Volker Lilienthal über Betrugsfall beim "Spiegel"

Flurschaden für die deutsche Medienlandschaft

"Spiegel"-Verlagshaus in Hamburg: Der Fall Relotius hat das Zeug dazu, das Medien-Unternehmen nachhaltig zu erschüttern.
"Spiegel"-Verlagshaus in Hamburg: Der Fall Relotius hat das Zeug dazu, das Medien-Unternehmen nachhaltig zu erschüttern. © picture alliance/ dpa / imageBROKER / Carsten Leuzinger
Volker Lilienthal im Gespräch mit Axel Rahmlow · 19.12.2018
Über Jahre wurden beim "Spiegel" Reportagen des Journalisten Claas Relotius gedruckt – viele ausgezeichnet. Nun weiß man: Sie wurden zum größten Teil gefälscht. Vielleicht seien sie zu perfekt gewesen, um wahr zu sein, sagt Volker Lilienthal.
Es ist ein Skandal, der den "Spiegel" in seinen Grundfesten erschüttert: Ein renommierter Autor, der Journalist Claas Relotius, ist der Manipulation überführt worden. Über Jahre hinweg erfand er Protagonisten, Biografien, Zitate und auch Fragmente oder gleich ganze Geschichten. Relotius war sehr erfolgreich damit: In seinen Texten verwob er Realität und Fiktion zu meisterhaften Reportagen. Mehrfach war er dafür mit Journalistenpreisen ausgezeichnet worden, unter anderem im Jahr 2014 mit dem "CNN Journalist of the Year".
In einer langen Rekonstruktion vom Aufstieg und Fall des Claas Relotius' schreibt "Spiegel"-Autor Ullrich Fichtner: "Wahrheit und Lüge gehen in seinen Texten durcheinander, denn manche Geschichten sind nach seinen eigenen Angaben sauber recherchiert und Fake-frei, andere aber komplett erfunden, und wieder andere wenigstens aufgehübscht mit frisierten Zitaten und sonstiger Tatsachenfantasie." Einem Kollegen ist es zu verdanken, dass der jahrelange Betrug schließlich auffliegt. Juan Moreno, der die Geschichte "Jaegers Grenze" zusammen mit Relotius schrieb, wurde misstrauisch und begann nachzurecherchieren.
55 Texte hat Relotius im "Spiegel", bei Spiegel Online und in anderen deutschen und internationalen Medien veröffentlicht, zuerst als freier Autor, schließlich als festangestellter "Spiegel"-Redakteur. Am Wochenende wurde er mit den Vorwürfen konfrontiert, mittlerweile habe er bereits sein Büro geräumt und seine Kündigung eingereicht, schreibt Fichtner.
Beim Spiegel betreibt man nun Ursachenforschung. Wie Relotius seine Fabulierungen durch das interne Qualitätssicherungssystem schleuste, die berüchtigte "Dok", ist eine der wichtigen Fragen, die es zu klären gilt. "Claas Relotius hat alle geblendet", lautet ein Erklärungsversuch bei Fichtner.
"Ich hätte das nicht für möglich gehalten", sagt Volker Lilienthal. Der ehemalige Journalist arbeitet an der Universität Hamburg als Professor für die Praxis des Qualitätsjournalismus. "Das ist für dieses Nachrichtenmagazin ein absoluter Tiefschlag, ein größter anzunehmender Unfall und das in einer Krisenzeit, wo die Redaktion sowieso nach einer Neuorientierung in vielerlei Hinsicht sucht."

"Berufliche Selbstvernichtung"

Der Reporter Claas Relotius habe eine Art "berufliche Selbstvernichtung" betrieben, denn er habe nicht davon ausgehen können, dass das mit seinen erfundenen Geschichten auf immer und ewig gut gehen würde, sagt Lilienthal. Gleichzeitig nimmt er die "Spiegel"-Abteilung "Dokumentation" in Schutz, die für ihren akribischen Faktencheck bekannt ist:
"Herr Relotius hat vorzugsweise die Textform Reportage aus fernen Ländern gehabt, die Porträts über unbekannte Menschen, die verborgen leben, die geschützt werden müssen. Und wenn so jemand dann einen Textentwurf der Redaktion vorlegt, ist es natürlich für eine noch so gut ausgestattete und professionelle Dokumentationsabteilung sehr schwer, jedes Detail nachzuprüfen. Da ist auch notwendigerweise viel Gutgläubigkeit im Spiel."

Zu schön geschrieben, um wahr zu sein

In seiner Funktion als Juror für den Otto Brenner Preis für kritischen Journalismus hatte Lilienthal schon mehrfach Texte von Claas Relotius auf dem Tisch, die auch in die engere Wahl gekommen, aber nie ausgezeichnet worden seien.
"Ich will mich nicht hinstellen und sagen: Ich wusste es immer! Aber das waren häufig Stücke, die waren so schön geschrieben, das Elend wurde sprachlich so verfeinert, dass es schon wieder ein Gegenstand des Genusses war. Und da hatte ich immer so ein ungutes Gefühl dabei und bin innerlich ein bisschen auf Abstand geblieben. Sie waren zu perfekt, jetzt könnte man sagen: um wahr zu sein."
Relotius sei zweifelsohne ein begnadeter Schreiber, betont Lilienthal, "aber er hat extrem und tiefgreifend erfunden und damit seine Leser betrogen und nicht nur den 'Spiegel' betrogen und er hat einen Flurschaden in der deutschen Medienöffentlichkeit verursacht".
(inh / cosa)
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