Vom doppelten Überstehen
Sara Rus hat den Holocaust überlebt und wanderte nach Argentinien aus. In der Militärdiktatur wurde ihr Sohn verschleppt. Seitdem ist Sara Rus eine der Mütter vom Plaza de Mayo, die gegen das Verschwinden ihrer Männer und Söhne protestieren.
Argentinien 1977. Auf der Plaza de Mayo im Zentrum von Buenos Aires protestieren Frauen, deren Kinder von der Diktatur verschleppt wurden. Im Jahr zuvor hat in Argentinien eine Militärjunta die Macht ergriffen. Armee und Polizei machen Jagd auf linke Oppositionelle, Guerillero-Gruppen und alle, die sie für subversiv halten. Täglich verschwinden Menschen: Studenten, Schüler, Gewerkschafter und Intellektuelle. Die Frauen mit den weißen Kopftüchern werden bald als Mütter der Plaza de Mayo bekannt.
"Wir gingen zu allen möglichen staatlichen Institutionen und Ministerien und trafen dort andere Mütter. Die Väter mussten ja arbeiten, und die Mütter suchten die Kinder. Weil wir keinerlei Informationen erhielten, schlossen wir uns nach kurzer Zeit zusammen. Einige Mütter begannen, mit weißen Kopftüchern auf dem Platz zu demonstrieren."
Für Sara Rus, eine der Mütter der Plaza de Mayo, beginnt die Suche nach ihrem Sohn am 15. Juli 1977. An diesem Tag wird der Physiker Daniel Rus beim Verlassen seines Arbeitsplatzes in der Nationalen Atomenergie-Kommission in Buenos Aires verschleppt. Daniel ist 26 Jahre alt, als er verschwindet. Ob ihr Sohn politisch aktiv war, wissen die Eltern nicht.
Sara Rus, Hausfrau, geht auf die Straße. Ihr Mann Bernardo schreibt Briefe: an den argentinischen Diktator Jorge Rafael Videla, an die UNO, an den deutschen Außenminister Hans-Dietrich Genscher. Die Bemühungen sind vergeblich. Von Daniel und den meisten anderen Verschwundenen, deren Zahl auf 30.000 geschätzt wird, fehlt in Argentinien bis heute jede Spur.
"Ich habe nie erfahren, was mit meinem Sohn passiert ist. Das ist ein großer Schmerz. Aber ich höre nicht auf, zu reden und zu kämpfen. Viele Leute wissen nicht, dass diese Dinge in Argentinien passiert sind. Man muss es erzählen, damit es bekannt wird."
Sara Rus ist eine attraktive 82-Jährige, klein und zierlich, die Haare blond, die Augen groß und braun. In ihrem Spanisch ist ein leichter polnischer Akzent auszumachen. Seit 26 Jahren ist Sara Witwe. Nach dem Verschwinden des Sohnes lebte ihr Mann noch sieben Jahre, 1984 starb er an Krebs. Sara und Bernardo waren sich 1943 im Getto von Lodz begegnet. Sara war erst 15, hatte eine behütete Kindheit in einer Familie aus dem polnisch-jüdischen Bürgertum erlebt und musste im Getto auf einen Schlag erwachsen werden. Es starben zwei neugeborene Geschwister, die Mutter bekam Typhus und Sara verdiente den Lebensunterhalt in einer Hutwerkstatt mit. Bernardo war ein Freund ihres Vaters und zwölf Jahre älter als sie.
"Es ist eine Liebesgeschichte. Wir versprachen uns, uns nach dem Krieg wiederzusehen, wenn wir überleben würden. Er schrieb mir ein Datum in mein Notizbuch: den 5. Mai 1945. An diesem Tag sollten wir uns in Buenos Aires treffen.
Danach wurden wir getrennt und ich hörte nichts mehr von ihm. Der Zufall wollte es, dass ich am 5. Mai 1945 von den Amerikanern befreit wurde. Wie soll man dieses Datum je vergessen? Wir haben uns dann wiedergefunden und geheiratet."
Bevor Sara in Polen Bernardo wiedertraf, hatten die Ärzte der US-Armee sie im befreiten Konzentrationslager Mauthausen gesund gepflegt. Bei Kriegsende war sie 18, wog 27 Kilo und konnte sich wegen eines entzündlichen Rheumas kaum bewegen.
Sara und ihre Mutter hatten Zwangsarbeit und das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau überlebt, in das man sie aus dem Getto von Lodz gebracht hatte. Der Vater wurde in Birkenau ermordet. Auch die kränkelnde, schwache Mutter wäre bei der Selektion auf der Ankunftsrampe um ein Haar von Sara getrennt worden. Doch die Tochter nahm allen Mut zusammen und sprach den SS-Mann mit der Peitsche auf Deutsch an.
"Warum hat man meine Mutter genommen? Und er sieht mich an und fragt: Wer bist Du? Und warum sprichst Du so deutsch? - Weil in meinem Haus meine Eltern sprechen Deutsch. Und ich habe gelernt Deutsch. - Ach so! Und welche ist Deine Mutter? Geh und hol sie."
Gemeinsam mit ihrer Mutter und Ehemann Bernardo begann Sara Rus 1948 in Argentinien ein neues Leben. Nach abenteuerlicher Einreise über Paraguay ließ sich die Familie in Buenos Aires nieder, und nach wenigen Jahren wurden Daniel und Natalia geboren.
"Es war eine glückliche Zeit. Wir lebten in einem freien Land. Die Ärzte hatten gesagt, ich könnte nicht schwanger werden, aber ich bekam zwei Kinder. Mein Mann hat Tag und Nacht gearbeitet, um uns ein Haus zu bauen, und es ist ihm gelungen. Die Kinder bekamen eine gute Ausbildung, erhielten Liebe. Meine Mutter war überglückliche Großmutter. Und mein Sohn zeichnete sich schon in der Grundschule durch seine Intelligenz aus."
Als Sara erzählt, wie Daniel, der spätere Atomphysiker, in der Schule für seine Leistungen mit einem Buch belohnt wurde, fließen Tränen aus ihren Augen. Dass ihr vor 33 Jahren der Staat den Sohn raubte, ist – man spürt es in diesem Moment ganz deutlich – eine Wunde, die nie verheilen wird. Keiner konnte für Daniel das Kaddisch, das Totengebet, sprechen. Als die deutschstämmige Argentinierin Eva Eisenstaedt Sara Rus kennenlernte und von der zweiten Tragödie in ihrem Leben, nach der Schoah, erfuhr, beschloss sie, ein Buch zu schreiben. Es erschien 2007 und heißt Sobrevivir dos Veces – Zweimal Überleben.
"Ich hatte das zufällig gehört, dass ihr Sohn verschwunden war. Darüber wurde einfach nicht gesprochen","
sagt Eva Eisenstaedt, und meint damit: in den Kreisen der argentinischen Schoah-Überlebenden.
""Im Grunde glaube ich, dass sie die Schoah überlebt hat, aber dieser zweite Verlust, frage ich mich heute noch, ob das ein Überleben ist, oder ob das Weiterleben ist. Trotz allem, nicht."
Überleben oder weiterleben – Sara Rus’ Antwort lautet:
"Es gibt Mütter von Verschwundenen, die schließen sich in ihrem Schmerz ein und leben nicht mehr. Es ist, als wären sie bereits tot. Aber ich denke nicht daran, lebendig zu sterben. Ich lebe. Und solange es möglich ist, genieße ich das Leben."
"Wir gingen zu allen möglichen staatlichen Institutionen und Ministerien und trafen dort andere Mütter. Die Väter mussten ja arbeiten, und die Mütter suchten die Kinder. Weil wir keinerlei Informationen erhielten, schlossen wir uns nach kurzer Zeit zusammen. Einige Mütter begannen, mit weißen Kopftüchern auf dem Platz zu demonstrieren."
Für Sara Rus, eine der Mütter der Plaza de Mayo, beginnt die Suche nach ihrem Sohn am 15. Juli 1977. An diesem Tag wird der Physiker Daniel Rus beim Verlassen seines Arbeitsplatzes in der Nationalen Atomenergie-Kommission in Buenos Aires verschleppt. Daniel ist 26 Jahre alt, als er verschwindet. Ob ihr Sohn politisch aktiv war, wissen die Eltern nicht.
Sara Rus, Hausfrau, geht auf die Straße. Ihr Mann Bernardo schreibt Briefe: an den argentinischen Diktator Jorge Rafael Videla, an die UNO, an den deutschen Außenminister Hans-Dietrich Genscher. Die Bemühungen sind vergeblich. Von Daniel und den meisten anderen Verschwundenen, deren Zahl auf 30.000 geschätzt wird, fehlt in Argentinien bis heute jede Spur.
"Ich habe nie erfahren, was mit meinem Sohn passiert ist. Das ist ein großer Schmerz. Aber ich höre nicht auf, zu reden und zu kämpfen. Viele Leute wissen nicht, dass diese Dinge in Argentinien passiert sind. Man muss es erzählen, damit es bekannt wird."
Sara Rus ist eine attraktive 82-Jährige, klein und zierlich, die Haare blond, die Augen groß und braun. In ihrem Spanisch ist ein leichter polnischer Akzent auszumachen. Seit 26 Jahren ist Sara Witwe. Nach dem Verschwinden des Sohnes lebte ihr Mann noch sieben Jahre, 1984 starb er an Krebs. Sara und Bernardo waren sich 1943 im Getto von Lodz begegnet. Sara war erst 15, hatte eine behütete Kindheit in einer Familie aus dem polnisch-jüdischen Bürgertum erlebt und musste im Getto auf einen Schlag erwachsen werden. Es starben zwei neugeborene Geschwister, die Mutter bekam Typhus und Sara verdiente den Lebensunterhalt in einer Hutwerkstatt mit. Bernardo war ein Freund ihres Vaters und zwölf Jahre älter als sie.
"Es ist eine Liebesgeschichte. Wir versprachen uns, uns nach dem Krieg wiederzusehen, wenn wir überleben würden. Er schrieb mir ein Datum in mein Notizbuch: den 5. Mai 1945. An diesem Tag sollten wir uns in Buenos Aires treffen.
Danach wurden wir getrennt und ich hörte nichts mehr von ihm. Der Zufall wollte es, dass ich am 5. Mai 1945 von den Amerikanern befreit wurde. Wie soll man dieses Datum je vergessen? Wir haben uns dann wiedergefunden und geheiratet."
Bevor Sara in Polen Bernardo wiedertraf, hatten die Ärzte der US-Armee sie im befreiten Konzentrationslager Mauthausen gesund gepflegt. Bei Kriegsende war sie 18, wog 27 Kilo und konnte sich wegen eines entzündlichen Rheumas kaum bewegen.
Sara und ihre Mutter hatten Zwangsarbeit und das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau überlebt, in das man sie aus dem Getto von Lodz gebracht hatte. Der Vater wurde in Birkenau ermordet. Auch die kränkelnde, schwache Mutter wäre bei der Selektion auf der Ankunftsrampe um ein Haar von Sara getrennt worden. Doch die Tochter nahm allen Mut zusammen und sprach den SS-Mann mit der Peitsche auf Deutsch an.
"Warum hat man meine Mutter genommen? Und er sieht mich an und fragt: Wer bist Du? Und warum sprichst Du so deutsch? - Weil in meinem Haus meine Eltern sprechen Deutsch. Und ich habe gelernt Deutsch. - Ach so! Und welche ist Deine Mutter? Geh und hol sie."
Gemeinsam mit ihrer Mutter und Ehemann Bernardo begann Sara Rus 1948 in Argentinien ein neues Leben. Nach abenteuerlicher Einreise über Paraguay ließ sich die Familie in Buenos Aires nieder, und nach wenigen Jahren wurden Daniel und Natalia geboren.
"Es war eine glückliche Zeit. Wir lebten in einem freien Land. Die Ärzte hatten gesagt, ich könnte nicht schwanger werden, aber ich bekam zwei Kinder. Mein Mann hat Tag und Nacht gearbeitet, um uns ein Haus zu bauen, und es ist ihm gelungen. Die Kinder bekamen eine gute Ausbildung, erhielten Liebe. Meine Mutter war überglückliche Großmutter. Und mein Sohn zeichnete sich schon in der Grundschule durch seine Intelligenz aus."
Als Sara erzählt, wie Daniel, der spätere Atomphysiker, in der Schule für seine Leistungen mit einem Buch belohnt wurde, fließen Tränen aus ihren Augen. Dass ihr vor 33 Jahren der Staat den Sohn raubte, ist – man spürt es in diesem Moment ganz deutlich – eine Wunde, die nie verheilen wird. Keiner konnte für Daniel das Kaddisch, das Totengebet, sprechen. Als die deutschstämmige Argentinierin Eva Eisenstaedt Sara Rus kennenlernte und von der zweiten Tragödie in ihrem Leben, nach der Schoah, erfuhr, beschloss sie, ein Buch zu schreiben. Es erschien 2007 und heißt Sobrevivir dos Veces – Zweimal Überleben.
"Ich hatte das zufällig gehört, dass ihr Sohn verschwunden war. Darüber wurde einfach nicht gesprochen","
sagt Eva Eisenstaedt, und meint damit: in den Kreisen der argentinischen Schoah-Überlebenden.
""Im Grunde glaube ich, dass sie die Schoah überlebt hat, aber dieser zweite Verlust, frage ich mich heute noch, ob das ein Überleben ist, oder ob das Weiterleben ist. Trotz allem, nicht."
Überleben oder weiterleben – Sara Rus’ Antwort lautet:
"Es gibt Mütter von Verschwundenen, die schließen sich in ihrem Schmerz ein und leben nicht mehr. Es ist, als wären sie bereits tot. Aber ich denke nicht daran, lebendig zu sterben. Ich lebe. Und solange es möglich ist, genieße ich das Leben."