"Viele absurde Aspekte" im Prozess gegen türkische Journalisten

Thomas Meyer im Gespräch mit Thomas Seibert · 10.09.2012
Zahlreiche Journalisten sollen die Organisation "Union der Gemeinschaften Kurdistans" unterstützt haben und stehen deshalb in der Türkei vor Gericht. Der Verdacht liege nahe, die kurdische Elite mundtot machen zu wollen, sagt Thomas Seibert, "Tagesspiegel"-Korrespondent in Istanbul.
Frank Meyer: Dutzende Journalisten stehen ab heute in der Türkei vor Gericht, und dieses umstrittene Verfahren, das bestätigt den Ruf der Türkei als Weltmeister der Pressefeindlichkeit. In dem Land sind mehr Journalisten inhaftiert als im Iran oder in China. Aber der Journalistenprozess ist nur ein Teil des Problems.

Seit dem vergangenen Jahr gab es immer wieder Verhaftungswellen, kurdische Rechtsanwälte, lokale Politiker, Intellektuelle wurden festgenommen, wenn sie im Verdacht standen, den türkischen Staat schwächen zu wollen.

Ein Massenprozess gegen kritische Journalisten hat heute in der Türkei begonnen und diesen Prozess beobachtet Thomas Seibert für den Berliner "Tagesspiegel". Herr Seibert, guten Tag nach Istanbul!

Thomas Seibert: Hallo!

Meyer: Herr Seibert, wie hat der Prozess denn heute begonnen? Gab es Proteste, gab es Überraschungen beim Prozessauftakt?

Seibert: Es gab eine große Demonstration vor dem Gerichtsgebäude ...

Meyer: ... oh, da ist die Leitung ...

Seibert: ... sehr viele Parlamentsabgeordnete vor dem Gericht aufgetaucht, um ihre Unterstützung für die Angeklagten publik zu machen. Und da wurden auch doch relativ harte Kommentare gegen die Regierung losgelassen. Einer der Parlamentsabgeordneten verglich das Vorgehen der türkischen Behörden mit dem Vorgehen der Nazis.

Meyer: Wir hatten eben einen kleinen Aussetzer in der Leitung, das bitten wir zu entschuldigen und hoffen, dass die Leitung jetzt weiter bestehen bleibt! Herr Seibert, verstehe ich das richtig, ist der Kern der Vorwürfe gegen all diese Journalisten, dass sie die kurdische Autonomiebewegung unterstützen würden?

Seibert: Im Grunde genommen ja. Es geht der Anklage um eine Organisation, die nennt sich die Union der Gemeinschaften Kurdistans, nach der kurdischen Abkürzung KCK. Und diese Organisation steht der Rebellenorganisation, also den Leuten, die tatsächlich mit der Waffe in der Hand gegen Ankara kämpfen, der PKK, sehr nahe.

Der Vorsitzende dieser KCK ist ein führender PKK-Kommandant, und die Anklage sagt, diese KCK sei der zivile Arm der PKK, der Propagandaarm und die zivile Organisation, die für die Kurdenrebellen in der Türkei Stimmung machen solle.

Und von diesem Ansatz ausgehend hat die Staatsanwaltschaft in den letzten Jahren mindestens an die 1000 Haftbefehle erwirkt. Kurdische Aktivisten sprechen sogar von 8000 Haftbefehlen.

Und diese Haftbefehle trafen nicht nur die Kollegen hier in Istanbul, diese 35 türkischen Journalisten, die seit neun Monaten in U-Haft sitzen, sondern auch Anwälte, Gewerkschafter und viele, viele Lokalpolitiker im kurdischen Südosten.

Meyer: Aber wir haben ja eben aus unserem Beitrag schon gehört, dass zum Teil die Anklagen wirklich absurd sind, dass Journalisten dafür angeklagt werden, dass sie Interview-Passagen benutzt haben und dass daraus dann Anklagen zusammenkonstruiert werden. Also, hat dieser Großprozess insgesamt diese absurden Züge?

Seibert: Es gibt sehr viele absurde Aspekte dieses Prozesses. Eine Journalistin sitzt in Haft, weil sie berichtet hat über Vorwürfe sexueller Belästigung bei der türkischen Luftfahrtgesellschaft, Turkish Airlines. Und die Staatsanwaltschaft sagt, dieser Bericht habe nicht der Information der Bevölkerung dienen sollen, sondern dazu, den türkischen Staat herunterzumachen.

Und wenn man so argumentiert, dann kann natürlich fast jeder einigermaßen kritische Bericht in der Presse zu einem Terrorinstrument umgedeutet werden. Es ist also relativ deutlich, dass die Anklage und auch die Richter, die aufgrund der Vorwürfe der Staatsanwaltschaft hier Haftbefehle erlassen, doch ein relativ merkwürdiges Verständnis von Pressefreiheit haben.

Meyer: Dann sind das, so wie Sie das jetzt schildern, dann sind das Gesinnungsprozesse, die da geführt werden, gegen kritische Journalisten!

Seibert: Genau. Nur ist das nicht unbedingt eine Kampagne der Regierung. Obwohl sich die Regierung voll hinter die Justiz gestellt hat, also, Ministerpräsident Erdogan hat mehrmals öffentlich erklärt, dass er diese KCK-Ermittlungen unterstützt. Es ist vielmehr eine Gesinnungsjustiz, die aus dem Gedanken heraus kommt, der leider in der Türkei immer noch, trotz aller Reformen, sehr verbreitet ist, nämlich der Gedanke, dass der Staat vor dem Bürger geschützt werden muss, dass also diese Austarierung, die auch deutsche Gerichte immer wieder vornehmen müssen zwischen der individuellen Freiheit und den Ansprüchen des Staates, in der Türkei doch immer wieder am Ende für den Staat entschieden werden.

Und deswegen kommen auch diese absurden Vorwürfe tatsächlich bis zu einer Gerichtsverhandlung durch, weil viele Richter hier in der Türkei und erst recht viele Staatsanwälte davon ausgehen, dass, wenn jemand irgendwie kritisch sich äußert oder einen kritischen Artikel verfasst, möglicherweise in einer der einschlägigen Zeitungen der prokurdischen oder der linken Zeitungen hier, dann steckt dahinter ein Angriff auf den Staat, der geahndet werden muss.

Das ist der eigentlich springende Punkt, und deshalb verlangt auch die Europäische Union von der Türkei eine Änderung ihrer Antiterrorgesetze. Denn es ist dieses Vehikel der Antiterrorgesetze, die diese Prozesse überhaupt erst möglich macht.

Meyer: Warum sind diese Antiterrorgesetze überhaupt erlassen worden? Wie lange sind die schon in Kraft?

Seibert: Die sind in Kraft seit einigen Jahren. Die haben Gesetze abgelöst, Antiterrorgesetze, die noch viel schlimmer waren. Wenn ...

Meyer: ... leider wieder eine Unterbrechung unserer Leitung, Pardon ...

Seibert: ... Reformen hinter sich ...

Meyer: ... wir hatten gerade eine Leitungsunterbrechung, das musste ich noch mal kurz sagen, Herr Seibert, aber jetzt hören wir Sie hoffentlich wieder!

Seibert: Okay! Die Türkei hat ja eine Phase von Reformen hinter sich, insbesondere in der ersten Hälfte des letzten Jahrzehnts, da hat Ankara mächtig Gas gegeben mit vielen Reformen zugunsten ihrer EU-Kandidatur. Damals wurden die Grundrechte gestärkt, also Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit und so weiter.

Allerdings wurde das dann wieder eingefangen durch Reformen der Antiterrorgesetze, die diese Reformgesetze der ersten Phase in der Regierung Erdogan wieder ausgehebelt haben. Das heißt also, auf dem Papier existiert in der Türkei Pressefreiheit und Meinungsfreiheit und Versammlungsfreiheit und so weiter, nur, wenn ein Staatsanwalt zu dem Schluss gelangt, dass hier Bürgerrechte, Grundrechte genutzt werden zur Unterstützung einer Terrororganisation, dann ist dann bald Schluss.

Dann werden diese Terrorgesetze herangezogen, um diese Grundrechte auszuhebeln. Und genau das ist der Hauptkritikpunkt der EU, die seit Langem von der Türkei Nachbesserungen verlangt. Aber wie gesagt, die Regierung steht voll hinter diesen KCK-Prozessen, deshalb tut sich da nichts.

Meyer: Und wir haben ja vorhin schon gehört in unserem Beitrag, dass sich diese Prozesse jetzt und die Verhaftung dafür nicht nur gegen Journalisten richten, sondern auch gegen kurdische Lokalpolitiker, gegen Anwälte, Akademiker, Intellektuelle. Das sieht aus wie ein Versuch, da eine kurdische Elite einzuschüchtern, mundtot zu machen. Muss man das so bewerten?

Seibert: Der Verdacht liegt zumindest nahe. Ob ja jetzt jeder Staatsanwalt und jedes Gericht tatsächlich da Teil eines großen Planes ist, das steht wieder auf einem anderen Blatt. Es ist allerdings so, dass sehr viele Beobachter aus der kurdischen Szene hier weisen darauf hin, dass im kommenden Jahr Kommunalwahlen bevorstehen in der Türkei.

Und da ist es zumindest für die legale Kurdenpartei hier, die BDP, sehr ungünstig, wenn mehrere Tausend von ihren Ortsbürgermeistern in U-Haft sitzen, das erschwert den Wahlkampf natürlich beträchtlich und das nützt der Erdogan-Partei AKP, die gerne im Kurdengebiet die führende Kraft werden würde, um die BDP da wegzudrängen aus den Rathäusern.

Da besteht der Verdacht, dass diese Ermittlungen der Regierung zumindest gut in den Zeitplan passen. Wenn die Regierung diese Ermittlungen möglicherweise auch nicht selbst angestoßen hat, sie tut jedenfalls nichts, um diese Ermittlungen wieder zu beenden.

Meyer: 44 Journalisten sind ab heute angeklagt in der Türkei und Tausende kurdische Lokalpolitiker, Akademiker, Juristen wurden verhaftet. Thomas Seibert berichtet für den "Tagesspiegel" aus der Türkei. Ich danke Ihnen sehr für das Gespräch, Herr Seibert!

Seibert: Auf Wiederhören!


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