Victor Klemperer

Besonderer Zeitzeuge der Münchner Räterepublik

Der Romanist und Philologe Victor Klemperer in einer zeitgenössischen Aufnahme. Er wurde am 9. Oktober 1881 in Landsberg (Warthe) geboren und ist am 11. Februar 1960 in Dresden gestorben.
Der Romanist und Philologe Victor Klemperer (1881 - 1960) auf einer zeitgenössischen Aufnahme. © picture alliance / dpa / Fotoreport Aufbau Verlag
Von Jörg Magenau · 08.07.2015
Der Romanist Victor Klemperer gilt als wichtiger Chronist des NS-Terrors. Nun erscheint ein bislang unveröffentlichtes "Revolutionstagebuch 1919". Darin beschreibt er die Zeit der Münchner Räterepublik - aus dem Rückblick als verfolgter Jude im Jahr 1942. Das macht den besonderen Reiz dieses Buches aus.
Seine Beiträge für die "Leipziger Neueste Nachrichten" zeichnete er mit "A.B.-Mitarbeiter". A.B. stand für "Antibavaricus" - und tatsächlich betrachtete der Preuße Victor Klemperer das revolutionäre Geschehen der Münchner Räterepublik zwischen Februar und April 1919 mit einigem Befremden. Die Münchner Schriftsteller-Bohème, die in Gestalt von Kurt Eisner, Ernst Toller und Gustav Landauer an die Macht geraten war, erschien ihm allenfalls skurril. Die Kommunisten Eugen Leviné und Max Levin, die kurz darauf das Ruder übernahmen, fand er geradezu abstoßend. Das Münchner Bürgertum in seiner Passivität betrachtete er in einer Mischung aus Erstaunen und Verachtung. Lediglich mit den Freikorpstruppen, die dann in München einrückten, hätte er vielleicht sympathisiert, wenn sie weniger grausam und mordlüstern operiert hätten und wenn sie in ihrem Hass die Kommunisten nicht mit den Juden gleichgesetzt hätten.
Antisemitismus schon 1919 ein Motor der Gefühle
Klemperer, durch und durch Liberaler mit eher konservativen Neigungen, gehörte zu den seltenen Verteidigern der Weimarer Verfassung. Auch dadurch hatte er als zum Protestantismus konvertierter Jude eine Sonderstellung, die ihn zu einem Zeitzeugen mit besonderer Sensibilität und Wachheit machte. In München hielt er sich auf, um nach dem Ende des Krieges seine akademische Laufbahn als Romanist wieder in Gang zu setzen, aber eben auch mit journalistischem Auftrag. Noch war nicht entschieden, für welche Berufslaufbahn er sich entscheiden würde.
Die Berichte, die er über die Unruhen verfasste, blieben zum größeren Teil ungedruckt, weil ja auch die Post nicht mehr funktionierte. So erscheinen sie nun mit fast hundertjähriger Verspätung zum ersten Mal – kombiniert mit Passagen aus Klemperers Erinnerungen, die er im Jahr 1942 in der Dresdner Isolation als verfolgter Jude im Dritten Reich verfasste. Von dieser Position aus wird klar, wohin der Antisemitismus führte, der schon in der Niederschlagung der Revolte von 1919 ein Motor der Gefühle gewesen war.
Der Charakter der Tragödie überwiegt über den der Komödie
Klemperer erlebte die Revolution als große Farce, als bloßes Theater, dessen politische Bedeutung den Akteuren verborgen blieb. Kurt Eisner beschreibt er als kleines Männchen mit großer Bibliothek, der sich selbst als Schwärmer bezeichnete. Und doch fesselte er sein Publikum und hatte durchaus volkstribunenartige Züge. Dass diese Räterepublik keine Basis hatte und nicht lange existieren konnte, war offensichtlich.
In diesen Texten kann man Geschichte im Vollzug miterleben – und zwar so, dass trotz der Nähe und der Unmittelbarkeit der Beschreibungen die eigentlichen Ereignisse und der Sinn des Ganzen im Dunkeln bleiben. Geschichte ereignet sich, und die Akteure sind allenfalls Spielfiguren. Erst aus der Rückschau wird deutlicher, wie das Geschehen einzuordnen gewesen wäre. Dann überwiegt eben doch der Charakter der Tragödie über die Komödie, die Klemperer vor Ort miterlebte. Diese doppelte Ebene macht den besonderen Reiz dieses Revolutionstagebuchs aus.

Victor Klemperer: Man möchte immer weinen und lachen in einem: Revolutionstagebuch 1919.
Aufbau Verlag, Berlin 2015
264 Seiten, 19,95 Euro

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