Vom Arbeitslosen bis zum Zocker

10.09.2012
Was bedeutet es, wenn wir übergewichtig, muskelbepackt oder gehandicapt sind? Das unter anderem untersuchen die Kulturwissenschaften. In diesem Band findet man außerdem Lesenswertes über Subjekte, die als Leihmutter, Radrennfahrer, Tanzpaar oder Wasserleiche auftreten.
Wir alle "haben" einen Körper, aber wir "sind" auch dieser Körper: Der Körper ist Produkt der gesellschaftlichen Verhältnisse und trägt zugleich das Potenzial in sich, diese zu verändern. In den Kulturwissenschaften wird der Körper daher auch als Austragungsort sozio-ökonomischer Machtkämpfe angesehen. Ist der Körper schwarz oder weiß, liebt er homo- oder heterosexuell, sind seine Muskeln gestählt oder birgt sein Körperfett ein Gesundheitsrisiko - das alles sind Kriterien, um Grenzen zwischen gesellschaftlich "erwünschten" und "unerwünschten" Körpern zu ziehen. Grenzen, die sich historisch immer wieder verschieben. Doch wie konstituieren sich diese Körpersubjekte, die wiederum die gesellschaftlichen Machtverhältnisse bestimmen? Kurz: Was vermag ein Körper?

Diese Frage, "What can a body do?", steht im Zentrum des Sammelbands des "Netzwerks Körper in den Kulturwissenschaften", eines seit 2007 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Zusammenschlusses von Wissenschaftlern aus unterschiedlichen Disziplinen. Das Buch geht die Frage von zwei Seiten an: Zum einen versammelt es zehn "Praktiken", also körperliche Tätigkeiten, die nach Meinung der Herausgeber eine Schlüsselrolle bei der Hervorbringung von Subjekten innerhalb westlicher Gesellschaften seit der Moderne spielen - darunter Arbeiten, Essen oder Sport treiben.

Zum anderen untersuchen 36 Texte und künstlerische Arbeiten eine ganze Bandbreite von "Figurationen", das heißt Verkörperungen von spezifischen Subjektpositionen - vom Arbeitslosen bis zum Zocker. Diese Figurationen verstehen die Autoren als gesellschaftliches "Mapping", das die "oftmals schwer zu erkennenden Linien von Ein- und Ausschluss sichtbar werden lässt." Da es dem Netzwerk gerade auch um einen Blick auf die "nicht gewollten" Körper geht, den Körpern, "die in der Ordnung nicht vorgesehen sind", untersuchen Kapitel auch illustre bis verstörende Subjektkörper wie Beauty Queen, Kokser, Leihmutter, Pheromonisten - Menschen, die Parfums mit angeblich sexuell wirkenden Lockstoffen verwenden -, Posthumane oder Wasserleichen.

Die beiden theoretischen Annäherungen an den Körper, einmal über die "Praktiken", das andere Mal über die "Figurationen", spiegelt sich in der reizvollen Gestaltung des Buchs als Wendebuch: Es kann "auf den Kopf gestellt" und von beiden Seiten gelesen werden. Entgegen seiner spielerischen Anmutung versammelt das Buch hochkomplexen Lesestoff - viele Kapitel basieren auf der Diskursanalyse des Poststrukturalisten Michel Foucault, sie jonglieren mit der Performativitätstheorie der Queer-Theoretikerin Judith Butler oder verknüpfen beides mit der Kritik an Kapitalismus und Psychoanalyse von Gilles Deleuze und Félix Guattari. Daher kann man es den Herausgebern kaum verübeln, dass sie sich im Vorwort lediglich an Studierende und Kollegen aus den Kulturwissenschaften richten.

Dennoch haben die klugen und einleuchtenden Dekonstruktionen des Körpers als Ausdruck gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse ein breiteres Publikum verdient – vor allem, da das Netzwerk das Buch als politische Intervention versteht: Denn das Wissen darüber, wie ein Subjektkörper historisch entstanden ist, birgt die Möglichkeit, auch andere Körper hervorzubringen. Ein spannendes, hochpolitisches Buch!

Rezensiert von Tabea Grzeszyk

Netzwerk Körper (Hg.): What can a body do? Praktiken und Figurationen des Körpers in den Kulturwissenschaften
Campus-Verlag, Frankfurt/Main 2012
436 Seiten, 25 Euro