"Visual Leader 2015"

Wie Bilder die herrschenden Verhältnisse festschreiben

Das Plakat "Visual Leader 2015" hängt am 24. September 2015 am Haus der Photographie in Hamburg.
Blutig: das Plakat "Visual Leader 2015" hängt am Haus der Photographie in Hamburg. © picture alliance / dpa / Georg Wendt
Von Anette Schneider · 25.09.2015
Mit der Ausstellung "Visual Leader - Das Beste aus Zeitschriften und Internet" feiert sich die Medienbranche wie jedes Jahr selbst. Auffällig ist: die klassische Fotoreportage erlebt ein Comeback. Bei den meisten Bildern fehlt aber der Blick auf die Ursachen.
"Das Beste aus Zeitschriften und Internet" verspricht die Medienbranche ab morgen für das "Haus der Photographie" in Hamburg. Dort eröffnet dann die Ausstellung "Visual Leader 2015", die - mittlerweile zum 13. Mal - besonders eindrucksvolle, innovative und ungewöhnliche Fotos, Magazinbeiträge und Werbekampagnen versammelt, die in den letzten zwölf Monaten in deutschen Zeitschriften, Zeitungen und Online-Medien erschienen. Sie alle sind nominiert für die LeadAwards, die Mitte Oktober vergeben werden.
Fotoreportagen über den deprimierenden Alltag in Flüchtlingslagern, über die Tristesse in ostdeutschen Kleinstädten, oder das Leben in Vietnam 40 Jahre nach dem barbarischen Krieg der USA hängen dicht an dicht neben Modestrecken, Porträts, Architekturfotografien und Werbekampagnen.
Markus Peichl, Organisator der Ausstellung und Mitglied der Jury ist begeistert:
"Wir haben schon lange nicht - ich würde sogar sagen: überhaupt noch nie - einen so guten Jahrgang gehabt wie jetzt!"
Jury "vollkommen von den Socken"
Mit der Ausstellung des angeblich "Besten aus Zeitschriften und Internet" feiert sich die Medienbranche natürlich selbst. Und wenn man der 120-köpfigen Jury aus Verlegern, Publizisten, Fotografen und Designern glauben darf, geschieht dies aus guten Gründen.
"Gerade bei der Gattung Zeitung waren wir wirklich vollkommen von den Socken, wie viele tolle, interessante, teilweise auch wirklich künstlerische, experimentelle Arbeiten Zeitungen plötzlich produzieren. ... Hier erfindet sich eine Gattung wirklich noch einmal neu."
Zahlreiche in Gänze präsentierte Zeitungsausgaben belegen das. Angesichts von Internet-Konkurrenz und sinkenden Auflagen versucht so manche Tageszeitung mit Themenschwerpunkten zu locken: Die "Süddeutsche Zeitung" z.B. hat eine gesamte Ausgabe ausschließlich dem US-amerikanischen Fotografen Robert Frank gewidmet, und die Berliner Boulevard-Zeitung BZ eine Serie über den letzten Auschwitz-Prozess gegen Oskar Gröning initiiert: Nach jedem Prozesstag dokumentierte sie das Geschehen, druckte die Plädoyers, die Aussagen der Zeuginnnen und Zeugen.
"Das ist eigentlich etwas, wo man nur sagen kann: "Hut ab!", unglaublich, dass ein Boulevard-Medium so etwas macht, ihren Lesern so etwas zumutet. ... Das ist ja fast schon pädagogischer Journalismus! ... Das hat es vor fünf Jahren, das hat es vor zehn Jahren so nicht gegeben."
Künstler gestalten Tageszeitungen
Immer häufiger schmücken sich Redaktionen auch mit bekannten Künstlernamen: Die Verwandlungskünstlerin Cindy Sherman etwa hat eine Ausgabe der Tageszeitung "Die Welt" gestaltet. Rony Horn porträtierte für das ZEIT-Magazin die Schauspielerin Isabelle Hupert. Auch Thomas Struth, Daniel Richter oder Thomas Demand erhielten Projekt-Aufträge für Magazine und Zeitungen. Markus Peichl:
"Man muss den Lesern einen deutlichen Mehrwert bieten. Man muss ihnen mehr Qualität, andere Blickwinkel, kulturell Hochwertigeres bieten, damit man überhaupt noch einen Grund hat, diese Printmedien zu lesen."
Dazu gehört auch wieder die klassische Fotoreportage, die zeitweilig kaum noch eine Rolle spielte und von einigen schon für tot erklärt wurde, weil sie sehr zeitaufwändig und teuer ist.
Eine der beklemmendsten Arbeiten stammt dabei von Andrew Lubimov und zeigt am Beispiel ukrainischer Hooligans die zerstörerischen Folgen andauernder Perspektivlosigkeit: Auf großformatigen Aufnahmen sieht man junge Männer, die sich bei Fußballspielen gegenseitig halb tot prügeln. Man sieht ihre zerschlagenen Gesichter, geschwollenen Augen, blutenden Nasen, und wie sie - leer und kaputt an Körper und Seele - in einem Bus sitzen und wieder nach hause fahren.
"Der Fotograf - Lubimov - hat erst einmal vier Monate gebraucht, um sich überhaupt erst einmal den Zugang zu dieser Gruppe zu ermöglichen, und das Vertrauen dieser Hooligans zu gewinnen. Und dann ist er ein Jahr mit ihnen mitgefahren und hat dadurch eben Einblicke in Sachen bekommen, die wir normalerweise nicht sehen. Und ich glaube, das ist die höchste Aufgabe der Fotografie, das zu tun."
Was fehlt: der Blick auf die Ursachen
Doch gerade die Reportagen, die herrschende gesellschaftliche Missstände ins Blickfeld rücken, machen bewusst, was in der Ausstellung der angeblich "Besten" fehlt: Der Blick auf die Ursachen, und die Suche nach Alternativen. Nicht ein Foto zeigt Menschen, die sich gegen ihr Elend wehren. Man sieht keine Demonstrationen, keine Solidaritätsaktionen, erfährt nichts von alternativen Strukturen, wie sie z.B. in Griechenland entstanden sind. Nicht ein Bild verweist darauf, dass die dokumentierten Kriege, Krisen und Missstände von Menschen gemacht sind und sich also auch von Menschen verändern lassen.
Denn, so meint Markus Peichl:
"Es ist natürlich so, dass es zur Zeit unglaublich schwer ist, mit irgendeiner ernsthaften Kritik, mit wirklichem Hintergrund, und auch mit moralischen Anliegen durchzukommen. Aber ich bin sicher, dass wird sich wieder ändern..."
Muss es gar nicht. Denn natürlich gibt es diese Bilder längst, die - in bester, aufklärerischer Tradition von Alexander Rodschenko bis Robert Capa - täglich in kleinen, alternativen oder linken Medien erscheinen. Sie zu ignorieren ist Teil des Geschäfts derer, die das als das "Beste aus Zeitschriften und Internet" auswählen, das einmal mehr die herrschenden Verhältnisse festschreibt.
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