Virtuelle "Blogwurst"

20.08.2008
Den ersten Internet-Roman "Neid" der Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek gibt es nicht als Buch. Er existiert nur, solange die Autorin ihre, wie sie sie selbst nennt, "Blogwurst" nicht durch die Löschtaste verschwinden lässt. Sie täuscht darin eine Handlung vor, indem sie eine Geigenlehrerin durch die vom Tourismus versehrte Kulisse der Steiermark stolpern lässt.
"Wie beträgt man sich diesem Betrug, ich meine diesem Roman gegenüber?", fragt die österreichische Autorin Elfriede Jelinek nach Abschluss ihres Romans "Neid". Denn "Neid" ist nicht als Buch erschienen, sondern Jelineks erster Internet-Roman. Auf jeden Fall sollte man den 936 Seiten umfassenden Text "überhaupt nicht ausdrucken", empfiehlt die Autorin in ihren Anmerkungen zu "Neid", damit er eine "gespensterhafte Erscheinungsform" bleibt.

Die im Jahre 2004 mit dem Nobelpreis für Literatur Ausgezeichnete verweist damit auf ein zentrales Thema ihres Oeuvres: Gespenster und Geister, jene lebenden Toten, denen entgangen ist, dass sie längst tot sind. Sie verkörpern ein wuchtiges Geschichtsgeröll, das sich wie eine Mure seit einigen Jahrzehnten unaufhaltsam auf die Autorin zu bewegt. Um sich ästhetisch erneut zur Wehr zu setzen, greift Jelinek nun erstmals zu einer Präsentationsform, die sich vor allem durch Flüchtigkeit auszeichnet. Sie nennt diesen instabilen Textkörper "Privatroman". Er ist bei Stromausfall gefährdet und existiert nur, so lange Jelinek die Löschtaste noch nicht gedrückt hat und ihre "Blogwurst" (Zitat Jelinek!) im virtuellen Nichts verschwinden lässt.

Zwischen dem 3. März 2007 und dem 24. April 2008 geschrieben, war und ist der direkte Zugriff auf "Neid" unter www.elfriedejelinek.com jederzeit jedem Leser möglich – verfügt er nur über einen entsprechenden medialen Anschluss. Beim Öffnen des Menüs erscheint Hieronymus Boschs Gemälde der "Sieben Todsünden". Auf einer hölzernen Tischplatte ist ein Todsündenkatalog zu sehen. Darauf ist der Neid als letzte Sünde dargestellt. Im Bild sieht man einen Hund, der einem anderen Hund seinen Knochen neidet. Im Bildzentrum befinden sich Zahlen. Per Mausklick auf eine von ihnen kann jede Seite nach Wunsch geöffnet werden. Der Spieleffekt ist bei einem Konvolut mit diesem Umfang von geradezu therapeutischer Wirkung.

Elfriede Jelinek hat die Position der Schreibenden im "Abseits" – die nicht erzählen kann, aber erzählen muss – radikaler denn je zum Thema gemacht. Sie täuscht eine Handlung vor, indem sie die Geigenlehrerin Brigitte K. durch die vom Tourismus versehrte Kulisse der Steiermark stolpern lässt. Durch diese Gangart bringt sie eine Vielzahl von Themen hervor: Arbeitslosigkeit, in deren Folge Landschaften und Städte aussterben, skrupellose Immobiliengeschäfte, Machtkämpfe in der Tourismusbranche. Natürlich ist auch reichlich von Österreich die Rede, ebenso vom erbärmlichen Miteinander von Frauen und Männern - dessen grelle Darstellung Elfriede Jelinek die Bezeichnung "Radikalfeministin" eingebracht hat.

Seitdem Jelineks Internet-Roman am Bildschirm konsumiert werden kann, ist viel über die Präsentationsform an sich, zu wenig jedoch über das enorme Spektrum der darin enthaltenen Themen resümiert worden. Auch lohnt es sich, über die sprachliche Qualität des Textes nachzudenken. Schließlich wurde der Autorin vor allem für die sprachliche Leidenschaft, mit der sie die "Absurdität und zwingende Macht der sozialen Klischees" enthüllt, der Nobelpreis für Literatur verliehen.

Rezensiert von Carola Wiemers

Elfriede Jelinek: " Neid", Internet-Roman,
3. März 2007 bis 24. April 2008, unter www.elfriedejelinek.com