Virtuelles Coworking im Selbstversuch

Arbeitsdisziplin dank sozialer Kontrolle

06:31 Minuten
Ansicht von oben auf eine Frau mit Kopfhörer, Smartphone und Laptop am Schreibtisch.
Alleine arbeiten: Nicht für jeden ist Homeoffice das Ideal. © imago images
Von Jochen Dreier · 16.11.2019
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Wer zu Hause arbeitet, kennt das Phänomen: Prokrastination. Es gibt immer etwas anderes zu tun als die eigentliche Arbeit. Das Netzwerk Focusmate soll helfen, durch soziale Kontrolle: Es teilt einem einen Büro-Kollegen zu, per Webcam zugeschaltet.
Ich gebe zu, es ist eine etwas seltsame Situation. Auf meinem Computerbildschirm ist eine junge Frau zu sehen, sie lebt in Kuala Lumpur und nennt sich Deborah. Und sie sieht mich, einen mittelalten Mann aus Deutschland, wie er in seinem Büro sitzt. Wir sind von der Internetseite Focusmate zusammengebracht worden, um 50 Minuten in Stille miteinander zu arbeiten.
Was Deborah genau macht, ich weiß es nicht, irgendwas mit IT und Sicherheit. Ich lerne für einen Bootsführerschein. Das ist zwar nicht direkt meine Arbeit, aber ich schiebe es wunderbar vor mir her, für die Prüfung zu lernen.

Eine Kollegin aus Kuala Lumpur

Nachdem wir beide unsere Mikrofone auf stumm geschaltet haben, legen wir einfach los. Nichts ist anders als sonst, außer dass mich theoretisch jemand beobachten kann; ich gelegentlich selbst eine Bewegung im Augenwinkel sehe.
Die ersten Minuten bin ich abgelenkt, doch dann schaue ich nicht mehr hin, man möchte die andere Person ja nicht durch ständige Blicke stören. Wie in einem echten Büro, nur dass Deborah es gar nicht sehen würde. Denn wenn ich auf meinen Bildschirm schaue, dann schaue ich nicht in die Webcam. Trotzdem oder eben deshalb, Konzentration.

Allein konzentriert zu arbeiten, fällt vielen schwer

"Es hat alles 2011 angefangen", erzählt Taylor Jacobson. Er ist der Gründer und CEO des kleinen Start-ups Focusmate, das den Dienst anbietet. "Eigentlich war ich immer produktiv, doch dann habe ich den Job gewechselt und von zu Hause gearbeitet. Plötzlich ging gar nichts mehr. Ich habe den Job sogar gekündigt, so schlecht fühlte ich mich. Da habe ich gemerkt, wie schwer Homeoffice sein kann."

Über viele Jahre beschäftigte sich Jacobson mit wissenschaftlichen, aber auch pseudo-wissenschaftlichen Theorien über Konzentration, Prokrastination und daraus resultierende Depressionen, mit wenig Erfolg.
Was jedoch wirklich half, war ein Gespräch mit einem Freund, der ebenfalls von zu Hause arbeitete und unzufrieden war. Sie verabredeten sich für die nächsten Tage zusammen zu arbeiten, für einen bestimmten Zeitraum und in diese Zeit ganz bestimmte Aufgaben zu erledigen, aber eben nur virtuell, über einen Videochat: "Wir waren enge Freunde, also war es okay, eine so seltsame Idee zu haben. Und dann hat es uns so sehr geholfen. Natürlich war uns auch sofort klar: Da draußen müssen ganz viele Menschen sein, die so ein gemeinsames Treffen hilfreich finden würden."

"Wir sind Stammeskreaturen"

Heute ist Focusmate ein Netzwerk mit vielleicht ein paar hundert Menschen weltweit, die sich täglich oder mehrmals wöchentlich über einen Kalender für 50 Minuten Sessions verabreden. Genaue Zahlen werden auch auf Nachfrage nicht verraten. Manche von ihnen haben allerdings Hunderte, einer sogar schon über tausend Sessions absolviert. Für diese Homeworker muss das virtuelle gemeinsame arbeiten funktionieren. Focusmate wurde unlängst auch im Fachmagazin "Psychology Today" besprochen und als nützliches Tool beschrieben, sogar bei Depressionen.
Aber löst Focusmate durch Technik nur ein Problem, das erst durch die digitalisierte Welt entstanden ist? "Wir denken, wir wären sehr rationale Wesen, dabei sind wir Stammeskreaturen. Wir reagieren auf soziale Interaktion. Wir nutzen Technologie, um diese menschliche Interaktion, die Stammespsychologie zu ermöglichen. Aber ich denke, Technologie ist nicht selbst das Problem. Die Wissenschaft zeigt, dass Menschen schon immer abgelenkt waren."

Virtuell aufgebauter sozialer Druck

Focusmate ist virtuell aufgebauter sozialer Druck. Denn ich schulde dem Partner auf der anderen Seite des Bildschirms – und oft auch auf der anderen Seite der Welt – gar nichts. Doch der Trick funktioniert. Die 50 Minuten möchte ich nicht nur so getan haben, als hätte ich gearbeitet. Also arbeite ich. Es ist wie ein kapitalistisches Panoptikum. Ich schaffe mir einen Wärter namens Effizienzdruck, der mich beobachtet. Also arbeite ich, selbst wenn er gar nicht wirklich auf mich schaut.
Noch ist der Dienst gratis, also auch zugänglich für Menschen, die sich keinen teuren offline Co-Working-Space leisten können. Focusmate ist barrierefrei. Das Geschäftsmodell beschreibt aber in der Zukunft ein bezahltes Abo. In den letzten zwei Geschäftsjahren wurden allerdings tiefrote Zahlen geschrieben. Wenn genug Menschen durch den Dienst erfolgreicher sind, werden sie womöglich auch dafür zahlen. Immerhin könnte durch weniger Prokrastination auch ein Streamingdienst eingespart werden. Ob mich Deborah wiedersehen wird, halte ich allerdings für eher unwahrscheinlich.
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