Vom Gastarbeiterland zum Einwanderungsland

Gast: Hatice Akyün, Journalistin und Autorin · 22.10.2011
Vor 50 Jahren, am 30. Oktober 1961, wurde in Bad Godesberg das Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik und der Türkei geschlossen. Zunächst erwarteten weder "Gastarbeiter" noch Deutsche, dass die Türken lange in der Bundesrepublik bleiben würden - die Realität sah anders aus. Die Gäste auf Zeit blieben. Heute lebt bereits die dritte Migrantengeneration in Deutschland, rund drei Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln.
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Ist das Jubiläum ein Grund zum Feiern oder zum Nachdenken?

"Zum Feiern! Wenn es den Vertrag nicht gegeben hätte, wäre mein Leben ganz anders verlaufen", sagt die Journalistin und Autorin Hatice Akyün. Bekannt wurde sie unter anderem durch ihre Bücher "Einmal Hans mit scharfer Soße" und "Ali zum Dessert", in denen sie humorvoll, aber auch hintersinnig ihr Leben in beiden Kulturen erzählt und die gegenseitigen Klischees entlarvt. Ihr Vater kam Ende der 60er-Jahre aus Ostanatolien nach Duisburg und arbeitete dort als Bergarbeiter. Die Familie folgte, als Hatice Akyün drei Jahre alt war, seitdem lebt sie in Deutschland.

"Es ist auch ein Tag, um den Mut meines Vaters zu feiern, wer weiß, was passiert wäre, wenn es mein Vater nicht getan hätte, dann wären wir noch in unserem anatolischen Dorf, so wie meine Cousinen, wir wären vielleicht Analphabetinnen."

In ihrer "Tagesspiegel"-Kolumne befürchtet sie aber auch, dass es ein "einsamer Geburtstag" werden wird:

"Keiner, der die Party schmeißt, kennt den Jubilar und weiß, wie er sich fühlt."

Auch nach 50 Jahren lebten Türken und Deutschen nebeneinander, geprägt von gegenseitigen Vorurteilen:

"Ganz, ganz früher war ich Bergarbeiterkind, da habe ich mit italienischen, deutschen und polnischen Kindern gespielt, deren Väter alle im Pütt gearbeitet haben. In den 90er-Jahren war ich dann ein Ausländer, das war rund um Solingen, nach dem 11. September war ich auf einmal Muslima. Jetzt bin ich Deutsche mit Migrationshintergrund oder Migrantin. Ich finde jede dieser Etikettierungen schlimm, es gibt so viele Schubladen, in die man reingesteckt wird."

Dies erlebte sie erneut nach der Veröffentlichung des Buchs von Thilo Sarrazin "Deutschland schafft sich ab". Sie stellte sich einem Gespräch mit dem Autor, erwog Deutschland zu verlassen. Sie blieb.

"Ich bin die Letzte, die sagt, wir dürfen die Probleme nicht ansprechen. Aber dann will ich auch, dass klar wird, woher die Probleme kommen. Es wird aber alles in einen Topf geworfen, dass alles Probleme der Türken sind."

Sie weiß um die Integrationsprobleme, spricht diese auch in Podiumsdiskussionen und bei ihren Schulbesuchen an.

"Ich kann es immer nur wieder sagen, und das mag platt klingen, aber es ist: Bilden, Bilden und nochmals Bilden! Die Kinder müssen raus aus ihrem Elternhaus und rein in den Kindergarten, weg von dem türkischen Fernsehen! Wir dürfen nicht vergessen, dass jedes fünfte Kind in einer Großstadt einen Migrationshintergrund hat. Es geht es darum, dass wir eine Gemeinschaft sind, die zusammenleben muss. Wir sollten nicht trennen in 'Die' und 'Wir', das sind deutsche Kinder, die sind hier geboren!"

Trotz aller Hürden blickt sie positiv in die Zukunft:

"Ich habe seit 1987 einen deutschen Pass, gleich zu meinem 18. Geburtstag. Mein Vater war entsetzt, 'Du bist meine Tochter wie kannst du nur ...'. Heute hat er selber einen deutschen Pass. Meine Tochter ist schon als Deutsche geboren, ich habe noch nicht einmal graue Haare und meine Tochter ist schon Deutsche! Ich kann mir jede Zukunft für sie vorstellen, vielleicht wird sie mal Regierende Bürgermeisterin!"

"Vom Gastarbeiterland zum Einwanderungsland – 50 Jahre Türken in Deutschland"
Darüber diskutiert Dieter Kassel heute von 9 Uhr 05 bis 11 Uhr mit Hatice Akyün.
Hörerinnen und Hörer können sich beteiligen unter der Telefonnummer 00800 2254 2254 oder per E-Mail unter gespraech@dradio.de.

Literaturhinweis:
Hatice Akyün: Einmal Hans mit scharfer Soße. Leben in zwei Welten, Goldmann-Verlag 2005
Hatice Akyün: Ali zum Dessert. Leben in einer neuen Welt, Goldmann-Verlag 2008
Hatice Akyün
Hatice Akyün© André Rival