Voltaire: "Stürmischer als das Meer"

Hohelied auf die Gewaltenteilung

Das Cover des Buches "Stürmischer als das Meer" vor einer Küstenlandschaft.
Stürmischer als das Meer: Voltaires "Briefe aus England" sind jetzt in neuer Übersetzung auf deutsch erschienen. © Diogenes/unsplash.com
Von Marko Martin · 02.11.2017
Als Voltaires "Briefe aus England" 1734 in Buchform in Frankreich erschienen, wurden sie sogleich verboten und auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Ein Augenöffner sind sie noch heute – und nun in einer neuen Übersetzung erschienen.
Am 2. Mai 1726 wurde Francois-Marie Arouet – besser bekannt unter dem Namen Voltaire – in einer Eskorte von der Pariser Bastille an den Atlantikhafen von Calais gebracht. Zuvor hatte er es sich wieder einmal mit dem königlichen Hof verdorben und – vor die Wahl zwischen langer Gefängnisstrafe oder Exil gestellt – für einen Aufenthalt in England votiert.
Voltaire wusste um sein Privileg des prominenten Namens und misstraute gerade aus diesem Grund einem absolutistisch-willkürlichen laisser faire, das je nach Laune auch wieder restriktivere Züge annehmen konnte.
Seine damaligen "Briefe aus England", jetzt in einer ansprechenden Diogenes-Ausgabe in der geschmeidigen Übersetzung von Rudolf von Bitter erschienen, sind deshalb ein Hohelied auf transparente Gesetze und die Praxis der Gewaltenteilung. Gerade die lockere Briefform, die sich an einen imaginären Adressaten wendet, erlaubt ein ungezwungenes, immer wieder auf lokale Alltagsgegebenheiten anspielendes Reflektieren.
Zweieinhalb Jahre verbrachte Voltaire in London, wo er u.a. Jonathan Swift und Alexander Pope kennenlernte, parlamentarische und philosophische Zirkel besuchte.

Keine Illusionen über die Dominanz der Oberschicht

Überhaupt hatte es ihm der Pragmatismus der konstitutionellen Monarchie angetan, der boomende Freihandel und die bitter erkämpfte institutionalisierte Toleranz gegenüber Glaubensgemeinschaften wie den Quäkern.
"Dennoch kommt man weder in England noch in Irland beruflich weiter, ohne zu den Anglikanern zu gehören."
Auch über die Oberschicht-Dominanz im Parlament machte er sich keine Illusionen, sah in der Domestizierung royaler Willkür den einzig gängigen Weg für eine bessere Gesellschaft. In der Wertschätzung von Kaufmannstätigkeit – im aristokratischen heimischen Frankreich noch unbekannt und auch "den auf ihre Ahnen fixierten Deutschen ein Greuel" – sah er den Grund für den immensen wirtschaftlichen Erfolg.
In der Auseinandersetzung mit den Ideen von John Locke kommt er schließlich zu einer Schlussfolgerung, die den ewigen Streit zwischen Klerikalen und Atheisten quasi mit einem Federstrich für obsolet erklärte:
"Die menschliche Vernunft ist so wenig imstande, mit eigenen Mitteln die Unsterblichkeit der Seele zu ermitteln, dass es des Glaubens bedarf, sie uns zu offenbaren."
Der ironisch veranlagte Voltaire war Realist genug, um zu ahnen, dass die Praxis institutioneller Gewaltenteilung allein kein friedliches Miteinander garantieren würde.
Als seine "Briefe aus England" 1734 in Buchform in Frankreich erschienen, wurden sie sogleich verboten und auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Doch Ironie der Geschichte: Flugs folgten Raubkopien, die ihre Produzenten wohlhabend machten, während sich Monsieur Voltaire in England genug ökonomisches know how angeeignet hatte, um schließlich auch in seiner Heimat finanziell zu reüssieren und zum wahrhaft unabhängigen Intellektuellen zu werden. Sein elegant geschriebenes Buch aber ist auch heute noch ein Augenöffner.

Voltaire: "Stürmischer als das Meer. Briefe aus England."
Aus dem Französischen übersetzt von Rudolf von Bitter
Diogenes Verlag 2017
357 Seiten, 18 Euro

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