Vielfältiges Israel

01.05.2012
Eine Postbotin aus Indien, ein kleiner Beduine, eine Babuschka, Palästinenser und eingewanderte Juden aus aller Welt: Der deutsch-israelische Autor Chaim Noll zeichnet die israelische Gesellschaft in seinem Buch "Kolja. Geschichten aus Israel" so bunt und vielfältig, wie wir sie bisher nicht kannten.
Von Israels Staatsgründer David Ben-Gurion stammt der Stoßseufzer, in Israel habe man es stets mit Millionen Ministerpräsidenten zu tun. Will heißen: Niemand, der mit seiner Meinung hinter dem Berg hielte. Dass diese Einschätzung noch Jahrzehnte später trägt, bezeugt das neue Buch des Schriftstellers Chaim Noll. 1954 in Berlin geboren, verließ er 1983 mit Frau und Kindern die DDR und lebt seit 1995 in Israel, dessen Staatsbürgerschaft er längst besitzt. Noll schreibt in einem atmosphärisch dichten, fließenden Deutsch, aber Thematik und Herangehensweise sind eindeutig israelisch.

Also treten völlig zwanglos auf: ein indischstämmiges Postfräulein, eine Babuschka, die den kleinen Beduinen Sulejman unverdrossen mit dem russischen Diminutiv "Sulejmanshik" bedenkt, dazu aus England und den USA eingewanderte Juden – nicht zu vergessen jene Deutsche, die nach ihrer Landung in Tel Aviv eine Realität entdecken, von der ihr die öffentlich-rechtlichen Medien ihres Landes zuvor so gar nichts berichtet hatten:

"Anna wusste fast nichts über Juden oder Israel. Dem Wort Jude haftete etwas eher Unangenehmes an, etwas Düsteres, Mahnendes. Die Juden, die sie von den Fotos in ihren Schulbüchern kannte, waren abgemagerte Leute in gestreiften Anzügen hinter Stacheldrahtzäunen. Oder sie waren tot. Oder sie lebten in Israel, dann wurden sie in das allgemeine Mitgefühl nicht mehr eingeschlossen."

Wann wurde je der deutsche Vergangenheitskult, der die Ignoranz gegenüber dem heutigen Israel mit einschließt, prägnanter dechiffriert? Die Eltern der jungen Frau sind übrigens derart entsetzt, dass sie sogleich deren Bruder hinterher schicken – welcher sich dann in selbigem Tel Aviv bald in eine der Einheimischen verliebt und ebenfalls im Lande bleibt. Kitsch? Jeder, der Israel nicht nur vom ablehnenden Hörensagen kennt, wird mit ähnlichen Geschichten aufwarten können. Chaim Noll aber hat sie aufgeschrieben, in einem Chronik-Stil, dessen unprätentiöser Charakter Stringenz und Glaubwürdigkeit sichert. Und, ja, auch Palästinenser tauchen auf, und zwar weder als Opfer noch als Täter, sondern als Subjekte ihres Handelns.

Ein kleines Dennoch: Chaim Noll beschreibt ein vibrierendes Leben, das von den meisten auswärtigen Medien verschwiegen wird. Hieße das jedoch im Umkehrschluss, dass der liberale Zionismus und moderate Religiosität nicht unter den Attacken ultraorthodoxer Frauen-Verächter und rechtsextremer Siedlergruppen stünden? Man ahnt des Autors verständliche Scheu, auch dies zu thematisieren: Die Feinde und Pseudo-Freunde Israels sollen nicht zusätzlich Munition erhalten. Romanciers wie David Grossman und Amos Oz aber beweisen, dass man wegen solch Ressentiment-Gesteuerter noch lange nicht mit angezogener Handbremse schreiben muss. Wie heißt es in einem der anrührenden Texte von Noll? "Es gibt keine Geschichte auf der Welt, die Juden nicht verstehen." Die gleiche, uralte Ambivalenz-Weisheit gilt selbstverständlich auch für das Schreiben von Geschichten. Was schlichtweg bedeutet: Wir Leser freuen uns auf eine Fortsetzung dieser Chronik – damit dann aus einem guten Buch auch ein großes wird.

Besprochen von Marko Martin

Chaim Noll: "Kolja. Geschichten aus Israel", Verbrecher Verlag, Berlin 2012, 285 Seiten, 24,- Euro

Links bei dradio.de:

Kritik. David Grossman: "Die Umarmung", Hanser, München 2012, 36 Seiten

Chaim Noll: Kartelle haben in Israel zu steigenden Preisen geführt - Schriftsteller hofft auf strukturelle Veränderungen nach anhaltenden Protesten
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