Visionärin im Namen Gottes

Christel Meier-Staubach im Gespräch mit Frank Meyer · 24.09.2009
Hildegard von Bingen habe sich als von Gott auserwählte Prophetin inszeniert, um sich daraus die Freiheit zur Kritik an der Kirche zu nehmen, sagt die Historikerin Christel Meier-Staubach.
Frank Meyer: Hildegard von Bingen hat vor über 800 gelebt, aber verehrt wird sie bis heute – als Seherin, als Mystikerin, als Vordenkerin für eine ganzheitliche Lebensauffassung, als Naturforscherin und als durchsetzungsstarke Frau. So porträtiert sie auch der Film "Vision", den Margarete von Trotta gedreht hat. Das ist ja eine Filmemacherin, die sich immer wieder mit starken Frauenfiguren beschäftigt, um nur ein Beispiel zu nennen, in ihrem Rosa-Luxemburg-Film. Wir haben jetzt eine ganz speziell qualifizierte Testseherin im Studio, die sich mit Hildegard von Bingen besonders gut auskennt, Christel Meier-Staubach von der Universität Münster, eine Spezialistin für die lateinische Literatur des Mittelalters. Frau Meier-Staubach, bevor wir in die Details einsteigen, erst mal zum Film insgesamt: War das ein Film, der Sie interessiert, beschäftigt, angeregt hat, dieser Hildegard-von-Bingen-Film?

Christel Meier-Staubach: Der Film hat mich schon insofern interessiert und angeregt, als ich lange über Hildegard arbeite und ganz gespannt war, was nun aus Hildegard in diesem Film auftaucht. Insgesamt war ich dann ein wenig enttäuscht, aber darüber können wir gleich noch sprechen.

Meyer: Also gemischte Aufnahme. Ich habe eine Kritik gefunden in der "Berliner Zeitung", da heißt es, Margarete von Trotta, also die Filmemacherin, behandelt Hildegard von Bingen als Politikerin in diesem Film. Das wird vielleicht in dieser Filmszene, die wir vorbereitet haben, deutlich.

((Einspielung Filmszene))

Bruder Vollmer: Ein eigenes Kloster?

Hildegard von Bingen: Die Klause aus Wohnstatt wird zu klein für uns.

Bruder Vollmer: Wer hat dir diese ketzerische Idee eingegeben?

Hildegard von Bingen: Das lebendige Licht hat mir in einer Schau die Stätte gezeigt, wo wir unsere neue Wohnstatt errichten sollen.

Bruder Vollmer: Und wo soll das sein?

Hildegard von Bingen: Wo die Nahe in den Rhein mündet, auf dem Rupertsberg.

Bruder Vollmer: Das ist Besitztum des Grafen Bernhard von Hildesheim.

Hildegard von Bingen: Wir werden in keine fremden Besitztümer einbrechen.

Bruder Vollmer: Und wie willst du dieses Besitztum erwerben?

Hildegard von Bingen: Durch die Schenkungen unserer Familien.

Bruder Vollmer: Die Schenkungen haben sie diesem Kloster gemacht!

Hildegard von Bingen: Ja, aber zum großen Teil deswegen, weil die Heilige Jutta sich hier aufhielt, und jetzt bin ich es, die von den Menschen verehrt wird.

Meyer: Ja, jetzt bin ich es, die hier verehrt wird – da zeigt sich doch ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein bei Hildegard von Bingen, die hier ein eigenes Kloster fordert. Frau Meier-Staubach: Wie nah ist das denn an der realen Hildegard von Bingen?

Meier-Staubach: Ja, diesen Ausspruch hätte sie sicher nicht getan, denn sie musste ja … sie hatte sich eine Rolle stilisiert und musste in dieser Rolle bleiben, das heißt, die Rolle einer demütigen Frau, die ihre Inspirationen von Gott erhält. Deswegen denke ich, kann sie nicht sagen, "weil ich verehrt werde, möchte ich das" und so weiter. Also, die verschiedenen Motivationen in diesem Film müssen ja immer neu ausgedacht werden, weil sie so in den Quellen eigentlich nicht stehen. Wir haben keine Begründung dafür, warum sie das neue Kloster gründen wollte. Wir können nur vermuten, dass es eigentlich daran gelegen hat, dass sie mit einer großen Zahl von Nonnen dann einfach keinen Platz mehr hatte auf dem Disibodenberg. Und da sie inzwischen auch selbstständig geworden war und eine eigene Mission fühlte, hat sie diesen Schritt gewagt.

Meyer: Also, Sie sagen, so selbstbewusst, wie wir sie gerade erlebt haben, Hildegard von Bingen, in diesem Ausschnitt, so kann die sich eigentlich gar nicht hingestellt haben. Ich habe allerdings jetzt so beim Herumlesen über diese Frau viele Zitate gefunden, die aber eigentlich doch nahelegen, dass sie sehr selbstbewusst gegenüber Autoritäten aufgetreten ist, gegenüber dem Klerus, auch dem Kaiser gegenüber. Der "Tagesspiegel" hat ein Zitat von ihr gebracht, dass Hildegard von Bingen dem Klerus zu Köln erklärt hat: "Ihr seid die Nacht, die Finsternis aushaucht, kein Halt für die Kirche", und dem Kaiser Friedrich Barbarossa soll sie so nahegelegt haben, dass er eigentlich nicht richtig regiert, und zwar wegen der "Blindheit deiner Augen, die nicht richtig sehen, wie du das Zepter zum Regieren in deiner Hand halten musst", das soll sie Barbarossa geschrieben haben. Darin steckt ja aber doch eine Menge Selbstbewusstsein.

Meier-Staubach: Ja, also das ist die Frage, was man unter Selbstbewusstsein versteht. Wenn wir das rein aus unserer Erfahrung betrachten, ist es natürlich Selbstbewusstsein, und das hat sie auch erworben im Laufe der Zeit. Zunächst mal war aber ihre Mission, eben einen Auftrag zu erfüllen, und für den musste sie eine Rolle haben. Sobald sie diese Rolle hatte, nämlich der Visionärin, der Prophetin, konnte sie auch auftreten gegenüber eben auch den Mächtigen ihres Jahrhunderts. Das heißt also, auch gegenüber dem Kaiser in seinen letzten Jahren, als er eben diese verschiedenen Papst-Doppelwahlen verursacht hat, da hat sie sich ganz stark gegen ihn gewandt, obwohl sie vorher ein gutes Verhältnis zu Barbarossa hatte. Entsprechend verstand sie sich eben als eine Prophetin in der Endzeit, die in einer kritischen Phase der Heilsgeschichte von Gott auserwählt war, um die Kirche zu kritisieren, um sie auf den richtigen Weg zu bringen. Und daraus nahm sie sich auch die Freiheit eben dieser Kritik, die man ihr auch nicht übel genommen hat, denn der Kölner Klerus hat sie darum gebeten, ihnen die Rede als Brief zu schicken, was sie auch getan hat.

Meyer: Weil Sie diese Rolle als Prophetin, als Seherin immer wieder ansprechen – wir haben hier im Deutschlandradio Kultur auch mit der Filmemacherin selbst gesprochen, mit Margarete von Trotta, und das spielt auch in ihre Theorie, wie sie sich vorstellt, wie Hildegard von Bingen sich damals behauptet und ihre Autorität durchgesetzt hat. Wir hören kurz Margarete von Trotta.

Margarete von Trotta: Damals war die Kirche natürlich von den Männern bestimmt und die Frauen hatten nicht das Recht, den Mund aufzumachen. Also wenn sie sich nicht als Seherin, als Visionärin sozusagen durchgesetzt hätte, dass sie eine Seherin sein darf und dass sie als schwache Frau auserwählt ist von Gott, diese Vision zu haben und die Menschen zu ermahnen, dann hätte man ihr das auch alles nicht gestattet. Sie hat das irgendwie doch ganz geschickt auch angestellt, würde ich sagen.

Meyer: Frau Meier-Staubach, verstehe ich das so richtig, dass das praktisch die einzige Rolle war, in der Hildegard von Bingen damals als Frau sich so eine Stellung erarbeiten konnte, im Klerus, in ihrem Kloster, indem sie sich eben als Prophetin, als Seherin, ja, selbst inszeniert?

Meier-Staubach: Ja, kirchenöffentlich und staatsöffentlich konnte sie nur in dieser Rolle agieren und es ist richtig, dass sie diese Rolle ausgedacht hat, und da, an diesem Punkt, war ich eigentlich im Film so enttäuscht, dass das eigentlich gar nicht zum Zuge kam, wie sie das gestaltet. Es gibt da eine Szene mit Vollmer, in der sie sich an Bernhard von Clairvaux wenden will in ihrer Anfangszeit, um sich Sicherheit zu verschaffen. Und da hätte man schön das ausspielen und ausdenken können, wie sie zu dieser Rolle steht, wie sie sie selbst versteht und so, natürlich als Interpretation von uns.

Meyer: Deutschlandradio Kultur, wir sprechen mit Christel Meier-Staubach über Hildegard von Bingen und den Film "Vision" von Margarete von Trotta, der sich eben mit dieser Mystikerin auseinandersetzt. Lassen Sie uns noch auf die Frau Hildegard von Bingen schauen. Man muss ja sagen, dass eigentlich die feministische Bewegung ganz wesentlich diese Frau für uns wiederentdeckt hat, schon vor einigen Jahrzehnten. Wird sie denn nun in diesem Film als eine Art frühe Feministin gezeichnet?

Meier-Staubach: Zum Glück ist Margarete von Trotta da eigentlich relativ vorsichtig, obwohl das eigentlich wohl ihr Ziel ist, denn sie hat eine Serie von Szenen zusammengestellt, die sie eben als starke Frau, als außergewöhnliche Frau in ihrem Jahrhundert darstellen und so versteht sie sich ja in diesem Film auch, die … den Status der Feministin. Wenn man natürlich in ihre Werke schaut, kann man wenig von feministischen Werten im engeren Sinn finden, denn ihre höchste Tugend zum Beispiel ist die Jungfräulichkeit. Damit würden Feministinnen, glaube ich, nichts anfangen können heute. Also, man muss dann wirklich das Jahrhundert und ihre Möglichkeiten sehen, und ein feministisches Bild hätte sie nie unterschreiben können.

Meyer: Wenn wir gerade bei diesen Wiederentdeckungen bleiben oder Neubelebungen von Hildegard von Bingen – also, es gab die feministische, es gibt die große Rolle, die Hildegard spielt in der ganzheitlichen Medizin, auch in vielen, vielen anderen Bereichen. Was sagen Sie denn als Hildegard-Spezialistin: Woran liegt das? Warum wird diese Frau so immer wieder neu belebt in unserer Zeit?

Meier-Staubach: Was sie in ihrem Werk wirklich realisiert, ist eine ganzheitliche Sicht der Welt, das heißt, sie sieht den Kosmos eben als einen gottgeschaffenen, in dem der Mensch agiert als Geschöpf Gottes, und darum sieht sie auch alles zusammen. Das ist natürlich jetzt eine Schwierigkeit, wenn man daraus ein Naturbild heutiger Esoterik macht, weil man da die Voraussetzungen eigentlich nicht richtig reflektieren kann dabei. Das heißt also, wenn man zum Beispiel mit Steinen heilen will, wenn man ihre Medizin wörtlich nimmt und heute anwendet, wenn man gar nach Hildegard kocht – sie hat nie ein Kochrezept geschrieben – und dergleichen mehr, also, da verschiebt man auch sehr stark die Gewichte und verbiegt eigentlich das, was Hildegard wirklich wollte.

Meyer: Und wie sich Margarete von Trotta Hildegard von Bingen vorgestellt hat, das können Sie sich ab heute in den Kinos anschauen, der Film "Vision" über Hildegard kommt heute in die Kinos. Und über die historische Hildegard und ihre vielen Wiederbelebungen habe ich mit Christel Meier-Staubach von der Universität Münster gesprochen. Herzlichen Dank für das Gespräch!