Versteckte Macht der Erinnerung

22.07.2008
"Hargensee" - das ist Codewort, Sehnsuchtsort und Schreckensbild zugleich, von Martin Kluger immer wieder in seinen Roman "Der Vogel, der spazieren ging" eingestreut. So macht der Autor auf äußerst geschickte Art neugierig auf seinen Helden Sammy Leiser und auf die Geheimnisse, die hinter der Fassade seines Lebens stecken.
Martin Kluger hat in den sechzig Jahren seines Lebens viel getan: Er hat Drehbücher und umfangreiche Bücher über Lebende und Tote geschrieben und hat außerdem übersetzt. Mit dem historischen Roman "Die Gehilfin", einer Wissenschaftsgeschichte der Berliner Charité ist er in weiten Kreisen bekannt geworden.

Aber der in Berlin und Montevideo lebende Autor müsste viel bekannter sein, etwa so wie der niederländische Schriftsteller Leon de Winter. Denn Martin Kluger besitzt das überbordende jüdische Erzähltalent, das es ihm ermöglicht, auf wunderbare Weise Tragik und Witz zu vermischen. Seine Romanfiguren sind neurotisch aufgeladenen wie die Männer und Frauen aus Woody Allens Repertoire.

Der Ich-Erzähler Sammy Leiser des Romans "Der Vogel, der spazieren ging" wurde 1933 in Weimar geboren, wuchs in Philadelphia auf und lebt in Paris. Sammy, der sich Sam nennt, schlägt sich recht und schlecht als Übersetzer von Werbebroschüren durch. Endlich darf er die Krimis seines Vaters Jonathan Still, der eigentlich Jonathan Leiser heißt, übersetzen. Jonathan Still ist Bestsellerautor und ein Familiendespot mit mafiösen Allüren.

Hinter Sams rauschhaftem Liebesglück mit der katholischen Spanierin Elizabeth, hinter seiner Beziehung zur trotzig-melancholischen Teenager-Tochter Ashley, hinter dem Auftauchen Meyer Mushkins im Boxerclub ein Stockwerk über der eigenen Wohnung, verbirgt sich eine unausgesprochene aber spürbare Macht. Es ist die Macht des jüdischen Schicksals. "Hargensee", einfach dieser Name, zwei-, dreimal im Roman wie ein Sehnsuchtsort oder Schreckenswort in den Text eingestreut, wirkt als magischer Punkt. Was und wo Hargensee ist und welche Bedeutung damit für die Leisers verbunden ist, es bleibt Trick und Geheimnis des Autors.

Der erzählerische Furor Martin Klugers, seine Lust, Szenen wie aus Coppolas "Pate" zu schreiben, sein Vergnügen an hysterischen Entladungen und seine Freude, um den tiefliegenden Kern herumzureden, sind die prägnantesten Merkmale des Romans. Martin Kluger ist ein leidenschaftlicher, leicht formulierender und ironisch funkelnder Erzähler.

"Der Vogel, der spazieren ging" ist ein Roman voller Anspielungen, Zitate und Filmbilder. Es ist eine gelungene, psychologisch raffinierte und zugleich hochkomische Familiengeschichte, an der etwas gar nicht normal ist: Das Überleben nach dem Holocaust. Der Roman handelt von der versteckten Macht der Erinnerung, von allem, was unter der Oberfläche brodelt.

Rezensiert von Verena Auffermann

Martin Kluger: Der Vogel, der spazieren ging
Roman, DuMont, Köln 2008
318 Seiten, 19.90 Euro