Visuelles Zeitalter

Leben in der Diktatur des Sichtbaren

Die Augenpartie eines Mannes wird mit einem Biometrie-Gerät erfasst.
Die Augenpartie eines Mannes wird mit einem Biometrie-Gerät erfasst. © dpa/picture-alliance/Boris Roessler
Gerhard Paul im Gespräch mit Timo Grampes  · 30.03.2016
Der Autor Gerhard Paul widmet sich in dem Buch "Das visuelle Zeitalter" der Geschichte der Visualität seit dem Beginn der Fotografie bis heute. Seine These: Was nicht als Bild auftauche, dringe nicht mehr in die Medien und unsere Köpfe vor.
"Das visuelle Zeitalter beginnt mit den großen Erfindungen der Fotografie schon in den 30er-Jahren des 19. Jahrhunderts", sagte Gerhard Paul, Professor für Geschichte an der Universität Flensburg im Deutschlandradio Kultur. Die großen Innovationen kamen dann Ende des 19. Jahrhunderts, als es möglich wurde, Fotografien zu reproduzieren, sie in die Zeitung zu bringen und als der Film erfunden wurde. "Man kann vom visuellen Zeitalter vor allem deshalb sprechen, weil die Zeitgenossen ein Gefühl gehabt haben dafür, dass sich etwas in ihrer Welt verändert hat." Zuvor habe vor allem das Buch die Menschen beschäftigt und dieses Medium, sei durch unterschiedliche Facetten des Bildes, der Fotografie und des Films ersetzt worden. Der Philosoph Walter Benjamin habe damals davon gesprochen, dass der Leibraum durch einen Bildraum ergänzt werde.

Dominierendes Auge

Zu den Charakteristika des visuellen Zeitalters gehöre, dass das Auge viele Funktionen der anderen Sinnesorgane zunehmend übernehme, sagte Paul. Wer nur noch am Bildschirm lebe, habe heute ein reduziertes Lebensgefühl.
Bei der Recherche für sein Buch habe er sich in den letzten Jahren mehr als 500.000 stehende Bilder angesehen, sagte der Buchautor. Einige hätten sich ihm sehr eingeprägt und ihn besonders beschäftigt. Dazu gehöre das berühmte Foto aus dem Vietnamkrieg 1972, das ein nacktes Mädchen zeige, das auf die Kameraleute zukomme. "Das hat mich schon sehr beschäftigt, wie ein Kind plötzlich praktisch zwischen die Fronten der Medien gerät und daraus wird dann eine andere Geschichte, ein von Napalm getroffenes Mädchen – das fand ich schon sehr spannend ", sagte Paul. Dieses Bild habe sich ihm eingebrannt.

"typographic man" und "visual man"

Paul unterscheidet in seinem Buch zwischen einem "typographic man", der noch schreiben und lesen gelernt habe, und einem "visual man", der auf den Umgang mit Bildern zu wenig vorbereitet sei. Es gehöre deshalb heute zu den Kulturtechniken, auch mit Bildmedien und Bildern bewusst umzugehen, sie kritisch zu befragen und mit ihnen produktiv umzugehen.
"Wir leben heute in einer Diktatur des Sichtbaren", sagte Paul. Das, was nicht als Bild auftauche, dringe nicht mehr in die Medien und unsere Köpfe vor.

Gerhard Paul, Das visuelle Zeitalter. Punkt und Pixel
Wallstein Verlag, 39 Euro

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