Vollendet unvollendet

14.06.2013
Anton Bruckner und Pierre Boulez in einem Konzert: kein alltägliches Programm. Sir Simon Rattle und die Berliner Philharmoniker suchen nach Gemeinsamkeiten zwischen dem österreichischen Romantiker und dem französischen Avantgardisten.
Als Pierre Boulez 2009 die Berliner Philharmoniker dirigierte, standen Werke von Ravel und Bartók auf dem Programm – und Boulez‘ eigene "Notations". Eine typische Dramaturgie für den dirigierenden Komponisten, der sein eigenes Schaffen immer im Zusammenhang mit den Traditionslinien des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts gesehen hat.

Mit Bruckner dagegen hat sich der Dirigent Boulez schwer getan, obwohl er ein begnadeter Interpret der historisch benachbarten Musik Wagners und Mahlers ist: Bruckner kam spät in sein Repertoire und war dort eher eine Randerscheinung. Wenn Simon Rattle nun Boulez‘ "Notations" ausgerechnet vor Bruckners 7. Sinfonie dirigiert, weist er auf eine unsichtbare Verbindung beider Komponisten hin. Und in der Tat, es gibt frappierende Gemeinsamkeiten.

Da wäre zum einen die starke katholische Prägung beider Meister – bei dem tiefgläubigen Bruckner tritt sie offen zutage, bei dem tief skeptischen Boulez ist sie ein gründlich verborgener Jugendeinfluss. Beiden Werken gemeinsam ist aber der aus frühen religiösen Prägungen erwachsene, geheimnisvoll-beschwörende Gestus. Beide haben gerne für großes, Boulez sogar für sehr großes Orchester geschrieben. Und beide wurden mit ihren Werken nie "fertig". Bruckner überarbeitete seine Sinfonien so oft, bis er selbst vor Überarbeitung kaum mehr zu Neuem kam. Und Boulez hat in seiner Musik das "Offene Kunstwerk" (Umberto Eco) zum Prinzip erhoben: Ein Werk, dessen Inhalt sich immer neue Gefäße sucht.

Paradebeispiel für diese Haltung sind Boulez‘ "Notations", in denen ein gigantisch besetztes Orchester auf knappste musikalische Formen trifft. Tatsächlich beruhen diese in den späten 1970er Jahren begonnenen und Ende der 1990er Jahre noch einmal aufgenommenen Fragmente auf Klavierstücken, die der 19-jährige Boulez 1945 schrieb: Positionsbestimmungen eines "jungen Wilden", der nur wenige Jahre später bereits als ein Großmeister seiner Generation gelten sollte.



Philharmonie Berlin
Aufzeichnung vom 29.05.2013

Pierre Boulez
"Notations I-IV" für Orchester

"Notations VII" für Orchester

Anton Bruckner
Sinfonie Nr. 7 E-Dur


Berliner Philharmoniker
Leitung: Sir Simon Rattle


nach Konzertende ca. 21:57 Uhr Nachrichten