Viele Fronten

Von Thomas Kruchem · 22.12.2010
Im Sudan verstehen Christen das Evangelium höchst politisch. Vor vier Jahren ging eine populäre katholische Radiostation auf Sendung. Die Kirche engagiert sich beim Aufbau der vom Bürgerkrieg traumatisierten und zerstörten Gesellschaft.
Bis zu einer halb versunkenen Brücke über eine Abwasser-Kloake reicht die Straße aus bröckligem Asphalt; weiter führt nur eine bucklige Schlammpiste mit metertiefen Schlaglöchern. Nur noch wenige Häuser aus wellblechgedecktem Beton, fast nur Hütten aus Lehm, Bambus und Plastikplane, bedeckt mit Gras, umgeben von stinkenden Müll, in dem bei strömendem Regen Kinder und magere Hunde wühlen. Josephine Sami hat kein Geld, woanders zu wohnen. Hier zahlt sie zehn Dollar Pacht monatlich für vielleicht 100 Quadratmeter Sandboden, auf denen sie zwei Lehmhütten errichtet hat, umgeben von einer niedrigen Mauer. Die verhärmt wirkende 46-Jährige, ihre 23-jährige Tochter und der 19-jährige Sohn tragen geflickte, aber ordentliche Kleidung. Das Leben in bitterer Armut begann für Josephine Sami im Juni 1992:

"Damals standen die Truppen der sudanesischen Volksbefreiungsarmee SPLM vor Juba. Am 6. Juni 1992 drangen sie in die Stadt ein – und noch einmal am 7. Juli. Die Zentralregierung reagierte mit Massenfestnahmen im ganzen Südsudan, besonders hier in der Stadt. Meinen Mann nahmen sie am 11. Juni fest und schafften ihn ins so genannte Weiße Haus. Nie durfte ihn jemand besuchen. Er ist bis heute verschwunden."

Alfred Yoron, Josephines Mann, war damals Radiojournalist und Leiter der "Kommission für Gerechtigkeit und Frieden" des katholischen Erzbistums. Yoron hatte in einem offenen Brief an die internationale Gemeinschaft Menschenrechtsverletzungen Khartums angeprangert; er hatte die Öffentlichkeit über das Leben Josephine Bakhitas informiert, die später als erste Sudanesin heiliggesprochen wurde. Ein Hochverräter aus der Sicht Khartums.

Die katholische St. Josephs-Kirche im Zentrum Jubas ist an diesem Sonntagmorgen völlig überfüllt. An drei Seiten des Gotteshauses stehen Hunderte Gläubige im Freien. Zur Christianisierung des Südsudan haben vor allem die Comboni-Brüder und -Schwestern beigetragen. Ordensgründer Daniele Comboni war schon 1877 Bischof von Khartum, 20 Jahre vor Beginn der britischen Kolonialherrschaft. Weil die Briten dann, nach ihrem verlustreichen Sieg gegen das Reich des Mahdi, die Muslime des Nordens nicht weiter provozieren wollten, durften christliche Missionare nur noch im Süden wirken. Sie sollten den dort wie im Reservat gehaltenen Schwarzafrikanern gerade so viel Bildung angedeihen lassen, dass sie die Bibel lesen und Steuern zahlen konnten. Später gerieten katholische Kirchenführer immer wieder ins Visier der sudanesischen Regierung, weil sie sich mit den unterdrückten Schwarzen des Südens solidarisierten und versuchten, deren katastrophale Bildungssituation zu verbessern. Bis heute liegt die Analphabeten-Rate bei weltrekordverdächtigen 85 Prozent.

110 Viertklässler der katholischen St. Josephs-Schule in Juba. Die Kinder hier haben Tische und Stühle; ihre Lehrerin schreibt aus einem zerfledderten Buch an eine Tafel – was diese Schüler zu Privilegierten macht. An staatlichen Schulen sitzen Klassen mit 200 Kindern unter einem Baum, berichtet Schulleiter Celestino Keni, der hinter meterhohen Papierstapeln auf seinem Schreibtisch kaum zu sehen ist:

"In Juba ist nach dem Friedensabkommen die Zahl der Schüler stark gestiegen. Weder die Regierung noch die Kirchen haben seitdem auch nur eine einzige neue Schule gebaut. Es gibt nur alte, heruntergekommene Schulen in dieser Stadt. Kurz, wir müssen unbedingt neue Primär- und Sekundarschulen bauen, damit wir zumindest das Problem überfüllter Klassenräume in den Griff bekommen."

Die St. Josephs-Schule mit ihren 1.200 Schülern besitzt 16 Klassenräume, durch deren Dächer es hereinregnet. Von den 28 Lehrern haben nur sechs eine Ausbildung; hinzu kommt, als Erbe der Vergangenheit, ein weiteres Problem:

"Während des Kriegs zwang die Zentralregierung alle Schulen hier, auf Arabisch zu unterrichten. Nur an katholischen Schulen war Englisch erlaubt. Inzwischen ist im Südsudan Englisch offizielle Amts- und Unterrichtssprache – was uns Lehrer vor große Herausforderungen stellt: Die meisten Schüler sprechen zuhause Arabisch; sie sind mit dem steten Wechsel zwischen zwei Sprachen völlig überfordert. Lösen können wir dies Problem nur, indem wir die Kinder in Internaten unterbringen oder sie zumindest ganztags schulisch betreuen. Tja, wir haben noch einen weiten Weg zu gehen, bis wir unseren Kindern effizient Bildung vermitteln."

Finanziert wird die Sankt Josephsschule allein vom Erzbistum und den Eltern. Wer die Schulgebühren nicht zahlen kann, muss auf eine staatliche Schule wechseln. Ähnliches gilt für die katholische Universität des Südsudan – die wohl einzige funktionierende Hochschule des Landes.

Die Leistungen der südsudanesischen Regierung im Bildungs- und auch im Gesundheitsbereich bleiben weit hinter den Erwartungen der Bürger zurück. Im Gegenteil: an den maroden staatlichen Krankenhäusern und Schulen kommt es immer wieder zu Streiks; viele Menschen äußern sich verbittert über eine neue politische Elite, die in amerikanischen Geländewagen durch Juba fährt und sich am Stadtrand Luxusvillen baut. Soziale Konflikte wachsen im noch nicht einmal bestehenden Staate Südsudan: zwischen Arm und Reich, zwischen Ethnien, zwischen Pastoralisten und Ackerbauern.

In Konflikten zu vermitteln, ihre Ursachen zu bekämpfen und so zum sozialen Frieden beizutragen, zählt zu den zentralen Anliegen der ersten katholischen Radiostation im Südsudan. "Radio Bakhita", benannt nach Josephine Bakhita, gegründet von Erzbischof Paolino Lukudu, auf Sendung seit dem 24. Dezember 2006. "Wir geben den Stimmlosen eine Stimme", sagt die Chefredakteurin, Schwester Cecilia Sierra Salcido:

"Für uns ist es das Wichtigste, den Menschen eine Möglichkeit zu geben, ihre Gefühle, Ängste und Träume auszudrücken. Deshalb nennen die Leute Radio Bakhita ihr Parlament. Hier diskutieren Sie alle wichtigen Themen; hierher kommen jeden Tag wichtige Persönlichkeiten und sagen ihre Meinung – Minister, Mitglieder verschiedenster Kommissionen, Parteifunktionäre. Wer Radio Bakhita einschaltet, hört nur zu einem kleinen Teil die Stimmen unserer jungen Moderatoren; er hört vor allem Südsudanesen aller Schichten, die ihre Mitbürger zum Nachdenken und zur Diskussion anregen."

Zur Bewältigung auch der zahllosen Traumata aus Jahrzehnten des Kriegs. Viele Menschen schämen sich bis heute für seinerzeit erlittene Vergewaltigungen oder panische Flucht:

"Schuldgefühle zerfressen die Psyche dieser Menschen: 'Ich hätte meinem Bruder damals, als sie auf uns schossen, dies oder jenes sagen, ich hätte ihn mit mir nehmen müssen. Stattdessen rannte ich fort, und er blieb zurück.' Solche Selbstvorwürfe thematisieren wir in unserem Programm 'Erzähl uns deine Geschichte.' Da brechen aus den Menschen so viele Dinge heraus – darunter, sehr häufig, die Erinnerung, wie sie um ihr Leben gerannt sind und erst, als sie in Sicherheit waren, bemerkten: 'Mein Gott, ich habe meine Mutter zurückgelassen, meinen Bruder.' Nur sehr allmählich begreifen diese Menschen, dass in Momenten der Angst und Verzweiflung wir alle nur rennen und erst später daran denken, wie wir hätten anders handeln können."

Ähnlich wichtig wie das Heilen von Erinnerungen ist für "Radio Bakhita" der Kampf für die Ärmsten, gemäß Lukas vier: "Ich kam, frohe Botschaft zu bringen den Armen und Freiheit den Gefangenen."

Und so ermuntert die Station arme Südsudanesen, in staatlichen Krankenhäusern ihr Recht einzufordern auf kostenlose Tuberkulosediagnose und -behandlung. In kleinen Theaterstücken erfährt der Hörer, was die Ursachen der Malaria sind oder wie er seine Familie vor Cholera schützt.

Der Sender ruft in Dinka, Arabisch und Englisch, in insgesamt sieben Sprachen zum Gebet – für ein friedliches Referendum, für eine friedliche Lösung sozialer Konflikte, für ein freundschaftliches Miteinander mit den Muslimen des Südsudan, das dem aktuellen Leiter der "Kommission für Gerechtigkeit und Frieden", Angelo Lokoyome, besonders am Herzen liegt. Es gebe Spannungen, sagt er, aber:

"Überall hier im Sudan gibt es Familien, in denen einige Angehörige Christen sind – und andere Muslime. Wenn nun, zum Beispiel, der Muslim fastet, bereitet ihm ganz selbstverständlich seine christliche Schwester pünktlich zum Sonnenuntergang sein Abendessen. Christliche und muslimische Feste werden gemeinsam begangen; und häufig fährt auch sonntags ein Muslim seinen christlichen Bruder oder seine Schwester zur Kirche."

Das katholische "Radio Bakhita" ist – bei Christen wie Muslimen im Südsudan – die mit Abstand beliebteste Radiostation. Eine Station, die auch Konflikte mit den Mächtigen nicht scheut:

"Etliche Mitglieder der Regierung definieren Evangelisierung als Halleluja-Gesang, Gebete zu Gott und das Murmeln des Rosenkranzes. Täten wir nur das, hätten wir keinerlei Probleme mit der Regierung. Evangelisierung definieren Erzbischof Paolino Lukudu und Radio Nakhita so, wie es uns Lukas vier nahelegt: Ich komme, eine frohe Botschaft den Armen zu bringen und Freiheit den Gefangenen. Für uns heißt das: Pressefreiheit, Freiheit von Sklaverei und Unterdrückung; Gerechtigkeit und eine ordentliche Gesundheitsversorgung auch für die Ärmsten. Darüber hinaus hinterfragt das Evangelium Jesu soziale Strukturen, die Armut hervorrufen; und es verurteilt Strukturen, die Menschen ihres Rechtes berauben, als Menschen und menschenwürdig zu leben."

Ganz offen kritisieren Priester im Radio das Wuchern von Prostitution und Bandenkriminalität in Juba; sie fragen, warum trotz guter Öleinnahmen der Regierung die Straßen der Stadt noch so schlecht sind; sie prangern staatliche Willkür und Korruption an. Der Preis für solches Engagement ist hoch. "Radio Bakhita" hat sich Teile der neuen politischen Elite zum Feind gemacht:


"Einmal drangen 20 Polizisten hier ein und schlugen eine meiner Mitarbeiterinnen – ein junges Mädchen. Sie warfen die Frau in den Schlamm der Studiobaustelle und prügelten auf sie ein. Wir alle waren starr vor Schrecken. Einige Wochen später kam, begleitet von bewaffneten Polizisten, ein Offizier hierher und forderte mich auf, mit ihm zu gehen. 'Wohin?' fragte ich. 'Frag nicht', antwortete er. 'Schließ alles ab und gib mir den Schlüssel.' Mit dem Polizeiwagen brachte er mich in ein Büro und ließ mich dort stundenlang warten, bis mich schließlich ein anderer Offizier hierher zurückbrachte. 'Ich hoffe, Du hast verstanden', sagte er. 'Kein Gerede mehr über Politik.' Dann packte er mich bei den Kleidern und schrie: 'Du hast wohl doch noch nicht verstanden. Wir kommen wieder und machen hier alles dicht.'"

Anstatt, wie im Sudan üblich, "Malesh, malesh", "Sorry, sorry" zu wimmern gegenüber den Sicherheitskräften, trug Cecilia Sierra Salcido den Konflikt aus:

"Nach diesen Vorfällen haben wir uns mehrere Male mit Vertretern der Sicherheitsorgane getroffen und über all diese Dinge gesprochen. Ich erzählte ihnen, was ich während der Übergriffe empfunden hatte, über meine Ängste; darüber, wie ich gezittert hatte, als sie meine Mitarbeiterin geschlagen hatten. Und sie, die Soldaten und Polizisten, erzählten uns über ihre Sorgen, wenn wir Medien Dinge veröffentlichen, die in der Bevölkerung eine Menge Unruhe auslösen können. 'Die Menschen hier können so etwas noch nicht verarbeiten', sagten sie. 'Wir haben noch keine echte Demokratie hier. Das müsst Ihr verstehen.' 'Manche der im Radio Interviewten', sagten die Vertreter der Sicherheitsorgane, 'können ihre Gefühle nicht kontrollieren. Aber ihr lasst sie sagen, was ihnen gerade einfällt.' – Kurz, wir hatten sehr gute Gespräche, in denen wir uns ganz offen über unsere Ängste und Sorgen austauschten."

"Beide Seiten haben etwas gelernt", sagt Schwester Cecilia – mit dem Ergebnis, dass am 22. August 2010 der Informationsminister zur Einweihung des neuen Radiogebäudes erschien und sich dafür bedankte, wie die Kirche und "Radio Bakhita" den Friedensprozess im Sudan fördert und die Menschen zu Staatsbürgern erzieht. John Andruga Duku, bis vor kurzem SPLM-Repräsentant in Europa, bewundert vor allem das langjährige Engagement des Erzbischofs für den Frieden; ein Engagement, aus dem "Radio Bakhita" ganz natürlich entstanden sei:

"Wir müssen dem Erzbischof von Juba hohe Anerkennung zollen. Paolino Lukudu Loro hat während all der Jahre des Krieges die Stadt nicht verlassen. In dieser Zeit wurden unzählige Menschen aus ihren Häusern geholt und wie Hühner abgeschlachtet. Der Bischof konnte dies nicht verhindern; aber er stand an der Seite der Unterdrückten und hatte keine Angst, Verbrechen an ihnen beim Namen zu nennen – auch dann nicht, als schon mehrere seiner Priester verhaftet worden waren. Heute kann Erzbischof Paolino aufrechten Hauptes durch die Stadt gehen, weil er stets an der Seite der Menschen gestanden ist und deshalb höchsten Respekt verdient. Ein Kämpfer nicht für die Interessen der Kirche, sondern für die der südsudanesischen Bevölkerung und der Bevölkerung von Juba."


Am Abend kocht, bei wieder einsetzendem Regen, Josephine Samis Tochter Grace "Jenjaro", ein Bohnengericht. Ihr Bruder Roger sitzt, beim Licht einer Petroleumlampe, auf seinem Bett und liest. Verlegen zeigt die Mutter die Zeugnisse Rogers: nur beste Noten; für die Universität aber fehlt das Geld. Geld, das Rogers Vater wahrscheinlich verdient hätte; jener schmale, auf einem abgegriffenen Foto kaum mehr erkennbare Mann, den sie in der Nacht zum 11. Juni 1992 aus dem Bett holten:

"Sie brachten die Verhafteten ins 'Weiße Haus' – bei den Kasernen des Militärs. Mitten in der Nacht brachten sie die Menschen dorthin und gruben ein tiefes Loch, in dem sie sie alle lebendig begruben."

Mit ihrem karg besoldeten Verwaltungsjob musste Josephine fortan sich und die Kinder allein durchbringen. Josephine Sami ist früh gealtert. Und auch jetzt, da doch Frieden herrscht, türmen sich Probleme vor ihr auf: Sie soll, als illegale Siedlerin, ihr Grundstück räumen, weil die Stadt hier eine Straße bauen will; und sie ist schwer krank. Ohne eine Magenoperation, die nur im Ausland möglich ist, wird sie nicht mehr lange leben. Die Kirche, für deren Anliegen Josephines Mann starb, kann die Operation nicht bezahlen; die Regierung des Südsudan, für deren Anliegen Alfred Yoron gleichermaßen starb, kümmert sich um Opfer des Freiheitskampfes nur, wenn sie Mitglied der Partei oder der Armee waren:

"Wir fühlen uns vernachlässigt. Wenn der Friedensvertrag von 2005 tatsächlich einen Frieden besiegelt hat, zu dem unsere Männer beigetragen haben – wo ist denn jetzt die Friedensdividende für ihre Familien? Wir haben Frieden, ja. Aber wir würden sehr gern von unserer Regierung ein Wort der Anerkennung hören: 'Ja, diese Männer starben, weil sie für unsere Sache eintraten. Wir fühlen Verantwortung für sie. Und wir werden dies oder jenes tun für die Witwen und Kinder, die sie hinterlassen haben.' Ein solches Wort der Anerkennung jedoch hat es nie gegeben."
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