Verseuchte Erinnerungen

22.10.2012
Zwei ehemalige NVA-Soldaten, ein abgewracktes Kasernengelände und ein Schuss im Hausflur: In seinem Romandebüt berichtet der Journalist und Autor Dirk Brauns von Menschen, die auf komplizierte Weise in ihrer Geschichte gefangen sind. Ein spannungsgeladenes Buch.
Es beginnt mit einem Schuss. Zwei Männer stehen sich in einem Hausflur gegenüber. Wer da auf wen schießt und mit welchen Folgen, das bleibt zunächst unklar. Denn nun dreht der Autor die Uhr um 24 Stunden zurück, um den Countdown, Stunde für Stunde und Kapitel für Kapitel, herunterzuzählen bis zu diesem verhängnisvollen Moment.

Dirk Brauns schreibt in einem gnadenlosen Präsens, das keine Ausflucht zulässt, und aus wechselnder Ich-Perspektive der beiden Männer, die durch eine gemeinsame Geschichte unlösbar miteinander verbunden sind. Der eine, Ingo Kern, war einst in der DDR Ausbilder bei der NVA und ein ziemlicher Menschenschinder. Heute arbeitet er in der Personalabteilung der Bahn, wo er die damals erworbenen Führungsqualitäten zur Geltung bringen kann. Der andere, Stefan Brenner, war in der NVA sein Untergebener. Jetzt ist er Wirtschaftsprüfer von Autohäusern und in dienstlichem Auftrag unterwegs nach Eggesin, wo auf dem abgewrackten Kasernengelände ein Autohaus steht. Seine Tätigkeit ähnelt der von Ingo Kern. Auch er bewertet jetzt die Arbeit anderer. Und vielleicht besteht der Clou der sich anbahnenden Konfrontation genau darin, dass die beiden sich ähnlicher sind, als sie meinen.

Stefan Brenner ahnt zumindest, was ihn erwartet. Er weiß, dass die Schatten der Vergangenheit ihn in Eggesin bedrängen werden. Sein bester Freund in der NVA hielt damals den Druck nicht aus. Er nahm sich das Leben, um von Ingo Kern nicht länger schikaniert zu werden. Und Stefan hat noch am selben Tag, in der gemeinsamen Trauer, mit dessen Freundin geschlafen: Seither sind die beiden ein Paar. So hat auch er den Freund verraten, fühlt sich schuldig und ist vielleicht auch deshalb so unversöhnlich gegenüber Ingo Kern, den er stets als "Mörder" bezeichnet. Dass sich da also nicht einfach Täter und Opfer aus DDR-Zeiten gegenüberstehen, sondern zwei Menschen, die auf komplizierte Weise in ihrer Geschichte gefangen sind, macht die Qualität und die ungemeine Spannung dieses Romans aus.

Dirk Brauns, 1968 in Ost-Berlin geboren, hat wie viele junge Männer in der DDR seine Militärzeit in Eggesin am Stettiner Haff abgeleistet. 1993 wurde er beim Bachmann-Wettlesen in Klagenfurt mit dem 3sat-Preis für eine Erzählung über die Absurditäten einer Panzerparade. Es folgten eine Reportage über eine Wanderung von Berlin nach München und journalistische Korrespondententätigkeit für diverse Zeitungen in Peking und in Warschau, wo Brauns auch heute lebt. "In Inneren des Landes" ist sein erster Roman, ein spätes Debüt zwar, aber doch erkennbar das Werk eines erfahrenen Autors.

Der Roman spielt in unmittelbarer Gegenwart, allerdings in einer Gegenwart, die von Erinnerungen durchseucht ist und die eben nicht nur an wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit leidet, sondern vielleicht mehr noch daran, dass die Geschichte nicht abzuschließen ist. Es ist nur schwer zu ertragen, dass sich trotzdem eine Normalität eingestellt hat, die darin besteht, dass das Leben einfach weitergeht. Die Toten von einst sind aber immer noch da, auch wenn sie hartnäckig beschwiegen werden. Von dieser Gefangenschaft erzählt Brauns ohne jegliche Besserwisserei. Er zeigt die Ausweglosigkeit deshalb so eindringlich, weil er sie teilt und seinen Figuren auch da, wo sie ihm widerstreben, nahe bleibt.

Besprochen von Jörg Magenau

Dirk Brauns: Im Inneren des Landes
Roman. Galiani Berlin, Berlin 2012
224 Seiten, 16,99 Euro