Völkerverständigung

"Für mich war das nie ein politisches Projekt"

Dirigent Daniel Barenboim und sein West-Eastern Divan Orchestra beim Konzert in der Berliner Waldbühne am 25.8.2013.
Dirigent Daniel Barenboim und sein West-Eastern Divan Orchestra beim Konzert in der Berliner Waldbühne am 25.8.2013. © dpa/ picture alliance / Matthias Balk
Moderation: Stephan Karkowsky · 02.06.2014
Seit mittlerweile 15 Jahren macht Daniel Barenboim mit seinem West-Eastern Divan Orchestra vor, wie friedliche Koexistenz von Israelis und Palästinensern funktioniert. Der Dirigent betont: Für den Nahost-Konflikt gibt es keine politische Lösung, "sondern nur eine menschliche".
Stephan Karkowsky: Freuen Sie sich auf ein Interview mit Daniel Barenboim. Den durfte ich treffen in seinem Generalmusik-Direktorenbüro in der Staatsoper Berlin. Das war eine wenig glamouröse Umgebung, zumal die Staatsoper gerade umgebaut wird und deshalb im Berliner Schiller-Theater residiert. Aber sagen Sie nicht Ausweichquartier dazu, das mag der Maestro nicht hören. Mit den Arbeitsbedingungen im Schiller-Theater ist er nämlich sehr zufrieden.
Gesprochen haben wir vor allem über das West-Eastern Divan Orchestra. Das hat Barenboim vor mittlerweile 15 Jahren ins Leben gerufen, gemeinsam mit dem palästinensischstämmigen US-Intellektuellen Edward Said. Junge Musiker aus arabischen Ländern spielen gemeinsam mit israelischen Musikern europäische Klassik. Das Abschlusskonzert der Jubiläumstournee und zugleich das einzige Deutschland-Konzert, das können Sie in Berlin miterleben am 24. August im wirklich traumhaften Ambiente der Waldbühne.
Für die Musiker gibt es aber noch mehr Grund zur Vorfreude, denn 2016 soll in Berlin die Barenboim-Said-Akademie eröffnet werden für junge Stipendiaten aus allen Ländern des Nahen Ostens. Die sollen dort weit mehr lernen als nur die perfekte Beherrschung ihrer Instrumente. Zunächst aber wollte ich von Barenboim wissen: Wie haben Sie das eigentlich gemacht, die Idee dieses Orchesters all die Jahre lebendig zu halten?
Daniel Barenboim: Ja, das ist eine gute Frage. Ich war oft verzweifelt. Die politische Lage im Nahen Osten hat nicht immer den West-Eastern Divan in Kauf genommen und es gab schwierige Momente. Der Krieg im Libanon 2006, Gaza, die zweite Intifada waren Momente, wo es schon zum Verzweifeln war, weil für mich ist das und war auch nie ein politisches Projekt.
Das heißt, der einzige politische Satz, wenn Sie wollen, den wir sagen, ist: Es gibt keine militärische Lösung für den israelisch-palästinensischen Konflikt, eigentlich auch nicht eine politische, sondern nur eine menschliche. Außer diesem Satz gibt es nichts. Wir haben keinen Konsens im Orchester über die politische Situation. Wir suchen ihn auch nicht. Es reicht mir, dass jedes Mitglied des Orchesters neugierig ist über den anderen, versucht, die Logik seiner Erzählung zu verstehen, besonders wenn er damit nicht einverstanden ist.
Karkowsky: Nun ist der Friedensprozess zwischen den Regierungen die letzten 15 Jahre ja nicht wirklich vorangekommen.
Barenboim: Nein, nein, ganz im Gegenteil!
"Eine große selbstverständliche Art und Weise, miteinander zu gehen"
Karkowsky: Wie ist das denn mit Ihren Mitarbeitern, mit den Musikern? Gibt es da eine Veränderung, eine Entwicklung vielleicht hin zu einem noch selbstverständlicheren Umgang miteinander?
Barenboim: Ja, es gibt eine große selbstverständliche Art und Weise, miteinander zu gehen, weil man kennt sich doch auch lange. Wenn ein junger Musiker aus Syrien kommt zum ersten Mal, ist für ihn der Israeli ein Monster, der Kriminelle von Tel Aviv. Und umgekehrt für den Israeli der Syrer: Von Damaskus kann nur Krieg kommen und so weiter. Aber wenn man schon zum dritten, vierten, fünften, geschweige denn zum zehnten Mal kommt und man kennt den gleichen, dann natürlich steht man anders. Man weiß, dass er kein Monster ist. Vielleicht denkt er noch in einer Art und Weise, die mir persönlich nicht gefällt, sagt aber, er ist kein Monster.
Karkowsky: Der Co-Gründer des Orchesters war Ihr Freund, der verstorbene Literaturtheoretiker Edward Said. Der ist berühmt geworden ja auch durch seine kritische Entwicklung des Begriffs Orientalismus. Said lehnte nicht nur ab, den Orient als etwas Exotisches, Mystisches zu betrachten, sondern er lehnte im Grunde genommen diese Abgrenzung zwischen Okzident und Orient generell ab. Von daher spielt das Orchester immer auch in der Tradition und im Geiste Edward Saids. Gilt das auch für die Musik, für das vorwiegend westliche Repertoire?
Barenboim: Ja. Das ist nicht ein Orchester, das auch arabische Musik spielt. Privat spielen sie schon, aber als Orchester nicht.
Karkowsky: Wird sich das ändern in der Barenboim-Said-Akademie?
Barenboim: Ich weiß nicht, wie das Ganze sich entwickelt. Auf jeden Fall bis jetzt haben wir wirklich nur westliche Musik gespielt. Was heißt westliche Musik? Wir hatten letztes Jahr ein Auftragswerk von einem jordanischen Komponisten, wir haben ein Auftragswerk dieses Jahr von einem syrischen Komponisten, beide sehr begabt und auch zwei Israelis. Insofern meinte ich, wir spielen keine traditionelle arabische Musik.
Vor Beginn der Jahrespressekonferenz der Staatsoper steht Generalmusikdirektor Daniel Barenboim am Montag (02.04.2007) vor der Oper in Berlin.
Daniel Barenboim vor der Staasoper in Berlin.© Rainer Jensen / dpa
Karkowsky: Sie hören im "Radiofeuilleton" Daniel Barenboim. Wir sprechen über 15 Jahre West-Eastern Divan Orchestra und die geplante Musikakademie in Berlin. Herr Barenboim, erzählen Sie uns von der Akademie. Ich weiß, dass sie 2016 eröffnen soll, dass der berühmte Architekt Frank Gehry gratis dafür einen Konzertsaal entworfen hat, weil er ein Fan des Orchesters ist, und dass der Ort der Akademie das frühere Magazingebäude der Staatsoper unter den Linden sein wird. Haben Sie denn schon Dozenten im Kopf?
Barenboim: Ja, natürlich! Lassen Sie mich erst mal vielleicht erzählen, wie ich zu der Idee von einer Akademie gekommen bin. Wie Sie schon selber sagten: Das Orchester war 1999 gegründet. In diesem Jahr '99 hatte ungefähr 60 Prozent des Orchesters nie in einem Orchester gespielt. Und mehr als einige – ich weiß nicht, wie viel Prozent, selbstverständlich zu hoch, aber immerhin – von den Musikern hatten nie ein Orchester live gehört. Die kamen von kleinen Dörfern in Syrien oder aus Israel und so weiter.
Nur acht Jahre später war das Orchester in der Lage, unter anderem bei den Salzburger Festspielen die Orchestervariationen von Schönberg zu spielen, eines der schwierigsten Stücke, die überhaupt je geschrieben worden sind für ein Orchester. Da fragt man sich, wie ist das möglich in acht Jahren, wo man sich nur im Sommer trifft und so weiter. Ich meine, sie sind sehr begabte Leute, vielleicht auch ich bin nicht ohne Begabung, aber mit Begabung allein schafft man das nicht. Wir haben das geschafft, weil die Regierung in Andalusien, die regionale Regierung in Andalusien hat das ganze Projekt sozusagen übernommen und hat mir genug Gelder gegeben, um Stipendien zu geben.
Das Problem mit all diesen Projekten von sogenannten Jugendorchestern ist nicht, dass man nicht Topleute, Dozenten einlädt, um mit den jungen Leuten zu arbeiten. Das ist nur vorübergehend, für eine kurze Periode von zwei, drei Wochen, und dann ist es vorbei. Das ist vielleicht ganz schön für ein Programm.
Dann haben wir entschieden, drei Jahre lang ein großes Projekt mit den Beethoven-Symphonien zu spielen, damit zu reisen und dann aufzunehmen und so weiter. Zu diesem Zeitpunkt hat ein Kollege im Divan, in der Orchesterversammlung gesagt, wir sehen viel weniger Wechsel jetzt im Orchester und irgendwo ist das schade, weil die Idee war, dass neue Leute kommen. Da habe ich gesagt, ja, aber ihr seid so gut geworden, ich will nicht auf die Qualität verzichten. Da sagte er, ja, das verstehe ich, warum gründen Sie nicht ein zweites Orchester?
Da habe ich gesagt, das ist keine schlechte Idee, und dann habe ich dieses zweite Orchester gegründet für die Zeit, wo wir in Andalusien waren, und es war sehr schön und es hat eigentlich ganz schön funktioniert. Aber es war unbefriedigend, weil die waren da nur zehn, zwölf Tage. Ich hatte wenig Zeit, weil ich war mit dem anderen Orchester beschäftigt.
Dann bin ich zu dem Punkt gekommen, wir brauchen eine Akademie, wo man das ganze Jahr lernen kann, vielleicht nicht alle für den Divan, aber so kam die Idee von der Akademie. Edward Said und ich haben mit dem Divan eigentlich zwei Ziele gehabt: Das eine, dass die Musiker sich auch zu anderen Sachen öffnen. Musiker haben oft eine Tendenz, in einem Elfenbeinturm zu leben, üben ihre Geige oder so und denken an nichts anderes. Musik ermöglicht das, sozusagen parallel zum Leben zu leben.
"Das denkende Ohr"
Aber wir waren beide der Meinung und ich bin noch immer der Meinung, ein Musiker muss sich beschäftigen mit Literatur, mit Geschichte, mit Philosophie, mit der Art zu denken, um einfach zu lernen, wie man mit Tönen denkt, nicht nur einfach spielen aus dem Bauch oder aus dem Instinkt, sondern wirklich in und mit der Musik zu denken.
Das andere war natürlich unsere Idee wegen der Tatsache, es gibt keinen anderen Weg. Man kann den Kontakt zwischen Israelis und Palästinenser und deswegen zwischen Israelis und der arabischen Welt nicht vermeiden. Es geht nicht, wenn man sagt, die existieren nicht. Das waren die zwei Argumente und das werden wir in der Akademie umsetzen. Um diese zwei Themen werden wir uns kümmern.
Das heißt, die jungen Leute werden in der Akademie Musik lernen, ihr Instrument, zweites Instrument, Klavier, Theorie, Kontrapunkt und so weiter und so weiter, aber zweimal in der Woche werden sie auch geistige Bildung haben, eine Art, was ich als Arbeitstitel für diese Abteilung, wenn Sie so wollen, so bezeichne: Ich nenne das das Denkende Ohr, wie man mit dem Ohr denkt.
Das heißt, die werden wirklich philosophische Konzepte lernen, diskutieren, sprechen, und ich werde jede zwei, drei Wochen zwei Tage mit denen verbringen, in der Hoffnung, ihnen zu zeigen, wie sie das, was sie in der Philosophie gelernt haben, wie sie das in das Denken über die Musik transportieren können. Das ist die Idee der Akademie.
Daniel Barenboim und das West-Eastern Divan Orchestra im Jahr 2003
Daniel Barenboim und das West-Eastern Divan Orchestra im Jahr 2003© AP Archiv
Karkowsky: Zumal Sie ja Ihr Leben lang über Musik nachgedacht haben und so eine Art Psycho-Philosophie, wie Sie das mal genannt haben, entwickelt haben zur Musik. – Edward Said hat häufig einen mittelalterlichen Theologen zitiert, nämlich Hugo von Sankt Viktor, auch zum Heimatbegriff, zu dem Hugo gesagt hat: "Von zartem Gemüt ist, wer seine Heimat süß findet, stark dagegen jener, dem jeder Boden Heimat ist. Doch nur der ist vollkommen, dem die ganze Welt ein fremdes Land ist." – Starkes Zitat. Daran anschließend die Frage: Warum ist die Barenboim-Said-Akademie in Berlin beheimatet? Ist das ein Zufall, denn rein theoretisch könnte sie ja auch näher an der Heimat der Stipendiaten sein?
Barenboim: Nein, weil dann würden die anderen nicht kommen können. Würden wir das in Tel Aviv machen, dann würden die Araber nicht kommen. Würden wir das in Kairo machen, oder in Syrien, würden die Israelis nicht kommen können. Genau, wir sind alle im Exil!
Karkowsky: Was bedeutet denn Heimat für Sie eigentlich, für den Kosmopoliten, der beschäftigt ist zum einen in Berlin natürlich, der aber in Mailand auch beschäftigt ist, auf Tourneen sowieso in der ganzen Welt unterwegs ist? Hat das einen Wert für Sie, Heimat?
Barenboim: Ich bin zuhause, ich fühle mich zuhause in Berlin und ich werde von Berlin nicht weg, auch wenn ich aufhöre zu dirigieren oder zu spielen. Ich werde nicht von Berlin umziehen. Wenn ich weg von Berlin gehe, dann ist es zum Friedhof, und ich hoffe, dass dies noch lange nicht ist. Aber ich fühle mich sehr wohl hier und ich bin sehr glücklich hier.
Karkowsky: Wenn Sie im Sommer mit dem West-Eastern Divan Orchestra in Buenos Aires auftreten, im Teatro Colón zum jährlichen Workshop, in Ihrer Geburtsstadt, wo Sie dieses Jahr Wagner spielen werden, wie ich gelesen habe, "Tristan und Isolde", ist das dann nicht doch emotional noch stärker besetzt, wie die Argentinier sagen, un sentimento?
Barenboim: Sie wissen, die Argentinier sind sehr sentimental, und natürlich: Zweimal war ich mit dem Divan in Argentinien und es ist immer etwas ganz Besonderes. Wissen Sie, Argentinien ist ein ganz tolles Land, hauptsächlich im Sinne, dass es ist ein Land voll Immigranten: Türken, Italiener, Deutsche, Juden, was Sie wollen. Aber ein sehr großer Teil der Immigration war keine politische Immigration, sondern wirtschaftliche, und das ist ein großer Unterschied, weil der Immigrant fühlt sich anders und er ist auch anders angenommen von den Locals. Deswegen Argentinien und so bin ich aufgewachsen.
Vielleicht ohne diese Kindheit in Argentinien hätte ich das nicht machen können. Für mich ist es kein Problem, Jude und Argentinier zu sein, Italiener und Argentinier zu sein, und für keinen von uns. Und deswegen, da ich ein Argentinier bin, ich habe das Gefühl, das Publikum, alle Leute denken, sie müssen auch so wie ich mit dieser Idee von Israelis und Palästinensern leben, das ist ein ganz tolles Gefühl.
Karkowsky: Wie sehr interessiert Sie eigentlich – das möchte ich fragen auch mit Bezug auf das Waldbühnen-Konzert am 24. August -, wie sehr interessiert Sie die Motivation des Publikums? Spielt das für Sie eine Rolle, ob die Menschen kommen wegen Barenboim, ob sie kommen wegen Mozart und Ravel, oder wegen der Idee der Völkerverständigung zwischen Arabern und Israelis?
Berliner haben das Orchester adoptiert
Barenboim: Lassen Sie mich mal von hinten anfangen. Die Leute, die kommen mit dieser Idee von Völkerverständigung, sind natürlich erstaunt, wenn sie auf der Bühne die gleichen Gesichter sehen, so ähnlich wie das letzte Mal, dass irgendeine Gewalt war, und da hat man Menschen getötet. Die sehen ja alle so gleich aus. Und sie sind erstaunt, dass sie, einer mit dem anderen, miteinander spielen. Aber nach zwei Minuten ist das weg und sie hören wirklich nur die Musik. Ich glaube, das ist toll, dass Menschen diese Verehrung für das Orchester haben.
Sonst: Ich freue mich sehr, weil es ja nicht selbstverständlich ist, dass man jedes Jahr in der Waldbühne spielen kann und dass Menschen kommen. Man denkt immer, wenn man in so einem Konzert an so einem Riesenort spielt, was für ein Geschenk für die Berliner es ist. Ich empfinde das auch, aber ich empfinde auch ein Geschenk für uns, dass die Berliner kommen und dass die Berliner uns adoptiert haben und dass das Berliner Publikum kommt jedes Jahr, weil sie wissen, dass das West-Eastern Divan Orchestra auf der Waldbühne spielt, und deswegen ist es was ganz Besonderes für alle Kollegen im Orchester.
Karkowsky: Daniel Barenboim, Ihnen danke für das Gespräch.
Barenboim: Danke schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema