"Vielschreiber" für das Online-Lexikon

Ein Wikipedianer aus Leidenschaft

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Logo und Schriftzug der Internet-Enzyklopädie "Wikipedia" in verschiedenen Sprachen.
Wikipedia lebt von seinen ehrenamtlichen Schreiberinnen und Schreibern. Einer von ihnen: Roland Kutzki © dpa / epa-Bildfunk / Boris Roessler
Von Felicitas Boeselager · 14.01.2021
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Die Wikipedia feiert ihren 20. Geburtstag. Das Online-Lexikon wird nicht nur von Menschen auf der ganzen Welt benutzt, sondern vor allem auch geschrieben. Einer dieser „Wikipedianer“ sitzt in Bremen. Für ihn ist das Schreiben "fast zu einer Sucht" geworden.
Roland Kutzki sitzt in seinem Bungalow in Bremen, im alten Kinderzimmer seines Sohnes und scrollt über seine Benutzerseite bei Wikipedia. Links von ihm das Kinderbett und alte TKKG-Bücher, rechts brummt der Rechner. Der 77-jährige Rentner ist ganz in schwarz gekleidet.
Früher hat er als Architekt und Städtebauer gearbeitet, jetzt ist er ein Wikipedianer. Mit seinen über 2.700 Artikeln gehört er zu den sogenannten Vielschreibern der deutschen Wikipedia. Die umfangreichsten Artikel führt er auf seiner Benutzerseite auf.
"Über Arbeitskreise, Bremer Archive, da kann man mal alle Archive zusammenfassen, Bremer Architekten, das lag natürlich nah, ich bin ja Bremer, ich bin ja Architekt, was haben wir da noch? Bremer Bahnhöfe, Liste bedeutender Bremer Bauwerke, war ganz klar."

"Fast wie eine Sucht"

Bremer Diakonie, Bremer Frauenbewegung, Literatur zur Geschichte Bremens. Die Liste der Artikel, die Kutzki in den vergangenen 14 Jahren geschrieben hat, scheint endlos. Er erzählt, wie es mit ihm und der Wikipedia angefangen hat:
"Zunächst einmal schied ich aus, aus dem Staatsdienst in Mecklenburg, hatte dort eine leitende Position. Und nun plötzlich steht man da und fällt nicht gleich ganz ins Loch – ich hatte noch dies und jenes zu tun, abzuwickeln - aber eigentlich doch in ein Loch. Statt des Zehn-Stunden-Tages hat man die ganze Freizeit für sich."
Eher zufällig las Kutzki in dieser Zeit Wikipedia-Artikel über die Sowjetunion und war überrascht.
"Oh Gott, so großartig ist das hier alles gar nicht, was ich hier zu lesen bekomm, das war ja manchmal sogar grottenschlecht, aber auf jeden Fall nicht tief genug."
Weil er sich in diesem Themengebiet aber gut auskennt, schreibt er die Artikel kurzerhand selbst.
"Und dann ist es zu einem Hobby geworden, fast zu einer Sucht."
Seitdem vergeht kaum ein Tag, an dem er nicht für die Wikipedia schreibt.
"Wenn man erst mal begonnen hat, dann will man die Themen beenden, zum Beispiel eine Liste über die Bremer Bürgermeister, dann will man die vollständig machen, dann sucht man bis 1500 und anno kruch, um alle Bürgermeister in Listen zu erfassen, und dann denkt man, manche Bürgermeister müssen auch eine Biografie haben, also man will es zu Ende machen, man will es weitermachen."

Das Schreiben wird zusehends mühseliger

Kutzki schreibt und schreibt, bis in Bremen kaum noch Themen übrig sind. Also wandert er mit seinen Artikeln weiter über Cuxhaven, nach Wismar und Parchim. Auch wenn ihm das Schreiben nicht immer leicht fällt.
"Weil ich mit meinen Augen große Schwierigkeiten habe, durch eine ADM, altersdegenerative Makula, tippe ich immer daneben. Aber richtig haarscharf. Ich müsste langsamer schreiben, aber das kann ich wiederum auch nicht. Und dann sehe ich immer, manchmal habe ich Worte schon gar nicht mehr wiedererkannt, ich denke: Was ist denn das für ein Wort geworden?"
Weil viele Buchstaben danebengingen. Kutzki ärgert sich über solche Fehler, aber sie sind nicht tragisch, denn andere Wikipedianer kontrollieren und bearbeiten seine Artikel und nehmen mögliche Tippfehler einfach raus.
"Und dann habe ich hier Bücher, Bücher, Bücher, zum Beispiel hier habe ich so eine Ecke 350 Bücher über Bremen."
Kutzki führt aus dem alten Kinderzimmer raus, durch den Bungalow, den er selbst entworfen hat. Überall stehen Bücher, die teilweise bis unter die Decke reichen.

Kutzki wirkt wie eine wandelnde Wikipedia

Viele seiner Recherchen kann er also in seinem eigenen Haus machen. Anderes findet er in Archiven, oder im Internet. Oder er sucht sich Hilfe, wie zum Beispiel bei seinem Artikel über Parchim, eine Stadt in Mecklenburg-Vorpommern.
"Da ich nicht mehr dahin komme, ich kann nicht mehr Autofahren, weil ich mit dem Auge was habe, habe ich jetzt auch mal die Parchimer gefragt: Sagt mal, die und die Straße auf dem soundso, ich kann das nicht sehen mit Google, sind das Fachwerkhäuser, oder mischt sich das? Oder wie ist das eigentlich?"
Kutzki wirkt wie eine wandelnde Wikipedia, aber bei über 2.700 Artikeln kann selbst er sich nicht mehr an alles erinnern.
"Ich habe schon mal Artikel erlebt, da dachte ich: Och, ganz nett. Gut gemacht! Wer ist denn der Verfasser? Und das kann man bei uns ja immer feststellen, wer der Urverfasser war. Oh, hm, ich selbst. Na gut, ok."
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