Vom Drama des Verschwindens

06.05.2008
Es ist kein politischer Roman, den Nathan Englander geschrieben hat. In "Das Ministerium für besondere Fälle" entwickelt der Autor allein aus der Lebenswirklichkeit seiner Protagonisten heraus eine Familientragödie während der Zeit der argentinischen Militärjunta.
Die Geschichte, die dieser Roman erzählt, ist reich an Abgründen. Manche erscheinen auf den ersten Blick nicht allzu tief wie der, der am Beginn geschildert wird. Da ist der Held, Kaddisch Poznan, nachts auf dem jüdischen Friedhof von Buenos Aires mit Werkzeugen unterwegs, um die Namen in einem abgeteilten Terrain des Friedhofs von den Grabsteinen zu meißeln.

Mit Erinnerungskultur hat eine solche Auslöschung natürlich wenig zu tun, es geht, im Gegenteil, um die Vernichtung von Erinnerung. Denn in diesem abgeteilten Friedhof im Friedhof liegen jene Ganoven, Huren und sonstiges Gelichter begraben, die den ehrbaren Mitgliedern der Gemeinde immer schon peinlich waren. Und die nun "verschwinden" müssen, weil inzwischen selbst deren Kinder und Kindeskinder, die ihre "Ehrbarkeit" nicht zuletzt dem Geld dieser Vorfahren verdanken, ihre schändliche Herkunft vergessen machen wollen.

Das abgründige Drama des Verschwindens und des Verschwindenlassens spielt sich hier sehr konkret mit Hammer und Meißel ab, es verweist aber deutlich auf eine metaphorische Ebene. Auf jene verlorene Balance, die da einmal in einer Gesellschaft erreicht worden ist durch mühsam erarbeitete Kompromisse und die höchst fragil ist.

Immer ist der Moment der Gefährdungen sehr nah. Wie nah, das sehen Kaddisch und sein 20-jähriger Sohn Pato auf einem ihrer nächtlichen Friedhofseinsätze. Da stoßen sie auf die Leiche eines jungen Mannes, dem die Kehle durchschnitten und der offensichtlich auf diesem Friedhof abgelegt wurde. Beide wissen sofort Bescheid, denn man schreibt das Jahr 1976, in Argentinien haben die Militärs die Macht übernommen, diffuse paramilitärische Formationen aus ihrem Umfeld entfalten einen brutalen Terror, der nicht nur in Stein gemeißelte Namen, sondern konkrete Menschen verschwinden lässt.
Kaddischs Sohn Pato, ein junger und politisch links stehender Student der Soziologie und Geschichte, wird von seinen Eltern sofort als gefährdet eingeschätzt. Zwei Vorsichtsmaßnahmen sollen ihn schützen: eine dicke und schier unüberwindliche Metalltür am Wohnungseingang sowie das Entfernen der einschlägigen Bücher, die seine Gesinnung oder doch seine Interessen verraten könnten.

Beide Maßnahmen werden dann doch nichts nützen, denn das Grauen lässt sich nicht kalkulieren. Eines Tages wird Pato nach einem Rockkonzert verhaftet, weil er seinen Ausweis nicht bei sich führte. Kaum wieder freigelassen, wird er umgehend wieder "abgeholt".

Er bleibt bis zum Ende des Romans "verschwunden", ohne einen wirklichen Anhaltspunkt, ohne jede offizielle Beschuldigung. Der Roman beschreibt die Versuche seines Vaters und seiner Mutter Lillian, den Verbleib ihres Sohnes zu recherchieren und ihn möglichst zu retten.

Mit großem erzählerischen Geschick inszeniert der Autor zwei sehr gegensätzliche Haltungen dem Geschehenen gegenüber. Während Kaddisch, der Vater, nach der Wahrheit der Fakten sucht und bereit ist, hinzunehmen, dass sein Sohn zu jenen Opfern gehörte, die, mit Drogen vollgepumpt, aus großer Höhe aus einem Flugzeug in den Río de la Plata gestoßen wurden, weigert sich Lillian, die Mutter, den wahrscheinlichen Tod ihres Sohnes zu akzeptieren, solange kein eindeutiger Beweis diesen Umstand belegt. Über diese Zwietracht geht schließlich ihre Ehe in die Brüche.

Bemerkenswert an diesem Roman ist, mit welcher Souveränität der Autor es vermeidet, einen im engen Sinn politischen Roman zu fabrizieren. Sein Drama des Verschwindens entwickelt er ganz aus der umfassenden Lebenswirklichkeit seiner Figuren heraus. Dazu gehören das Rebellieren des Sohnes gegen seine Eltern ebenso wie der tiefliegende Konflikt zwischen Kaddisch und seiner Frau, der Lebenskonzepte, Ideale und Illusionen schmerzhaft auf den Prüfstand stellt.

Rezensiert von Gregor Ziolkowski

Nathan Englander: Das Ministerium für besondere Fälle
Roman, Aus dem Amerikanischen von Michael Mundhenk
Luchterhand Literaturverlag, München 2008
448 Seiten, 19,95 Euro