirche Galileo Galilei erstmals: sein Eintreten für ein heliozentrisches Weltbild war nicht hinnehmbar. Doch tatsächlich rief der Italiener mit der Entdeckung der Sonnenflecken noch größeres Entsetzen hervor, wie Richard Cohen in seiner Kulturgeschichte der Sonne erläutert: "Die Vorstellung, die Sonne könne nicht vollkommen sein, war zu fürchterlich." Seit aristotelischer Zeit galt das Gestirn als makellos, "und plötzlich war sie befleckt, schmuddelig und gesprenkelt." Die Inquisition ließ nicht lange auf sich warten.

So spannend und detailreich Richard Cohen Galileis Entdeckungen auch beschreibt, es sind nur winzige Details in seinem mit 688 Seiten erschreckend umfangreichen Porträt über die Sonne. "Der Stern, um den sich alles dreht" heißt es im Untertitel, und das ist hier durchaus wörtlich gemeint, denn Cohen betrachtet die Sonne aus allen nur erdenklichen Blickwinkeln. Er hat acht Jahre für dieses Buch recherchiert, ist durch 18 Länder gereist und hat sechs Kontinente besucht. Was er an Geschichten, Mythen und Legenden, aber auch an Fakten und wissenschaftlichen Erkenntnissen zusammengetragen hat, ist einmalig.

Sechs Kapitel strukturieren dieses Buch, und jedes für sich funktioniert als geschlossene Erzählung. Die eine behandelt etwa die Funktion der Sonne für Navigation, Kartografie und die Berechnung der Zeit. Eine andere untersucht ihre Bedeutung für Literatur, Kunst, Film und Musik. Eine weitere erzählt die faszinierende Geschichte der Erforschung der Sonne; von den Sumerern, über Größen wie Kopernikus, Brahe, Kepler, Galilei, Newton oder Einstein bis zur modernen Astrophysik.

Galt die Sonne einst im Mythos aller Kulturen noch als gottgleiches Gebilde, dem man mit Festen, Tänzen und Gesängen – Cohen beschreibt unzählige Riten – huldigte, war sie gegen Ende des 18. Jahrhunderts gänzlich entzaubert. Sie war nur noch ein Stern unter vielen; in einer von mindestens 100 Milliarden Galaxien, wie man heute weiß. Allerdings ist sie der Stern, ohne den wir nicht leben können und hat deshalb bis heute nichts von ihrer Faszination eingebüßt.

Cohen erweist sich nicht nur selbst als ein von der Sonne Faszinierter, sondern auch als glänzender Erzähler mit Sinn für Abwegiges und Nebensächliches. Das macht einen großen Teil des Lesevergnügens aus. Bisweilen gelingen ihm wahre Glanzstücke. Etwa mit der Betrachtung von Teint-Moden, von der Bedeutung der Sonne für den Krieg und den Sport oder der Beschreibung vom Kampf der Maler mit der Darstellung von Licht. Die Zeitgenossen William Turners etwa lästerten noch angesichts seiner unerhörten Farbpalette über des Künstlers "Gelbfieber". Cohen erläutert heute anhand neuester Erkenntnisse über die Streuung von Licht, wie nah Turner tatsächlich der Wirklichkeit gekommen ist. Das ist schlichtweg herausragend.

Eine Schwäche allerdings hat das Buch: die schiere Menge der Geschichten geht stellenweise mit mangelnder Tiefe einher. Aber wer wollte dem Autor verdenken, in der einen oder anderen Galaxie verloren gegangen zu sein?

Besprochen von Eva Hepper

Richard Cohen: Die Sonne. Der Stern, um den sich alles dreht
Übersetzt von Claudia Preuschoft
Arche Verlag 2012, 688 Seiten