Vom Erbe der Shoa befreit

Rezensiert von Ernst Rommeney · 03.03.2013
Die Juden, aber eben auch nur die Juden, sollten die Last des Holocaust abschütteln, findet der österreichische Autor Peter Menasse. Die Zeit der Opferrolle sei vorbei. Auch der "oft inflationär gebrauchte Vorwurf des Antisemitismus" führe nicht zu neuen Einsichten.
Seine Rede wendet sich an Juden, aber ebenso an Nichtjuden, unter denen er sich meist bewegt, da er selbst nicht religiös ist. Er formuliert scharf und kritisch, aber auch humorvoll und nachsichtig, denn verletzen will er nicht, schon gar nicht die Opfer der Shoah, auch nicht die Wohlmeinenden, die sich um christlich-jüdischen Dialog, Gedenkstätten oder historische Forschung bemühen.

Ihm geht es darum, sich mit der jüdischen Gegenwart auseinanderzusetzen, die Last des Holocaust abzuschütteln, einen Schlussstrich unter ihn zu ziehen – aber eben nur für Juden, nicht für Ewig-Gestrige.

"Wann Schluss ist, bestimmen wir, nicht ihr. Lernt aus der Geschichte, beginnt selbstständig zu denken, emanzipiert euch, löst euch von einem Erbe, das über unsere Länder nur Unglück und Schande gebracht hat. Was eure Vorväter taten, ist auch euch anzulasten, wenn ihr euch nicht distanzieren könnt, wenn ihr das Unrecht nicht begreift." (S.10)

Erst sei das Schweigen gebrochen, dann das Unrecht des nationalsozialistischen Massenmords historisch aufgearbeitet worden, dokumentiert durch eine umfangreiche Literatur, Gedenkstätten und Denkmale. Und diese Aufgabe könnte die Mehrheitsgesellschaft nunmehr allein fortsetzen.

"Jahrzehntelang pilgerten Juden, die der Shoah entkommen konnten, als Zeitzeugen durch die Schulen oder übernahmen Verantwortung in den Institutionen des Gedenkens. Auch davon ist es genug." (S.72)

Zeit für eine neue, eine dritte Phase gekommen, in der die Juden ihre Opferrolle ablegen und aufhören, als nervige Minderheit aufzutreten. Denn erstens würden Opfer nicht ernst genommen werden. Zweitens nehme die Zahl derer ab, die unter den Folgen des Holocaust zu leiden hätten. Und drittens identifizierten sich jüdische Jugendliche nicht mehr mit entfernter Geschichte.

"Wir Juden sollten uns darauf konzentrieren, zu heutigen Themen mit heutigen Argumenten Stellung zu beziehen. Die Shoah ist Geschichte. Sie hat keinen Bezug zur Gegenwart der jungen Generationen." (S.76)

Und er empfiehlt, selbstbewusst, gelassen und wehrhaft aufzutreten, sich an prominenten Vorbildern zu orientieren, an Nobelpreisträgern wie Kulturschaffenden, sowie auf das althergebrachte Erfolgsrezept jüdischer Diaspora zu setzen, auf Bildung, Kreativität und Flexibilität.

"Wir sind heute keine Opfer, wir sind aufrechte Juden, von denen die Gesellschaft in vielerlei Hinsicht profitiert. Wir brauchen kein Mitleid und wir bekommen auch keines. Wir sollten uns auf unsere eigene Kraft verlassen. (S.55)

Den Opfern der Shoah versagt Peter Menasse nicht seinen Respekt, sieht aber für das Gedenken im israelischen Yad Vaschem den einzig geeigneten Ort. Am Sinn von Gedenkstätten hierzulande jedoch zweifelt er. Sie seien thematisch und rituell erstarrt, hätten keinerlei Einfluss auf politische Einstellungen, auf Stammtische. Denn die Engagierten blieben unter sich.

"Wehret den Anfängen!", heiß es. Aber wie, fragt er und vermisst Antworten, beispielsweise wie Deutsche und Österreicher in die nationalsozialistische Katastrophe hineingelaufen sind und warum Menschen immer noch diesem alten Ungeist verfallen.

"Wieso gehen so viele junge Leute den Rechtsextremen so leicht auf den Leim? Und warum brauchen so viele Menschen unschuldige Sündenböcke, statt ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen?" (S.62)

Nicht Juden müssten darauf antworten. Auch dies sollte nicht länger ihre Aufgabe sein. Richtig! Wie sich ein Gemeinwesen entwickelt, geht durchaus die Mehrheit an, auch wenn sie nicht das jüdische Lebensgefühl teilt, die Erfahrung, dass Kindertagesstätten, Schulen und Synagogen hochgesichert sind, ein steter Strom an Hass-Mails die Gemeindebüros erreicht, bekennende Glaubensbrüder öffentlich angepöbelt oder zusammengeschlagen werden. Gleichwohl rät Peter Menasse:

"Wenn wir die Sichtweise des Opfers verlassen, können wir mit klarem Blick jene identifizieren, die uns heute übelwollen, und ihnen Einhalt gebieten. Wir sehen dann endlich auch die vielen Menschen, die uns mögen oder, das wird die Mehrheit sein, denen wir herzlich egal sind." (S.21)

Das klingt klar, denn jene, die den Juden – und nicht nur ihnen – übelwollen, dürften kriminell und somit Sache des Staatsanwaltes sein. Nur mit den anderen lohnte sich ein Dialog. Und doch ist er ambivalent. Natürlich sei es erlaubt, israelische Politik zu kritisieren oder Bedenken zu einem religiösen Ritus zu äußern - wie dem der Beschneidung von Knaben.

Jedoch räumt er ein, dass mit jeder erregten Debatte auch jede Menge Ressentiments transportiert werden, die den jüdischen Nachbarn unter die Haut gehen. Trotzdem fände er es besser, wenn Gemeindevertreter ihre argumentativen Keulen aus der Hand legten.

"Manche unter uns möchte ich aufrufen, den inflationär gebrauchten Vorwurf des Antisemitismus an unsere Kritiker einzustellen, um ihn nicht am Ende der völligen Beliebigkeit und Bedeutungslosigkeit auszusetzen." (S.7)

Er prallt ab, führt nicht zu neuen Einsichten. Denn nicht nur die Übelwollenden, sondern vor allem die Wohlgesinnten blocken ab, fürchten um ihren Ruf. Letztlich hilft ein ideologiekritischer Vorwurf wie der des Antisemitismus nur unter Freunden, wo der eine mit dem anderen um richtiges oder falsches Denken ringt.

Peter Menasses dritte Phase nach dem Nationalsozialismus verspräche eine neue Debattenkultur – das Vergangene im Gedächtnis und der Zukunft zugewandt, intellektuell redlich und fair selbst im Streit. Vielleicht kam ja Margarethe von Trottas "Hannah Arendt" zur rechten Zeit in die deutschsprachigen Kinos. Der Film ist sehenswert – und das Buch lesenswert.

Peter Menasse: Rede an uns
Verlag edition a, Wien 2012
112 Seiten, 14,90 Euro
Cover: "Rede an uns" von Robert Menasse
Cover: "Rede an uns" von Peter Menasse© Verlag edition a, Wien