Verstaubte Melderegister

Japans Lebens(mittel)-Lüge

Von Udo Pollmer · 31.10.2010
Japan gilt in Sachen Ernährung als großes Vorbild. Nirgendwo auf der Welt gibt es so viele Hochbetagte. Bisher dachte man, das liegt an der gesunden Lebensweise - Fisch, Soja und Algen. Jetzt weiß man: Es liegt an den verstaubten Melderegistern.
Die Welt der Gesundheitsapostel blickt nach Japan. Denn die Japaner werden statistisch gesehen älter als wir. Und das soll bekanntlich an der gesunden Kost liegen - am rohen Fisch, an frischer Sojamolke und Glibber-Algen! Dummerweise haben sich viele ältere Japaner die längste Zeit ihres Lebens von einer ganz speziellen Sorte Fisch ernährt: Vom Walfisch. Den gab es morgens, mittags und abends. Jahraus, jahrein. Und wer es sich leisten konnte, der aß dazu noch eine Schale Reis – weißer, polierter Reis, versteht sich. Dazu gab es noch eine Handvoll Insekten, Bockkäferlarven zum Beispiel. Fehlanzeige bei Früchten, Vollkornbrot und Sojabratlingen!

Nun wird das Bild vom greisen Japaner, der grünen Tee trinkt und auf seinen 100. Geburtstag wartet, von einer ganz dummen Geschichte überschattet. Als kürzlich die Behörden versuchten, ihre ältesten Mitbürger einmal persönlich aufzuspüren, taten sich Abgründe auf. Die Ältesten der Alten waren nämlich schon vor Jahrzehnten entschwunden. Sie haben sich klammheimlich vom Acker gemacht. Die Stadtverwaltung in Osaka beispielsweise musste eingestehen, dass über 5000 steinalte Mitbürger – allesamt zwischen 125 Jahren und 153 Jahren – nur noch in den Melderegistern Staub aufwirbelten.

Inzwischen berichten Japans Medien von mehr als 230.000 vermissten Greisen. Das profane Geheimnis der Untoten: Nicht das gesunde Essen hielt sie am Leben, sondern ein dubioses System an Melderegistern. Beim Durchforsten der Formulare tauchten sogar Japaner auf, die darin schon über 180 Jahren ein Eigenleben führen. Dazu kamen dann als besonderer Anreiz die Rentenzahlungen. Die Rente wird in Japan nicht automatisch beim Ableben gestrichen, sondern erst, wenn Angehörige den Todesfall der Kasse melden und damit freiwillig auf die Stütze verzichten.

Wenn dann die Altersforscher ihre Fragebögen zur Lebensweise an die Hochbetagten verschicken, erhalten sie von denen, die die Rente beziehen, natürlich Antworten, die über jeden Verdacht erhaben sind. Tja, ein statistisch hohes Durchschnittsalter liegt also nicht am Waltran oder gesottenen Käfern, sondern hängt schlicht vom Rentenbetrug und fragwürdigen Melderegistern ab. Das ist übrigens nicht nur in Japan so. Auch in den USA hat sich bei Überprüfungen die Zahl der Über-Hundertjährigen schnell halbiert. Merke: Je schlampiger die Verwaltung, desto höher die statistische Lebenserwartung.

Und welchen Einfluss hat nun die gesunde Lebensweise? Seit Jahren werden die Hochbetagten fleißig befragt, um daraus Ernährungstipps zu destillieren. Doch die blieben bisher weitestgehend aus. Der Grund ist einfach: Die Antworten passten nicht so recht in das Beratungsschema junger Spunde.

Nachweislich am längsten lebte die Französin Jeanne Calment mit 122 Jahren. Nach eigenen Angaben tat sie nie etwas Besonderes für ihre Gesundheit, sie rauchte und liebte Portwein. Die Liste der ältesten noch lebenden Männer wurde bis vor kurzem vom Briten Henry Allingham angeführt. Er war Mitbegründer der britischen Luftwaffe und starb mit 113 Jahren. Sein Rezept für ein hohes Alter lautete: "Zigaretten, Whisky und wilde, wilde Frauen – und viel Humor!" Wir sehen, Ernährungstipps vom Profi können richtig Spaß machen!

Was aber haben die Über-Hundertjährigen wirklich gemeinsam? Das einzig erkennbare Muster ist ebenso ernüchternd wie befreiend: Die Steinalten haben zeitlebens das getan, was sie für richtig hielten und was ihnen gemäß war - ganz gleich, was der Zeitgeist gerade für gesund oder für fromm hielt.

Tja, liebe Kinder, wenn die Großen an die Märchen vom ewigen Leben durch gesundes Essen glauben, dann müssen die Kleinen eben artig ihren Kochfisch mit Vollkornreis aufessen, weil die Japaner ja sooo alt werden. Und wenn sie nicht gestorben sind, tja, dann leben sie noch heute. Mahlzeit!

Literatur:
Saito Y: Supercentenarians in Japan. In: Maier H et al (Eds): Supercentenarians. Springer, Heidelberg 2010; 75-99
Anon: Missing centenarians cause angst in aging Japan. Associated Press, 12. Aug. 2010
Anon: Gov’t to suspend pension payments to elderly whose whereabouts are unknown. Manichi Daily News, 13. Aug. 2010
Kolonko P: Kaiserreich der Karteileichen. FAZ-NET Aktuelle Nachrichten online, 27. Aug. 2010
Fukue N: 234.000 centenarians listed in registries missing. The Japan Times, 11. Sept. 2010
Pollmer U, Niehaus M: Wer gesund lebt, ist selber schuld. BLV, München 2010
The Los Angeles Gerontology Research Group: Official Tables: Stand: 22. Sept. 2010
Poulain M: On the age validation of supercentenarians. In: Maier H et al (Eds): Supercentenarians. Springer, Heidelberg 2010; 3-30
Perls TT et al: Validity of reported age and centanrian prevalence in New England. Age and Ageing 1999; 28: 193-197
Mahapatra P et al: Civil registration systems and vital statistics: successes and missed opportunities. Lancet 2007; 370: 1653-1663