Viele Arten Liebe

21.04.2010
Zum zweiten Mal hat der große israelische Romancier Meir Shalev ein Buch über das Buch der Bücher geschrieben. Und bei diesem zweiten Mal geht es um lauter erste Male der Liebe, des Lachens oder des Träumens.
Die erste Liebe! Kaum eine andere Formulierung weckt so viele schöne Gedanken. Und so ist auch das erste Kapitel überschrieben. Aber schon bald lauert die erste große Überraschung: Die erste in der Bibel genannte Liebe ist nicht die zwischen einem Mann und einer Frau, sondern die Liebe eines Vaters zu seinem Sohn – die von Abraham zu Isaak. Ausgerechnet, denn diese Liebe hielt Abraham nicht davon ab, Gott zu gehorchen, nachdem er gesagt hatte: "Nimm deinen Sohn, deinen einzigen, den du liebst, Isaak, (...) und bring ihn (...) als Brandopfer dar."

Das Gefühl der Liebe kenne jeder, schreibt Shalev, aber Abraham hatte dafür offenbar noch keinen Begriff.

"Nicht der biblische Schriftsteller und nicht Abraham erwähnen sie. Weder sagt Abraham zu Isaak, dass er ihn liebe, noch erzählt der Schriftsteller dem Leser, dass Abraham seinen Sohn liebt, sondern Gott persönlich spricht davon zu Abraham, als erläutere er es nicht nur uns, sondern auch dem ersten Liebenden selbst. ( ... ) Abraham, dieses Gefühl, das du für deinen Sohn empfindest, nennt man 'Liebe'". "

Meir Shalev betreibt zum Glück ein wenig Etikettenschwindel, nicht nur, wenn es um die erste Liebe geht. Nach der ersten Liebe wendet er sich weiteren Lieben zu. Und so macht er es auch in den übrigen Kapiteln: Die jeweils erste Nennung der Begriffe, die ihn besonders interessieren, ist nur der Ausgangspunkt für eine Kette einleuchtender Assoziationen, die ihn und damit auch seine Leser und Leserinnen zu anderen Bibelstellen zum gleichen Thema führen. Das können auch solche sein, wo der Begriff überraschenderweise nicht auftaucht.

Haben Adam und Eva einander geliebt? Davon steht nichts geschrieben. Zum ersten Mal wird die Liebe eines Mannes zu einer Frau erwähnt, als es um Isaaks Liebe zu Rebekka geht. Ohnehin: Die Liebe spielt in der Bibel eine weit geringere Rolle als die Familie, als die Nachkommenschaft. "Seid fruchtbar und vermehrt euch", ist der erste Auftrag Gottes an die Menschen. Von Liebe wird in dem Zusammenhang bekanntlich nicht gesprochen.

Meir Shalev erzählt und deutet vielschichtig und abwechslungsreich. Er schweift ab, er schlägt einen Seitenweg ein, aber immer kommt er wieder zurück zu seinem Hauptbegriff. Meir Shalev ist ein großartiger Geschichtenerzähler, dessen Romane uneingeschränkt empfehlenswert sind. Natürlich interpretiert er auch die Bibel als erfahrener Autor. So lobt er beispielsweise deren Leerstellen, die dazu anregen, die biblischen Geschichten "weiter und weiter auszuspinnen" und sie zu interpretieren.

Dazu laden insbesondere biblische Tiergeschichten ein, denn Tiere sind mal ganz real, mal symbolisch gemeint, und sie spielten zur Entstehungszeit der Bibel eine andere, eine überragende Rolle. Erstmals erwähnt werden sie in der Bibel im Plural: Die "großen Seetiere" nennt die Schöpfungsgeschichte als Gottes Werk am fünften Tag. Shalev weist darauf hin, dass Gott den Tieren eine Aufgabe zugedacht hatte, die sie dann doch nicht erfüllen konnten:

" "Gott schuf den Menschen einsam und allein und bemerkte sofort seinen Fehler. 'Es ist nicht gut, dass der Mensch allein bleibt', sagte er. 'Ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht.' Anders als oft angenommen, bezog sich der Ausdruck 'eine Hilfe, die ihm entspricht' nicht auf eine menschliche Partnerin, sondern auf eines der Landtiere oder der Vögel."

Erst als Gott sah, dass seine Idee nicht funktionierte, erschuf er Eva. Von der Schlange im Paradies kommt Meir Shalev dann zu den Tieren, die auf der Arche Noah vor der alles verschlingenden Flut gerettet wurden. Da hat es ihm der kluge Rabe besonders angetan, der sich einen Reim darauf machte, warum Gott von seiner Art, wie von allen unreinen Tieren, nur ein Paar, von reinen Tieren aber sieben Paare auf die Arche verfrachten ließ. Gott müsse die unreinen Tiere hassen, argwöhnt der Rabe. Weit gefehlt, antwortet Shalev. Die reinen Tiere wurden in größerer Zahl mitgenommen, damit Noah nach der Flut Opfertiere hatte.

"Ich hoffe, dass der Rabe, der zuvor behauptet hatte, Gott würde ihn hassen, nun die reinen Damhirsche, Tauben, Fasane, Gazellen und Widder beäugte, die auf dem Altar geschlachtet wurden, und erfasste, dass es manchmal besser ist, unrein zu sein."

Wenn Raben lachen könnten, hätte das vielleicht zum ersten Lachen in der Bibel geführt. Das aber gehört zu Abraham und Sara. Als ihnen im hohen Alter gesagt wird, sie würden ein Kind bekommen, lachen sie. Das Lachen des 99-jährigen Abraham und der 89-jährigen Sara ist nicht nur das erste, sondern auch das einzige in der Bibel. Deshalb hat Meir Shalev in diesem Kapitel Platz, um sich ausgiebig mit dem Thema Unfruchtbarkeit zu befassen, ein wichtiges und wiederkehrendes biblisches Thema. Allerdings wird es immer nur im Zusammenhang mit Frauen erwähnt. Warum? Meir Shalevs Antwort zeigt, warum sein schönes Buch mehr als einmal auch zum Lachen animiert:

"Die Bibel ist von Männern über Männer und für Männer verfasst, und es gibt Themen, die Männer nicht gern erörtern, gewiss nicht in aller Öffentlichkeit."


Besprochen von Barbara Dobrick

Meir Shalev: Aller Anfang. Die erste Liebe, das erste Lachen, der erste Traum und andere erste Male in der Bibel
Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama
Diogenes Verlag; 379 Seiten, 22,90 Euro