"Viel Wut" bei Utöya-Hinterbliebenen

Erika Fatland im Gespräch mit Dieter Kassel · 19.03.2013
Sie wollte kein Buch über Anders Breivik schreiben, erläutert die norwegische Autorin Erika Fatland. In die "Die Tage danach - Erzählungen aus Utöya" seien die Überlebenden seines Attentats und die Hinterbliebenen der Opfer die Hauptpersonen, sagte die Sozialanthropologin.
Dieter Kassel: Als am 22. Juli 2011 im Osloer Regierungsviertel eine Bombe explodierte und als danach Anders Breivik auf der Insel Utöya fast 80 Menschen tötete, da war die Sozialanthropologin Erika Fatland gerade im Urlaub in Portugal. Vor allem aber hatte sie sich sechs Jahre lang mit dem Terroranschlag auf eine Schule in Beslan beschäftigt und wollte danach eigentlich kein weiteres Buch über Terrorismus und Gewalt schreiben.

Aber sie hat es getan, hat ein Buch geschrieben über diesen 22. Juli 2011 in Norwegen, aber vor allen Dingen über die Opfer, und wie sie danach mit diesem Tag umgegangen sind. "Die Tage danach" heißt dieses Buch in der deutschen Ausgabe, und jetzt ist Erika Fatland bei mir im Studio. Schönen guten Tag!

Erika Fatland: Guten Tag!

Kassel: Ich habe es ja schon gesagt, Sie hatten sich kurz davor sechs Jahre lang mit diesem Anschlag von Beslan beschäftigt, bei dem weit über 300 Menschen zu Tode gekommen sind. Nach dieser intensiven Beschäftigung mit diesem Terroranschlag, hätten Sie sich irgendwie vorstellen können, dass etwas entfernt Ähnliches auch in Norwegen passieren könnte?

Fatland: Nein, das habe ich mir nie vorstellen können. Ich habe ein Kinderbuch geschrieben, und ich war mehrmals in Schulklassen, und ich habe über mein Kinderbuch gesprochen. Und dann habe ich ja auch ein bisschen vielleicht über Beslan erzählt, und dann haben die Kinder gefragt: Könnte so etwas in Norwegen passieren? Und dann habe ich immer Nein gesagt, weil im Kaukasus ist es ja unruhig, es ist anders, es ist auch weit weg von Norwegen. Norwegen ist ein undramatisches Land, könnte man sagen – also nein, hatte ich mir nicht vorstellen können.

Kassel: Ich glaube, dass inzwischen auf der ganzen Welt alle Menschen, die ein bisschen Nachrichten gucken und lesen, den Namen Anders Breivik kennen, aber niemand kennt, glaube ich, irgendeinen Namen der 77 Opfer von Utöya. Und das ist ja etwas, was sich ändert, wenn man dieses Buch gelesen hat, dann kennt man einzelne Schicksale. War das auch Ihr Ziel, hatten Sie auch das Gefühl, das darf nicht sein, dass jetzt plötzlich alle über diesen Breivik reden und niemand redet über die Opfer?

Fatland: Ja, ich wollte nicht ein Buch über Breivik schreiben. Ich habe ja ein bisschen über Breivik geschrieben. Es wäre ja nicht natürlich, ein Buch über den 22. Juli zu schreiben und nicht Breivik zu nennen. Aber für mich waren die Überlebenden und die Hinterlassenen immer die Hauptpersonen.

Kassel: Sie haben mit ganz Vielen gesprochen – haben eigentlich alle, die Sie gefragt haben, alle, mit denen Sie reden wollten, auch mit Ihnen sprechen wollen? Haben die alle ja gesagt?

Fatland: Fast alle haben ja gesagt, das hat mich erstaunt. Ich hatte geglaubt, dass mehrere Nein sagen wollten. Aber vielleicht, weil ich früher dieses Buch über Beslan geschrieben hatte, haben sie verstanden, dass es für mich nicht eine neue Idee war, über Terror zu schreiben. Und ein Buch ist ja auch etwas anders. Es ist nicht ein Artikel in einer Zeitung, die nur einen Tag lebt, ein Buch ist etwas nicht Ewiges, aber es hat ein längeres Leben.

Kassel: Da sind ganz unterschiedliche Geschichten, die Sie da wiedergeben. Ich finde, man kann nicht sagen, es gibt so eine Linie, so geht es den Leuten jetzt. Aber ich hatte das Gefühl, es gibt noch zwei große Gruppen. Es gibt die, die mehr oder weniger erfolgreich versuchen, weiterzumachen mit ihrem Leben und sagen, ich will auch nicht, dass dieses schreckliche Geschehen mein Leben bestimmt, und es gibt die, die das nicht schaffen. Es gibt natürlich diese beiden Gruppen, oder?

Fatland: Ja, es ist schwierig zu generalisieren. Das kann man nicht, jeder Mensch, jedes Opfer ist ja unterschiedlich, aber ich weiß, dass es diese Gruppen gibt, kann man sagen, um es einfach zu machen. Sehr viele von den Jugendlichen leben jetzt ganz gut weiter, sie studieren – aber es gibt auch viele Jugendliche, die das nicht schaffen, weil sie so viele psychologische Probleme haben. Sie können sich nicht konzentrieren, sie können nicht gut schlafen in der Nacht. Und das hat auch viele von diesen Jugendlichen, das weiß ich, gestört, weil sie wollen alle jetzt weiter und normal weiterleben. Aber einige schaffen das nicht, und vielleicht brauchen sie einfach noch ein bisschen mehr Zeit. Ich bin Optimist, ich glaube, dass die alle weiterleben, es schaffen werden.

Kassel: Es hieß ja damals in Norwegen, dass jedem geholfen werden soll – also jeder, der das will natürlich nur, soll psychologische Hilfe bekommen. Es ist ja auch, das muss man zugeben, genug Geld da in Norwegen. Ist das wirklich passiert, wird denen geholfen, oder sind die zum Teil doch auch alleine jetzt mit ihren Problemen?

Fatland: Es gibt Geld in Norwegen, das ist kein Problem, aber es gibt vielleicht nicht genug professionelle Leute. Viele von den Jugendlichen kamen aus Oslo, dort gibt es viele Psychologen, aber viele kommen auch von kleinen Dörfern, ganz isoliert. Dort gibt es vielleicht nicht Psychologen oder gute Psychologen, und deswegen haben nicht alle genug Hilfe bekommen. Und die Eltern, die Hinterlassenen, viele von ihnen haben gar keine Hilfe bekommen.

Kassel: Jetzt haben Sie gesagt, viele auf der Insel Utöya kamen aus Oslo, aber ja bei Weitem nicht alle. Sie sind selber ja auch durch ganz Norwegen gefahren, um diese Gespräche zu führen, von Nord nach Süd. Und es wird ja so viel darüber geredet, ob nun dieser 22. Juli das ganze Land verändert hat, allein schon dadurch, dass die Opfer und ihre Angehörigen so verteilt sind, auch geografisch. Ist das etwas, wo Sie sagen würden, ja, das hat ganz Norwegen verändert?

Fatland: Es hat ganz Norwegen berührt, weil die Opfer aus ganz Norwegen kommen. Aber hat es Norwegen verändert? Das ist schwierig zu sagen. Es hat natürlich die Opfer verändert und die Familien verändert, aber ein Land zu verändern – ich glaube persönlich, dass man mehr als eine Einzeltatbraucht, um ein ganzes Land zu verändern. Und heutzutage ist Norwegen nicht so anders als Norwegen vor zwei Jahren. Und das kann auch schwierig für die Opfer sein. Weil jetzt leben fast alle ruhig weiter, die Leute reden nicht mehr so viel über den 22. Juli. Die meisten sind jetzt ganz müde von Breivik, vom 22. Juli. Man möchte sich nicht damit beschäftigen, man braucht eine Pause, aber für die Opfer ist das ja schwierig, nur weiterzuleben und nicht über den 22. Juli zu reden?

Kassel: Haben eigentlich manche Opfer oder auch Angehörige von Toten auch Vorwürfe erhoben? Wir wissen ja, dass die Polizei nicht gerade gut vorbereitet war auf einen solchen Anschlag, sie hatten Mühe, überhaupt auf die Insel zu kommen, das Schiff wäre fast untergegangen. Wie gehen denn Überlebende und auch Angehörige damit um?

Fatland: Für die Überlebenden gibt es nicht so viele Vorwürfe, weil die Geschichten von den Überlebenden sind alle glückliche Geschichten, also sie haben alle überlebt. Und viele von ihnen haben Hilfe von der Polizei bekommen. Aber für die Hinterlassenen ist es ja eine ganz andere Geschichte. Es ist eine Geschichte mit einem tragischen Ende, und viele von den Eltern sind heute ganz böse, sie machen Vorwürfe und finden es schwierig, dass es gar keine Konsequenzen gehabt hat, diese ganze Sache. Niemand hat seine Arbeit verloren, alles geht nur weiter. Stoltenberg ist immer noch Ministerpräsident, niemand in der Polizei hat seine Arbeit verloren – es gibt nicht nur Liebe und schöne Wörter, es gibt ja auch viel Wut.

Kassel: Viel Wut, ja?

Fatland:Ja, es gibt da auch Wut.

Kassel: Ich hatte beim Lesen des Buches so das Gefühl, dass Sie auch selber nicht mit allen Reaktionen oder gerade ausgebliebenen Reaktionen einverstanden sind. Norwegen ist ja sehr stolz darauf, auch nach dem 22. Juli ein sehr liberales, offenes Land geblieben zu sein. Stoltenberg hat das ja sofort gesagt bei seiner ersten offiziellen Ansprache: Wir werden uns nicht verändern aufgrund dieses Anschlages. Ich selber frage mich aber auch, ist das in jeder Form richtig? Reden wir mal gar nicht über Utöya, reden wir auch über die Bombe: So, wie ich es verstehe, ist es ja auch weiterhin so, dass Regierungsvertreter in Norwegen viel weniger geschützt werden als in anderen Ländern. Man will weiter so offen sein. Aber ist das nicht auch ein bisschen Verdrängung, müsste man nicht doch sagen, wenn das einmal passiert ist, dann kann es natürlich im Prinzip noch mal passieren?

Fatland: Ja, so, wie ich es gesagt habe, glaube ich, dass man braucht mehr als eine Einzeltat, um ein ganzes Land zu verändern. Das hat man ja auch in Norwegen gesehen, es hat sich nicht viel geändert nach dem 22. Juli, und die Sicherheit auch nicht. Man hat Pläne, um bessere Sicherheit zu haben, aber es ändert sich immer noch sehr langsam. Und dann kann man sagen, ja, das ist – einerseits ist das gut, es ist auch eine schöne Reaktion, dass man nicht alles ändert nach dieser Tat, aber man kann ja auch sagen, dass es ein bisschen naiv ist, weil es kann ja auch nochmals passieren.

Kassel: Sie haben ja schon gesagt, Sie wollten kein Buch über Anders Breivik schreiben, und das haben Sie auch nicht gemacht, aber natürlich kam der Mann, nicht in allen direkt, aber in vielen Ihrer Gespräche vor. Wie wichtig ist es eigentlich für Opfer und Angehörige, dass es das Gerichtsverfahren gegeben hat, und dass das so war, wie es war, und dass er jetzt verurteilt worden ist? Ist das eine Art Trost, oder ist das eigentlich egal?

Fatland: Die meisten von ihnen waren zufrieden mit dem Urteil. Sie wollten, dass er gestraft würde, und man hatte ja während des Prozesses viele Diskussionen über Psychologie – ist er straffähig oder nicht? Und die meisten meinten ja, dass der straffähig war, und deswegen sind sie jetzt zufrieden.

Kassel: "Die Tage danach – Erzählungen aus Utöya" heißt das Buch von Erika Fatland. Die deutsche Ausgabe ist im btb Verlag erschienen. Danke für den Besuch!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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