Vielfalt des Islam

19.03.2008
Das Sachbuch erzählt von der dramatischen Modernisierung in den letzten 50 Jahren in den islamischen Ländern in Afrika, der arabischen Welt und in Asien. Es bietet eine anspruchsvolle europäisch-islamische Kulturgeschichte, die viel zum besseren Verständnis der Entwicklungen in der islamischen Welt beitragen kann.
Das Cover zeigt schwarz verschleierte Frauen am PC. Allerdings führt dieses Cover auf eine falsche Spur, wenn man meint, in dem Buch ginge es um eine geschlechtsspezifische oder technische Revolution in der islamischen Welt. Das Thema des Buches ist vielmehr die tiefgreifende gesellschaftliche Veränderung, die durch massenhafte Alphabetisierung ermöglicht wird.

In Europa hat sie in den letzten 150 Jahren stattgefunden, in der islamischen Welt erst in den letzten 50 Jahren. Die gesellschaftlichen Veränderungen sind statistisch nachweisbar: so ist die Geburtenrate drastisch gesunken, sie liegt heute zum Beispiel in der Türkei und im Iran unter der Frankreichs. Dass die Frau in islamischen Ländern ein Kind nach dem anderen gebärt, ist eine überholte Vorstellung.

Die Autoren wollen zeigen, dass die islamische Welt durch die Alphabetisierung zur Zeit die gleiche Entwicklung durchmacht wie Europa in den letzten 150 Jahren, hin zu einer säkularisierten Gesellschaft. "Le rendez-vous des civilisations" lautet der programmatische Originaltitel: das Rendezvous der Zivilisationen. Den so oft beschworenen "Kampf der Kulturen" gebe es nicht, schreiben die Autoren; islamische und westliche Welt würden sich immer ähnlicher werden und der Terrorismus sei ein Symptom des Zerfalls alter Ideologien.

Youssef Courbage ist Professor für Demografie, war früher wissenschaftlicher Berater der UNESCO, der EU und des Europarats; sein Co-Autor ist Immanuel Todd, ebenfalls Demografie-Professor und Bestseller-Autor (u.a. von "Weltmacht USA. Ein Nachruf").

Der Titel der deutschsprachigen Ausgabe lautet: "Die unaufhaltsame Revolution – Wie die Werte der Moderne die islamische Welt verändern". Dieser Titel ist etwas irreführend. Denn die Autoren vermitteln nicht den Eindruck, als sei die gesamte islamische Welt auf dem geraden Weg eines unaufhaltsamen Modernisierungsprozesses. Vielmehr legen sie Wert auf die Feststellung, dass die islamische Welt eher die Orientierung verloren zu haben scheint, weil sie noch unter dem Schock der geistigen Revolution steht, die mit der fortschreitenden Alphabetisierung und der allgemeinen Verbreitung der Kleinfamilie einhergeht.

Die statistischen Untersuchungen entwerfen ein äußerst heterogenes Bild der islamischen Welt. So gibt es in Marokko ein sehr fortschrittliches Scheidungsrecht, im Nachbarland Algerien hingegen eine starke Diskriminierung der Frauen.

Neben dem Hauptanliegen, die Säkularisierung des Islam durch die Alphabetisierung darzustellen, versuchen Courbage und Todd die westliche Sicht des Islams als einer monolithischen Einheit kritisch zu hinterfragen. Anhand von Beispielen belegen sie, dass die islamische Welt vielfältiger ist als im Westen wahrgenommen. So verweisen sie bei der Ansicht, der Islam sei eine Männergesellschaft, auf den größten islamischen Staat der Welt, Indonesien: dort seien die Frauen dominierend, was sich zum Beispiel im Erbrecht widerspiegele oder darin, dass statistisch mehr Geld in die Ausbildung von Mädchen investiert werde.

Beim Stichwort "Kopftuch" verweisen sie auf das Kopftuchverbot, das bis vor kurzem an türkischen Universitäten galt und fragen, wie man dessen Aufhebung interpretieren solle: als islamistischen Vormarsch oder als demokratisches Recht auf persönliche Entfaltung? Mit einem überraschenden Beispiel aus Bosnien deuten sie die großen Unterschiede im Alltagsleben an: Bei den bosnischen Muslimen gehören Schweinefleisch und Schnaps zu den Grundnahrungsmitteln.

Um ihre Thesen zu belegen, arbeiten die beiden Demografie-Professoren mit zahlreichen Statistiken – und die sind oftmals verblüffend. Die Leser müssen sich allerdings auf das Studium von Tabellen und Berechnungen einlassen und Zahlen vergleichen. Manche Passagen werden sie zwei oder drei Mal lesen müssen, denn "Die unaufhaltsame Revolution – Wie die Werte der Moderne die islamische Welt verändern" ist keine leichte Lektüre. In komprimierter Form wird die Kulturgeschichte Europas der letzten 200 Jahre und die des Islam von seinen Anfängen bis zur dramatischen Modernisierung in den letzten 50 Jahren dargestellt und diese Geschichte spielt in Afrika, in der arabischen Welt und in Asien.

Herausgekommen ist eine anspruchsvolle, aber interessante vergleichende europäisch-islamische Kulturgeschichte, die viel zum besseren Verständnis der Entwicklungen in der islamischen Welt beitragen kann.

Rezensiert von Lutz Bunk

Youssef Courbage/Emmanuel Todd: "Die unaufhaltsame Revolution – Wie die Werte der Moderne die islamische Welt verändern"
Piper Verlag 2008, 218 Seiten, 16.90 €.
Übersetzt von Enrico Heinemann.