Vom Ende der Stigmatisierung

Portugals liberale Drogenpolitik

Drogenentzug
Sterile Utensilien für den Drogenentzug. © imago/Roland Mühlanger
Von Johannes Nichelmann · 18.07.2016
Mit dem Ende der Diktatur 1974 kamen die Drogen nach Portugal. Innerhalb kürzester Zeit konsumierten Menschen aller gesellschaftlichen Schichten Heroin oder Cannabis, viele wurden abhängig. Bis Portugal eines der liberalsten Drogengesetze Europas verabschiedete.
"Ich kann mich noch erinnern. Vor 15 Jahren hatte ich einen Freund nach Lissabon eingeladen. Damals war es ganz normal, Leute auf der Straße zu sehen, die sich Spritzen setzen. Und nicht nur hier, auch in Porto oder auf dem Land. Meistens kamen diese Leute auch ins Gefängnis. Leute die konsumiert haben, galten als Kleinkriminelle."
Carlos Poiares erzählt aus vergangenen Zeiten. Der Professor für Rechtspsychologie an der Lissaboner Lusófana Universität beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit den Ursachen von Drogenkonsum. Er ist stolz darauf, dass es in der portugiesischen Drogenpolitik vor 15 Jahren ein Umdenken gegeben hat. Im Jahr 2001 hat das Land eines der liberalsten Drogengesetze in Europa erlassen. Der persönliche Besitz von Rauschgift ist keine Straftat mehr, sondern eine Ordnungswidrigkeit. Harte Drogen wie Heroin oder Kokain dürfen in kleinen Mengen konsumiert werden. Statt des Justizministeriums ist das Gesundheitsministerium für das Thema zuständig. Wer Drogen nimmt, gilt als krank, nicht kriminell.
Um zu verhindern, dass die Portugiesen krank werden, gibt es viel Präventionsarbeit: in Schulen, Universitäten und bei kulturellen Veranstaltungen. Mit Erfolg: Gerade bei den 15- bis 19-Jährigen geht der Drogenkonsum zurück. Haben vor den Gesetzesänderungen in Portugal noch rund elf Prozent der Teenager illegale Suchtmittel eingenommen, sind es heute nur noch knapp acht Prozent. Eine deutliche Senkung in der wichtigsten Altersphase. Hier entscheidet sich, ob jemand später regelmäßig zu Drogen greift oder nicht, erklärt Professor Poiares.
"Ich denke, es ist wichtig, dass wir dieses Thema auf keinen Fall in Zusammenhang mit Kriminalität stellen. Gerade den Vereinten Nationen sollte das klar werden. Und wir sollten Drogenkonsum nicht nur als Krankheit darstellen, sondern auch als eine Art Lifestyle."

Mit dem Ende der Diktatur kamen die Drogen

Ein Lebensstil, den man natürlich kritisieren könne, aber dennoch respektieren müsse, sagt Carlos Poiares. Zumal die Akzeptanz verschiedener Substanzen in der Bevölkerung variiere: Ecstasy, Kokain oder Cannabis seien eher angesehen als Heroin. Gerade der Konsum dieses Opioids wurde von den Portugiesen vor Erlassung der Gesetze vor 15 Jahren als eines der größten sozialen Probleme des Landes wahrgenommen. Alcina Ló von der Behörde SICAD, die dem Gesundheitsministerium unterstellt ist und alle Aktivitäten im Zusammenhang mit Drogen koordiniert, erzählt von den Ursachen:
"Wir wissen nicht genau, warum das so war. Es gibt einige mögliche Gründe. Wir hatten bis 1974 eine Diktatur und nach der Revolution kamen mit der Demokratie viele neue Einflüsse auf uns zu. Die Portugiesen kamen mit vielen neuen Dingen in Kontakt. Außerdem kamen mit dem Ende der Kolonialherrschaft viele Kolonialisten zurück und mit ihnen eben auch diese Probleme."
Soldaten aus den letzten Kolonien, die Mitte der 1970er-Jahre unabhängig wurden, brachten vor allem Marihuana nach Portugal. Zeitgleich wurde Europa von Heroin aus Afghanistan und Pakistan überschwemmt. Das abgeschottete Portugal unter Diktator Salazar gab es nicht mehr. Nach der Nelkenrevolution wirkten die Drogen als Verstärker eines neu gewonnenen Gefühls von Freiheit.
"Vielleicht war der Grund für dieses Problem auch, dass es damals sehr einfachen Zugriff zu diesen Substanzen gegeben hat. Wir wussten nicht, wie man damit umgehen soll, welche Folgen der Konsum für uns Menschen hat."
Als das Problem überhand nahm, begann Ende der 90er-Jahre ein Umdenken in der Politik.
"Wir hatten Politiker mit Kindern und Verwandten, die Probleme hatten. Wir hatten Ärzte, wir hatten Journalisten und Anwälte – alle hatten damit zu tun. Vielleicht wurden die Gesetze zur Entkriminalisierung des Drogenkonsums auch deswegen erlassen, weil eben alle Schichten betroffen waren."
Die Regierung unter Führung der Sozialisten berief damals eine Anti-Drogen-Kommission und nahm fast all deren Vorschläge an. So gilt heute, dass ein Portugiese innerhalb von zehn Tagen folgende Mengen an Drogen besitzen darf: 25 Gramm Cannabis, fünf Gramm Haschisch, zwei Gramm Kokain, ein Gramm Heroin. Von den Partydrogen LSD und Ecstasy darf man zehn Pillen besitzen. Wer mehr dabei hat und erwischt wird, kommt auch heute noch vor einen Richter, gilt als Dealer.
Alle anderen müssen innerhalb von drei Tagen bei einer "Kommission zur Vermeidung des Drogenmissbrauchs" vorstellig werden. Hier arbeiten Psychologen, Soziologen und Sozialarbeiter. Anders als früher bei den Gerichtsverfahren, soll hier eine Stigmatisierung verhindert werden. Es werden Gespräche zur Aufklärung geführt. Muss jemand ein zweites Mal vorstellig werden, wird eine Geldbuße in Höhe von 30 bis 40 Euro verhängt. Es werden Therapien angeboten, zugeschnitten auf die Probleme der Menschen, erklärt Carlos Poiares – Professor für Rechtspsychologie aus Lissabon.
"Damit hat man erreicht, dass die Drogenkonsumenten heute viel häufiger in Krankenhäuser und Praxen kommen. Somit können wir eine viel bessere Versorgung garantieren. Die Menschen kommen eher zu uns, als sie es vorher getan haben. Am Ende bedeutet dies, dass wir auch den Heroin-Konsum senken können."

Prävention vor Ort mit dem Bus

Zum Konzept gehört auch die Schadensminderung. Menschen die Drogen nehmen, sollen soweit wie möglich vor den schlimmsten negativen Auswirkungen ihres Konsums bewahrt werden. Das bedeutet in der Praxis, dass die Psychologin Soraia Cunhe einen klapprigen weißen Van durch den Nachmittagsverkehr von Lissabon steuert. Neben ihr sitzt die Sozialarbeiterin Andreia Alves, die von einer Rolle Alufolie Blätter abreißt und zu Vierecken faltet. Sie wird die Folienstücke später an Heroin-Abhängige verteilen, damit die das Heroin hygienischer konsumieren können. Die beiden Streetworkerinnen arbeiten für eine Nichtregierungsorganisation, die im Auftrag des portugiesischen Gesundheitsministeriums jeden Tag den Kontakt zu Lissabons Drogennutzern hält.

Der Van hält am Rand eines Arbeiterviertels in der portugiesischen Hauptstadt unter einer Eisenbahnbrücke. Gegenüber steht ein verlassenes Gebäude. Von der Ladefläche des Vans nehmen Soraia und Andreia grüne Tüten, die jeweils mit sauberen Spritzen, Hygieneartikeln und einem Kondom gefüllt sind und stopfen sie in ihre Rucksäcke. Die 23-Jährige Andreia Alves zieht ihre grüne Warnweste zurecht.
"Wir bereiten gerade das Material vor. Wir gehen jetzt in dieses Gebäude, wo sich einige Drogenkonsumenten aufhalten. Wir werden sie fragen, ob sie dieses saubere Material zum konsumieren haben wollen. Wir werden mit ihnen reden – über ihr Leben, über das, was sie tun. Wenn sie Probleme haben, können wir ihnen helfen Lösungen zu finden."
Sie treffen auf einen Mann, der stark von seiner Drogensucht gezeichnet ist. Vernarbte Arme, die Kleidung hängt in Fetzen an ihm herunter, einige Zähne sind ausgefallen. Er kniet im Staub und kramt alte Spritzen aus seinem Rucksack. Die kommen in einen grün-roten Plastikeimer mit Sicherheitsverschluss. Niemand soll die Möglichkeit haben, sie noch einmal zu verwenden und sich möglicherweise mit Hepatitis oder HIV zu infizieren. Diese Arbeit ist wichtig. 2007 standen noch 20 Prozent der HIV-Neudiagnosen in Portugal im Zusammenhang mit Drogen. 2014 waren es nur noch vier Prozent. Ein rasanter Abfall. Auch die Zahl der Todesfälle durch Überdosierungen hat sich deutlich verringert. Der Mann erhält für jede Spritze, die er abgibt, eine neue. Sein Zustand ist so desolat, dass Andreia und Soraia ihn nach einem langen Gespräch dazu bewegen können, sich ins Krankenhaus fahren zu lassen. Vor ein paar Jahren noch wäre das undenkbar gewesen. Drogenabhängige Menschen hätten den vom Staat geschickten Frauen niemals vertraut.
"Sie kennen unser Team, wissen was wir machen. Sie mögen uns, wir haben eine gute Beziehung. Das ist die Basis für unseren Job!"
Lumiar - ein Stadtteil von Lissabon. Zweimal täglich können sich dort Menschen am Bus das Methadon des staatlichen Drogen-Programms abholen.
Lumiar - ein Stadtteil von Lissabon. Zweimal täglich können sich dort Menschen am Bus das Methadon des staatlichen Drogen-Programms abholen.© Deutschlandradio / Foto: Johannes Nichelmann

Vor allem Männer sind abhängig

Ein weiterer Baustein der portugiesischen Drogenpolitik ist das mobile Methadonangebot. Zweimal täglich, morgens und abends, hält in Lissabons Stadtteil Lumiar der weiße Bus eines staatlichen Drogen-Programms. Heroinabhängige Menschen können sich hier den Ersatzstoff abholen. So soll der Entzug erleichtert werden. Dabei erfolgt die Ausgabe des Methadons anonym: Die Klienten erhalten eine Nummer. Anhand dieser können die Mitarbeiter nachvollziehen, welche Dosierung die jeweilige Person benötigt. Aus dem Bus heraus reicht eine Frau die Flüssigkeit in kleinen weißen Plastikbechern unter einer Glasscheibe hindurch.

Es sind vor allem Männer, die kommen. Sie schlucken rasch das Methadon, spülen mit Wasser nach und gehen wieder. Einer von ihnen ist Emanuel, 40 Jahre alt. Er steigt von seinem Rennrad, setzt seinen Helm ab, begrüßt die Sozialarbeiter und Klienten, die um den Bus herum stehen. Mit 16 Jahren hat er angefangen Drogen zu nehmen.

"Ich hatte Freunde, mit denen ich begonnen habe, Heroin zu rauchen. Ich hab es ausprobiert und niemals aufgehört."

Seit sechs Jahren nimmt Emanuel am Methadon-Programm Teil. In einem Jahr will er damit durch sein, hofft, komplett mit dem Thema Drogen abschließen zu können. Er ist stolz darauf, dass er inzwischen ein geregeltes Leben führen kann.
"Gleich gehe ich nach Hause, um das Mittag für meine Töchter vorzubereiten. Sie haben gerade Ferien. Am Abend gehe ich zur Arbeit. In ein Restaurant."
Seine Kinder sind zwölf und 13 Jahre alt, sie wissen von den Problemen, die ihr Vater hat. Emanuel will sie davor bewahren, die gleichen Fehler zu machen wie er. Er hätte sich gewünscht, dass sein Vater ihm hätte helfen können, nicht in die Sucht zu rutschen. Das Problembewusstsein habe sich verändert. Die Gesellschaft gehe anders mit Drogenkranken um, meint Emanuel.
"Vor zehn Jahren warst Du als Drogennutzer ein Abtrünniger. Heute haben die Leute ihre Meinung geändert."
Streetworkerinnen Soraia und Andreia 
Die Streetworkerinnen Soraia und Andreia verteilen an die Drogenkonsumenten saubere Spritzen, Hygieneartikel und Kondome.© Deutschlandradio / Foto: Johannes Nichelmann

Kritik trotz positiver Entwicklung

Emanuel setzt sich seinen Fahrradhelm wieder auf und radelt nach Hause. Morgen früh wird er wieder kommen. Der Bus des Methadonprogramms steht hier in Lumiar immer zur selben Zeit zwischen einer Autobahnbrücke und mehreren Bauruinen. Die stammen noch aus den Zeiten der akuten Finanzkrise – es sollten neue Wohnungen werden – aber der Weiterbau wurde gestoppt. Heute wird in den halbfertigen Betonburgen gedealt. Das ist natürlich weiterhin verboten und wird von der portugiesischen Polizei geahndet. Weil die sich inzwischen nicht mehr auf sämtliche kleine Drogendelikte konzentrieren muss, kann sie heute größere Mengen sicherstellen. Es gibt weniger Verhaftungen, denn im Fokus stehen die Köpfe des Drogenhandels – weniger die Konsumenten.
Die geänderte Drogenpolitik in Portugal hatte anfangs große Bedenken ausgelöst. Vor allem Konservative Politiker befürchteten, Portugal würde sich zu einem Zentrum des europäischen Drogenkonsums und Drogenhandels entwickeln. Das ist nicht geschehen. Die meisten Kritiker sind mittlerweile verstummt. Weder die Sozialdemokraten, noch die liberal-konservativen Regierungen haben das Drogen-Programm der sozialistischen Partei "Partido Socialista" zurückgenommen. Wohl auch, weil es einen Rückgang der Kriminalitätsrate gegeben hat.
Vor allem Bagatelldiebstähle, die im Zusammenhang mit der Geldbeschaffung für Drogen stehen, sind weniger geworden. Kritik am Gesetz gibt es aber dennoch, weil es sich seit 2001 nicht weiterentwickelt hat.
Elsa Belo leitet das Methadonprogramm. Sie zeigt hier auf dem Parkplatz, neben dem Methadon-Bus, auf zahlreiche Gullys. Die Deckel fehlen. Drogenabhängige haben sie abgenommen, um in den ein Meter tiefen Löchern Heroin zu rauchen. Hier sind sie Wind geschützt und unbeobachtet. Öffentliche Einrichtungen zum konsumieren von Drogen gibt es noch nicht – bemängelt Elsa Belo.
"Es gibt noch keine Projekte für assistierten Drogenkonsum, weil die Regierung noch nicht die Courage dazu hatte. Ich glaube, wir müssen aber sehr ernsthaft darüber diskutieren. Es ist doch unverständlich! Wir haben hier eine solch liberale Drogenpolitik mit so guten Ergebnissen und gleichzeitig drängen wir die Konsumenten zu solchen Dingen."
Was kann Europa, was kann die Welt von Portugal lernen? Rechtspsychologe Carlos Poiares sagt, dass man solch ein System nicht einfach eins zu eins kopieren könne. Jedes Land müsse seine Gesetze individuell anpassen. Nur eines sei sicher:
"Ich will ihnen sagen: Die Vorstellung, dass die Menschheit ohne Drogen auskommen würde, ist sehr naiv."
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