Vertagte Schulöffnung in Baden-Württemberg

Das Familienleben, ein Koordinationschaos

07:56 Minuten
Auf einer Schultafel steht mit Kreide geschrieben LOCKDOWN VERLÄNGERUNG.
Geschlossene Schulen sind für viele Eltern eine Herausforderung. Und eine Politik, die keine klaren Ansagen macht, zehrt ebenfalls an den Nerven von Eltern. © imago
Von Katharina Thoms · 18.01.2021
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Kurzfristig hat die Landesregierung in Stuttgart entschieden: Die Schulen in Baden-Württemberg bleiben doch zu. Immer wieder hin und her – das nervt viele Eltern im "Ländle". Zwei Familien berichten, wie sie derzeit den Alltag stemmen.
Jan-Ole Reuß flüstert: "7, 4, 8 und die 0." Mathe-"Unterricht", 4. Klasse, Schüler an einer Grundschule in Stuttgart.
Jan-Oles Mutter Judith ist seine Lehrerin – zu Hause. Sie hat den Unterricht im Lockdown aufgenommen:
"Mama, was ist?"
"Du guckst aus‘m Fenster anstatt zu arbeiten! Konzentriere Dich ein bisschen."
"Mann, Mama!"
"Ich bin Mutter", sagt Judith Reuß. "Ich bin nicht die Lehrerin", fährt die blonde, zierliche Frau im Videointerview fort. Für weitere zwei Wochen mindestens ist sie aber doch wieder auch Lehrerin.

Lockdown, Homeschooling und dann noch die Arbeit

Und sie ist froh darüber. Denn Reuß arbeitet - neben Lockdown und Homeschooling - auch als Krankenpflegerin. Teilzeit, in einem großen Stuttgarter Krankenhaus. Auch wenn sie nicht direkt auf einer Covid-19-Intensivstation arbeitet – sie nimmt das Coronavirus sehr ernst.
"Aus meiner Sicht vom Gesundheitswesen her finde ich die Entscheidung gut", sagt Judith Reuß, ergänzt aber: "Ja, ich hätte mir die Entscheidung gern schon vor einer Woche gewünscht, weil es auch da schon absehbar war, dass es so nichts werden wird." So sehen es Reuß und auch ihr Mann. Er ist Arzt in Stuttgart.
Die Kultusministerin in Baden-Württemberg, Susanne Eisenmann, hatte nach Weihnachten noch gefordert: Aufmachen, unabhängig von Inzidenzzahlen. In Stuttgart schwanken sie seit zwei Wochen zwischen 130 und 100.

Gute 50 Kilometer südwestlich liegen die offiziellen Infektionszahlen knapp drunter. In Bondorf, auf dem Weg in den Schwarzwald, lebt Dominic Brucker mit seiner Familie. Brucker sitzt für unser Videointerview in seinem Büro – in der Schule. Er leitet eine Gemeinschaftsschule – von Klasse 1 bis 10. Aktuell alles im Fernunterricht.
Das klappe ganz gut, meint Brucker. Auch er ist erleichtert über die Entscheidung der Regierung in Baden-Württemberg: "Ich bin sehr froh um die Ankündigung. Auch, dass es jetzt für die nächsten zwei Wochen Planungssicherheit gibt. Sowohl aus Schulleiter-Perspektive, als auch aus Eltern-Perspektive."

Sehnsucht nach der Tafel

Brucker hat drei Töchter, eine in der Kita, zwei in der Grundschule. Leila ist mit ihm beim Interview.
Dass überhaupt noch mal vor Ende Januar über eine Schulöffnung diskutiert wurde, kann er nicht nachvollziehen. Bei aller Belastung: Gesundheit gehe vor. Das sehen so ziemlich alle Betroffenen in Baden-Württemberg so: Bildungsgewerkschaften, Grundschulverband, Landeselternbeirat.
Die 9-jährige Leila ist allerdings enttäuscht: "Ich find es schon ein bisschen doof. Wie gesagt, mir fehlt das auch ein bisschen. Mir fehlt halt das Klassenzimmer, auch die Tafel. Da wird dann vielleicht besser erklärt als auf dem Arbeitsblatt."
Obwohl es jetzt viel besser laufe als im Frühjahr, sagt Brucker. Leila geht übrigens nicht auf "seine" Schule. Normalerweise fährt sie ins nahe Rottenburg.
"Das erleben wir jetzt durchaus auch, dass sich die Schule unserer Kinder sehr bemüht", sagt der Schulleiter. "Und, wie gesagt, ein bisschen mehr Online-Zugriff dürfte sein. Das würde den Kids guttun."
Immerhin: Zwei Mal hatte Leila schon Videokonferenzen.
"Wir machen halt so etwas wie einen Morgenkreis. Da gehen wir eigentlich normalerweise alle zusammen im Kreis und erzählen, was wir am Wochenende oder in den Ferien gemacht haben. Und das haben wir jetzt über Videokonferenz."

Struktur trotz Schlafanzug

Das würde sich auch Judith Reuß für den zehnjährigen Jan-Ole wünschen – an seiner Stuttgarter Grundschule: "Ich fände die Online-Präsenz wichtig, vor allem für die Kinder, einfach mal die Lehrerin auch wieder zu sehen, kurz in Austausch gehen zu können. Auch die Klassenkameraden kurz zu sehen: Hi, wie geht's euch? Also dieses ganze Zwischenmenschliche. Des fehlt einfach wahnsinnig."
Und solange direkter Kontakt nicht geht: Mehr Struktur, mehr Taktung seitens der Schule – das würde helfen, meint Reuß: "Wir haben das wirklich versucht, zu sagen, wir stehen da und da auf, um die und die Uhrzeit beginnt es, ja? Aber dann: 'Ach, jetzt möchte ich doch noch im Schlafanzug bleiben.' Es ist sehr schwierig, die Struktur einfach zu Hause zu halten, zumal man ja auch seine Dinge im Haushalt noch machen muss."
Während Jan-Ole lernt, räumt Reuß den Geschirrspüler aus. Nebenan spielt der vierjährige Bruder:
"Max, kannst du bitte leise sein!", ruft Jan-Ole durch die Wohnung.
Dabei sei Max sogar gerade noch recht ruhig, meint Judith Reuß. Dann kommt er aber doch ins Lernzimmer rüber getapst:
"Max, wenn ich das fertig habe", reagiert Jan Ole.
"Aber mir ist allein spielen langweilig", beschwert sich Max.

Planen ohne Warten auf die Politik

Lernen, Haushalt, spielen: Die Mama übernimmt meistens die Kinder im Lockdown. Ihr Mann arbeitet Vollzeit. "Weil er oft spät abends heimkommt und ich dann einfach sage: Nee, abends ist auch die Konzentration nicht mehr da, um zu lernen. Und deshalb mache ich das eben tagsüber."
Wenn Judith Reuß auch ins Krankenhaus muss zum Arbeiten, können die Eltern die Notbetreuung nutzen. Weil die Regeln lockerer sind, kommen jetzt deutlich mehr Kinder in die Grundschule als im Frühjahr – bis zu sechzig statt nur drei oder vier.
Judith Reuß versucht trotzdem, die Notbetreuung selten zu nutzen. Und wie für die meisten ist auch bei ihnen Planung alles: "Die glückliche Lage haben wir eben, dass mein Mann dann ein Wochenende arbeitet, ich ein Wochenende arbeite und dann natürlich mehr Freizeit unter der Woche ist, auch für die Kinder."
Zusätzlich Spät- und Nachtdienste. Selbst zurückstecken, durchorganisiert, lange im Voraus. Egal wie die Politik tickt.
Genauso läuft es auch bei Familie Brucker in Bondorf. Auch dort hat die meiste Arbeit mit den Töchtern die Frau. Sie ist Reitlehrerin, arbeitet aktuell nicht. Er ist viel in der Schule.
Vater Brucker sieht aber auch als Schulleiter: Nicht überall klappt das so. "Bei zwei berufstätigen Eltern, bei Alleinerziehenden – ich versteh absolut, dass da auch die Frau Eisenmann sagt: Wir müssen gucken, dass die Familien des leisten können."

Individuelle Angebote und Wechselunterricht

Umso mehr sei neben Notbetreuung und Engagement der Schulen Planungssicherheit am wichtigsten: "Je mehr Planungsvorlauf wir haben, umso zuverlässiger läuft es auch als Familie."
Keine kurzfristigen Änderungen mehr, verlangt er. Getroffene Entscheidungen nicht ständig neu hinterfragen. Und den Schulen mehr Freiheit geben, selbst zu entscheiden: "Mein Wunsch wär tatsächlich, diesen Lockdown durchzuziehen, auch mit dem Fernunterricht dort, wo es gut gelingen kann", sagt Brucker und ergänzt: "Gleichzeitig auch Angebote zu machen für Kinder, die damit nicht zurechtkommen, vor Ort sein zu können."
Brucker fordert auch eine Neujustierung: "Dazu gehört natürlich auch, dass man Bereiche rausnimmt aus dem Bildungsplan, um das leisten zu können, was für die Kinder tatsächlich wichtig ist."
Soweit würde Judith Reuß nicht gehen. Sie kann sich aber gut wieder halbe Klassen vorstellen. Einen Wechselunterricht, gegen den sich die Kultusministerin so sträubt. Dann wäre sie auch wieder mehr Mama. Und weniger Lehrerin: "Nein, nix anderes Mama, nein", sagt Jan-Ole. "Ich möchte jetzt Elektro machen. Du hast es mir erlaubt!"
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