Videokunst von Lynn Hershman in Berlin

Intime Bekenntnisse aus dem Schlafzimmer

Lynn Hershman Leeson, The Novalis Hotel, 2018, Ortsspezifische Installation in einem Hotelzimmer
Lynn Hershman Leeson, The Novalis Hotel, 2018, Ortsspezifische Installation in einem Hotelzimmer © Frank Sperling
Von Gerd Brendel · 27.05.2018
Die Künstlerin Lynn Hershman thematisierte schon vor 40 Jahren, was wir heute von Youtube-Kanälen kennen: Menschen, die sich aus ihren Wohn- oder Schlafzimmern mit persönlichen Bekenntnissen zu Wort melden. Nun sind ihre "Beichtvideos" in Berlin zu sehen.
Lynn Hershman ist leider nicht hier, verkündet eine freundliche Lynn Hershman im Video mit dem Titel "Commercial for myself" - Eigenwerbung von 1974. Zu einer Zeit, als Künstler auf der ganzen Welt den eigenen physischen Körper als Ausdrucksmittel entdecken, verabschiedet sich die Künstlerin Lynn Hershman aus der Realität. In Videos präsentiert sie sie sich als ihre eigene Stellvertreterin oder sie erfindet sich komplett neu. Mehr als 40 Jähre später ist der Clip wieder in Berlin zu sehen.
"Weil die Arbeit von Lynn Hershman eine unglaubliche Brisanz gegenwärtig hat", erklärt Cathrin Mayer von den Berliner Kunstwerken. Sie gehört zum Kuratorinnen-Team der Lynn-Hershman-Ausstellung "First Person Plural". Als Digital Native, die mit dem Internet aufwuchs, kennt sie das, was Lynn Hershman damals schon thematisierte von unzähligen Youtube-Kanälen: Menschen, die sich aus ihren Wohn- oder Schlafzimmern mit mehr oder weniger persönlichen Bekenntnissen zu Wort melden.

Hershman nahm die Allgegenwart des Internets vorweg

Das alles hat Lynn Hershman mit ihren Videos lange vor der Allgegenwart des Internets vorgespielt. In Berlin hängen die Videoleinwände hintereinander in einer alten Lagerhalle. Hershmans Gesicht in Großaufnahme, mal den Tränen nahe, mal ausdruckslos. Sie erzählt von einer tödlichen Krankheit, ihrem ausschweifenden Sexualleben oder ihrer heimlich im Schlafzimmer ausgelebten Fresssucht.

Cathrin Mayer: "Diese Arbeit 'Electronic Diaries' ist auch die Arbeit, die der Ausstellung den Namen gegeben hat, da geht es um Vervielfältigung dieser Identität und um ein Sprechen über sich in ganz verschiedenen Personen."
Lynn Hershman Leeson, First Person Plural, the Electronic Diaries of Lynn Hershman, 1984–96 (in vier Teilen), Installationsansicht in der Ausstellung First Person Plural, KW Institute for Contemporary Art, Berlin, 2018
Lynn Hershman Leeson, First Person Plural, the Electronic Diaries of Lynn Hershman, 1984–96 (in vier Teilen), Installationsansicht in der Ausstellung First Person Plural, KW Institute for Contemporary Art, Berlin, 2018© Frank Sperling
Lynn Hershman: "I was in such a condition, that they said, that I was not going to survive. I guess, the first thing was to start experimenting with sex... I got married to the first person I met."

Ausgedachte Identitäten

Der betroffene Tonfall trügt, was authentisch klingt, ist nur eine Rolle. Hershman schafft sich durch ihre Erzählungen neue Identitäten. Immer wieder wird das Bild zu mehreren aufgefächert.
Während die Zuschauer vor den Videos passiv verharren, greifen sie bei einem von Hershman entwickelten Videospiel, übrigens eines der ersten seiner Art, aktiv in das Leben von Hershmans Alter Ego "Lona" ein. Lona leidet an Platzangst und mit Hilfe einer Fernbedienung können die Spieler Lona entweder zur Pistole greifen lassen oder sie auf die Straße schicken.
Lynn Hershman Leeson, Lorna, 1979–82, Installationsansicht in der Ausstellung First Person Plural, KW Institute for Contemporary Art, Berlin, 2018
Lynn Hershman Leeson, Lorna, 1979–82, Installationsansicht in der Ausstellung First Person Plural, KW Institute for Contemporary Art, Berlin, 2018© Frank Sperling
Dank Internet und digitaler Technik lässt sich unsere Individualität unendlich vervielfältigen. Aber auf der anderen Seite sorgt diese Technik auch dafür, dass unser reales Dasein abgespeichert, erfasst, analysiert und kategorisiert wird. Gibt es ein Entkommen?
Vor über 40 Jahren forderte die abwesend-anwesende Lynn Hershman in ihrem "Commercial for myself" die Zuschauer dazu auf, menschliche Werte wie Individualität zu definieren. Es liegt an uns Antworten zu finden, bevor es andere tun, oder ein Computerprogramm.
Die Kunstwerke Berlin zeigen die Werke von Lynn Hershman Leeson an zwei Orten: in einer ehemaligen Lagerhalle in Berlin-Kreuzberg bis 15. Juli und im "Hotel Novalis" in Berlin- Mitte bis Mitte Juni.
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