"Viel Schreckliches und auch Gutes erlebt"

Moderation: Joachim Scholl · 22.02.2011
Der Bestseller-Autor sieht die Deutschen im Kampf um die demokratischen Grundwerte in besonderer Verantwortung. Stéphane Hessel, dessen Streitschrift "Empört Euch!" viel gelesen wird, nennt die Proteste in der arabischen Welt sehr ermutigend.
Joachim Scholl: Stéphane Hessel ist 93 Jahre alt, Sohn des deutschen Schriftstellers Franz Hessel. Er hat in der französischen Résistance gekämpft, die Folter der Gestapo und das KZ Buchenwald überlebt, als französischer Diplomat hat er lange seinem Land gedient. Und in Frankreich ist Stéphane Hessel derzeit in aller Munde, denn von seiner Schrift, seinem Essay "Empört Euch!", ging seit letztem Herbst knapp eine Millionen Exemplare über den Ladentisch. Es ist ein Aufruf gegen soziale Ungerechtigkeit, gegen die Umweltzerstörung, gegen die Gleichgültigkeit. Jetzt ist Stéphane Hessel in Deutschland und am Telefon, ich grüße Sie, Monsieur Hessel!

Stéphane Hessel: Bonjour, guten Tag, freut mich Sie zu hören!

Scholl: In 18 Ländern, Herr Hessel, ist Ihr Aufsatz inzwischen erschienen, auch in Deutschland verkauft sich das Buch, wie man hört, ganz prächtig. Ich vermute, dass Sie über diesen Erfolg selbst verblüfft sind?

Hessel: Sehr! Es war eine große Überraschung, aber ich danke es größtenteils meiner Verlegerin, der Sylvie Grossman, die nicht nur den Titel, sondern auch das Format und den Preis gehabt hat. Und das bedeutet, dass es eben sehr leicht herumzubringen ist, und es hat einen enormen, ganz unerhörten Erfolg, auf den ich nicht gefasst war.

Scholl: Nun gut, also das ist mit drei Euro oder beziehungsweise 3,99 Euro für die deutsche Ausgabe mit ein Grund vielleicht, aber ich glaube schon, dass es eher der Inhalt ist. Gibt es denn, Monsieur Hessel, schon Reaktionen von ausländischen Lesern? Die Franzosen kaufen das Buch nun zu Hunderttausenden, aber auch in den vielen Ländern, in denen es jetzt erscheint, hat Sie da schon Post erreicht?

Hessel: Ja, es gibt auch schon Reaktionen aus Amerika, aus Spanien, sogar aus Algerien. Und das ist natürlich mir besonders wichtig, dass gerade die Länder, die zufälligerweise im selben Moment einen enormen Aufschwung von Reaktionen, von Völkerreaktionen haben, dass die auch dieses Buch irgendwie angenommen haben als etwas, das ihnen hilfreich sein kann.

Scholl: Was schreiben Ihnen die Leute?

Hessel: Sie schreiben also lange Briefe mit großer Großzügigkeit. Aber vor allem sagen sie mir: Sie haben uns aufgefordert, uns zu empören, uns zu indignieren, und das ist gut für uns, denn wir hätten sonst vergessen, dass man auch etwas tun kann. Also das sind natürlich für mich die liebsten Kritiken und Reaktionen.

Scholl: Von uns aus gesehen denkt man ja, nun, die Franzosen, die brauchen doch eigentlich keinen Weckruf. Für die Franzosen haben Sie es aber erst mal geschrieben, damals im Hinblick auf die Wahlen 2010, Monsieur Hessel. Franzosen gehen immer sofort in Massen auf die Straße, wenn ihnen was nicht passt, sei es eine Schulreform, eine Rentenkürzung, Verlängerung der Arbeitszeit … Ist das eine falsche Wahrnehmung oder brauchen die Franzosen eigentlich so ein Buch doch gar nicht?

Hessel: Ja, also dieses Auf-die-Straßen-Gehen, da sind die Franzosen dran gewöhnt, aber sich wirklich empören, nicht nur so zusammen manifestieren, das ist für sie gewöhnlich und die sagen, ja die Regierung, die macht nicht, was wir wollen. Aber sich richtig zu empören, also zu verstehen, welche die Gründe sind, welche die Werte sind, die vergewaltigt werden, das kommt in diesem Buch heraus und das ist glaube ich ganz besonders wichtig zu lesen und zu hören, dass es eben nicht nur so ist, mir geht’s nicht gut und ich bin darüber erregt, sondern es gibt Dinge, die nicht so behandelt werden von meiner Regierung, wie es eigentlich das Richtige wäre. Wenn man das erfährt, dann wird man zu einem besseren Bürger, einem besseren Citizen, wie die Engländer sagen. Und das ist mir besonders lieb. Und ich denke, darauf kommt auch das Lesen von diesem Buch heraus.

Scholl: In Deutschland protestiert man derzeit vehement gegen einen Bahnhof, Sie haben bestimmt auch von Stuttgart 21 gehört, oder blockiert Castor-, Atomtransporte. Wenn Sie für einen Aufsatz, für Ihren Essay ein Vorwort, ein Extravorwort für deutsche Leser schreiben müssten, was würden Sie formulieren?

Hessel: Ich würde sagen, ihr Deutschen habt eine enorme Rolle zu spielen gerade jetzt in Europa. Was euch passiert ist in diesem letzten Jahrhundert, ist enorm wichtig für uns alle. Ihr müsst jetzt die Werte, für die ihr gekämpft habt, anerkennen, wissen, welche sind denn diese demokratischen Grundwerte. Und wenn sie nicht genügend in Kraft genommen werden, sei es von Ihrer Regierung oder sei es von anderen Regierungen, für die Sie auch mitverantwortlich sind als Europäer, da müsst ihr etwas dagegen tun. Also ihr habt einen großen Vorteil vor anderen Ländern, weil ihr so viel erlebt habt, weil ihr so viel Schreckliches und auch Gutes erlebt habt, darum habt ihr eine besondere Verantwortung, und ihr müsst uns zusammen es möglich machen, uns richtig zu empören. Nicht nur einen Moment, sondern in einer Richtung, die uns als Europäer unsere Situation in der Welt ermöglichen würde.

Scholl: Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit Stéphane Hessel, er hat die Schrift "Empört Euch!" verfasst. Sie haben Ihren Aufsatz, Monsieur Hessel, vor dem Hintergrund Ihrer Biografie, das heißt des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus geschrieben …

Hessel: … ja …

Scholl: … und Sie sagen ganz offen, es war damals einfach, sich zu empören gegen die Willkür, den Terror, die Grausamkeit. Für die heutige Generation sei es nun ungleich schwerer, weil es ja doch keinen klaren Gegner gibt. – Man kann sagen, gut, die soziale Ungerechtigkeit, die Schere zwischen Arm und Reich, die Finanzmärkte, die Gier der Manager, aber man genießt ja, gerade als westlicher junger Mensch, ja auch die Privilegien des Systems, das die Ungleichheit, diese Ungerechtigkeit produziert. Wie lässt sich denn Ihrer Meinung nach dieser Widerspruch auflösen?

Hessel: Also es ist gerade so, dass man das Gefühl hat, alles geht ja nicht so schlecht, ist doch ganz gut, wir leben in einem ziemlich reichen Land, in Europa. Man sieht dem nicht schnell an, dass das alles jetzt in großer Gefahr steht. Die Gefahr ist, dass diese Wirtschaftskrise sich nicht auflöst, die Gefahr ist, dass die Erde wirklich beschädigt ist. Und wenn wir das nicht schnell genug verstehen und nicht schnell genug dagegen reagieren, dann wird diese Lage für uns noch viel gefährlicher als die Lage war vor dem Zweiten Weltkrieg. Also die Gefahren sind nicht so leicht zu erkennen wie damals, aber wenn man sie erkennt, wenn man ein bisschen darüber nachdenkt, wo gehen wir denn hin, wohin führt es, in welche Mauer stoßen wir, dann wird es schon notwendig, nicht nur sich zu empören, sondern darüber nachzudenken, was machen wir, damit es nicht so schlecht wird.

Scholl: Ja, wohin soll die Empörung konkret führen? Was sollen wir machen?

Hessel: Wir sollen uns zusammensetzen, wir sollen das benutzen, was die neue Technik uns gibt, dieses viele Zusammenkommen, diese vielen Mobiltelefone und was nicht alles, und digital und so … Dies sollen wir benutzen, um mehr zusammen zu sein. So ein Forum wie das in Dakar ist ein wichtiger Moment, man soll diese Sozialprobleme zusammen erkennen und dann gegen sie zusammen kämpfen. Nicht mehr als einzelner Mensch, nicht nur als einer, der die Wahl für eine Partei gibt, sondern auch einer, der sich wirklich einsetzt in großen Gruppen und da einen Einfluss auf die Regierungen erhält, der es möglich macht, diese wichtigen, gravierenden Probleme zu lösen.

Scholl: Im letzten Herbst erschien ebenfalls in Frankreich ein Buch, "Der kommende Aufstand" heißt es in deutscher Übersetzung. Eine sehr elegant geschriebene Analyse der Weltlage und der allgemeinen Stimmung. Das müsste Ihnen gefallen haben, Herr Hessel. Zugleich war es aber ein sehr anarchistischer Appell, das System auch gewaltsam anzugreifen, lahmzulegen. – Da haben Sie, glaube ich, kein Verständnis für, oder?

Hessel: Dafür habe ich kein Verständnis. Ich beziehe mich sehr gern auf ein Buch, was Edgar Morin eben herausbringt, das heißt "Der Weg". Es gibt also schon Wege, die man ohne Gewalt, die man ohne Umstürzung, ohne Revolution, sondern mit gut gedachter, ausgedachter Reform betreten kann. Und zwar, weil unsere Gehirne Möglichkeiten haben, die wir bisher noch nicht völlig ausgenutzt haben. Möglichkeiten der Großzügigkeit, der Gabe des Respektes gegenüber anderen. Wenn wir diese Möglichkeiten jetzt mehr benutzen, dann können wir schon viel tun, um die Welt besser zu machen.

Scholl: Sie haben vorhin schon die Zuschriften aus Algerien erwähnt. Ich meine, viele junge Menschen in der arabischen Welt machen mit ihrer Empörung derzeit Geschichte. Ist das für Sie ein ermutigendes Zeichen?

Hessel: Ein sehr ermutigendes, aber gleichzeitig auch eins, was man mit großer Vorsicht annehmen kann. Sich nur zu empören, wie es diese Menschen tun, wäre nicht genug. Aber wenn sie sich als Völker empfinden und ihre Bedürfnisse als Völker den Regierungen vorsetzen und sagen, unsere Bedürfnisse müsst ihr jetzt erkennen, anerkennen und begleichen, dann machen sie das Beste, was man aus meinem kleinen Buch machen kann.

Scholl: Ihre Schrift ziert ein Bild von Paul Klee, "Angelus Novus", der neue Engel, ein Bild, das Walter Benjamin gehört und ihn auch zutiefst beeindruckt hat. Sie haben, Monsieur Hessel, Benjamin noch gekannt. Für ihn war Klees Engel der Engel des Sturms. Was bedeutet er Ihnen?

Hessel: Also gerade Benjamins Haltung dem Fortschritt gegenüber war eine befürchtende. Er hatte auch ganz recht, Fortschritt kann wild werden, und wir leben in einer Welt, wo viele der Fortschritte wild geworden sind, gerade die Wirtschaftsfortschritte und Wissenschaftsfortschritte. Er hatte davor Angst und empfand den Engel, den "Angelus Novus" als einen, der den Fortschritt zurückhalten wollte. Als ich ihn kurz vor seinem Tod traf, hatte ich die Meinung, die ich ihm auch mitgeteilt habe, es wäre nicht so, dass der Fortschritt uns nun alles kaputtmachen würde, sondern es gebe doch Möglichkeiten, es gebe doch den General de Gaulle, es gebe doch Roosevelt, und wir müssten schon darauf hoffen, dass der Fortschritt auch so benutzt werden kann, dass er günstig für uns alle ist. Da war meine Meinung nicht dieselbe wie seine. Aber ich habe großen Respekt vor seiner Meinung. Leider hat er vielleicht nicht unrecht, aber ich denke, die Hoffnung ist doch da, denn wir brauchen Hoffnung und wir müssen mit Habermas über die Zukunft nachdenken.

Scholl: "Empört Euch!", so heißt die Schrift von Stéphane Hessel, sie ist auf Deutsch im Ullstein Verlag erschienen, kostet 3,99 Euro. Monsieur Hessel, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!

Hessel: Vielen Dank, auf Wiedersehen!
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