Verschwundene Reize

Das Neandertal - gestern und heute

Die Nachbildung eines älteren Neandertalers im Neandertal-Museum in Mettmann.
Die Nachbildung eines älteren Neandertalers im Neandertal-Museum in Mettmann. © picture-alliance/ dpa - Federico Gambarini
Von Gerrit Stratmann · 15.06.2016
Östlich von Düsseldorf, zwischen Mettmann und Erkrath, liegt das Neandertal. Vor genau 160 Jahren, 1856, wurden dort die Überreste eines Menschen gefunden, der das Tal und seinen Namen weltberühmt gemacht hat.
Frühjahr 1826 in Düsseldorf. Eine Gruppe junger Kunstmaler und ihre Lehrer bereiten sich vor dem kurfürstlichen Schloss auf einen Ausflug vor. Unter ihnen der junge Student Johann Wilhelm Schirmer.
Zitat aus Johann Wilhelm Schirmer – Autobiographische Schriften:
"Man einigte sich, eine große Parthie zu Roß und Wagen nach der Neanderhöhle zu machen. Pferde und Wagen wurden bestellt und man machte sich bereit, um vor Mittag an Ort und Stelle anzukommen."
Hanna Eggerath: "Die Neanderhöhle war sehr groß, und man konnte da Feste feiern. Das haben die gemacht, und zwar die Maler der Düsseldorfer Malerschule, die haben also das Gesteins für sich entdeckt. Die haben sehr viele Bilder da gemalt, und haben also hier ein Fest gefeiert mit den Professoren und mit den Schülern und mit ihren Frauen. Und darüber gibt es einen Bericht von einem Maler, von Schirmer, der hat vor allem den Weg beschrieben, und dann aber auch die Ankunft und das Fest."

Idyllisch, urwüchsig, geheimnisvoll

Zitat aus Johann Wilhelm Schirmer – Autobiographische Schriften:
"Gegen 11 Uhr setzte sich der Zug vom Academiehof aus in Bewegung. Die damals bei uns allgemein beliebte deutsche Burschentracht, der herrliche Wandertag, die heiteren Gesichter, heute einmal sorgenfrei, verhießen uns ein außergewöhnliches Vergnügen."
Eggerath: "Es gab keine Straße im Gesteins. Man fuhr also von Düsseldorf über die Elberfelder Chaussee, das ist die heutige B 7. Und da fuhr man über eine Nebenstraße runter – war schwer zu finden – und fuhr dann bis zum Gasthof Eidamshaus. Den gibt es auch nicht mehr. Und dann nahm man sich einen Führer. Man konnte nicht alleine."
Das Gesteins. So nannte man das Neandertal früher. Wegen der hohen Felsenklippen, die sich hier zu einer engen Schlucht verengten. Die Schlucht gibt es nicht mehr. Fotos davon auch nicht. Aber Malereien und Reiseberichte, die Hanna Eggerath in einem Buch versammelt hat. Es trägt den Titel: "Im Gesteins – das ursprüngliche Neandertal in Bildern des 19. Jahrhunderts".
Damals entdeckte die Düsseldorfer Malerschule das Gesteins als Ausflugsziel und als Motiv für ihre Werke. Schüler aus Deutschland, Skandinavien und den Niederlanden hielten das Tal der Mode entsprechend fest: idyllisch, urwüchsig, geheimnisvoll.
Eggerath: "Maler der Romantik: die Felsen übermäßig hoch – so hoch waren sie nicht –, die Menschen ganz klein, und sehr bedrohlich, die Felsen."

In ihrem Wohn- und Arbeitszimmer klickt sich Hanna Eggerath am Computer durch die Folien und Bilder zu ihrem Vortrag. Auch mit 80 Jahren erläutert sie interessierten Zuhörern noch ab und an die Bilder und die Besonderheit der damaligen Landschaft. Seit 50 Jahren wohnt sie hier in Erkrath, einer Kleinstadt am südlichen Rand des Neandertals. Im Beruf hat sie als Chemielaborantin bei verschiedenen Firmen gearbeitet.
Nebenher betreibt sie Heimatforschung im Bergischen Geschichtsverein. Dass ausgerechnet sie ein Buch über die gemalte Vergangenheit des Neandertals schreiben würde, war nicht geplant und auch nicht ihre Idee.

Eggerath: "Der Bergische Geschichtsverein Erkrath hat in den 90er-Jahren gemeint, das würde unserer Gruppe gut zu Gesicht stehen, mal nach den Bildern zu forschen, die vom unzerstörten Neandertal gemalt worden sind. Ja, und dann sind wir los. Dann sind wir zuerst ins Düsseldorfer Stadtmuseum. Da waren ganz viele. Und dann haben wir uns immer weiter durchgehangelt. Es gab, als wir anfingen, 15 Bilder. Und heute gibt es 100 mehr."
Die Bilder von Johann Baptist Sonderland, Johann Wilhelm Schirmer, Barend Cornelis Koekkoek, Eugen von Guérard und anderen zeigen das Tal als einen Ort, der aus einer bukolischen Dichtung stammen könnte. Büsche und Bäume krallen sich darauf an schroffe Felsenwände, die über 40 Meter hoch in den Himmel ragen. Die Düssel ist gesäumt von Sträuchern und Pestwurz. Buchen ragen über das Wasser hinweg. An Findlingen im Fluss kräuselt sich seine Oberfläche zu weißen Schaumkronen.
Hans Frederik Gude, Norweger und Schüler von Schirmer, malte einen Schäfer mit seiner Herde in ein Bild. Ein anderer setzte eine Kapelle in das Tal oder einen Bauer mit seinen Tieren. Dabei hat es das Schäferidyll dort nie gegeben. Aber das hat die Künstler in ihrem Überschwang nicht davon abgehalten, die Gegend in ihren Bildern derart auszuschmücken.
Zitat aus Johann Wilhelm Schirmer – Autobiographische Schriften:
"Ohne Unfall kamen wir nach 1 Uhr an; – ein Fäßchen Wein nebst kalter Küche wurden mittelst Schiebkarren in die größte der Höhlen, die Neanderhöhle, gebracht; während dem besichtigte die bunte Gesellschaft die einsame Waldschlucht und belebte sie mit jauchzendem Gesange. Es konnte bei der Künstlernatur nicht fehlen, daß der alles belebende Frohsinn bei Jung und Alt bald eine Stimmung erregte, in der die Schranken des AlltagsVerkehrs verschwanden. Professoren und Schüler umarmten einander mit der Versicherung unwandelbarer Treue und Freundschaft, und als in gesteigertem Jubel das Glück den höchsten Grad erreicht hatte, machte sich das übersprudelnde Herz Luft durch Anstimmung des Schenkendorf’schen schönen Lieds vom Rhein."

Menschen stapfen über die Hochebene

40.000 Jahre vor unserer Zeitrechnung. Eine Gruppe Menschen stapft über die Hochebene unweit der Düssel. Ihre Stirn ist flach, ihre Augen sind überwölbt von dicken Wülsten. Sie tragen Felle am Leib als Schutz gegen den eisigen Wind. Ihre Füße wandern über Steine und hart gefrorene Erde. Die Eiszeit hat Europa im Griff.
Auffermann: "Im Sommer wurde es dann sicherlich auch mal 12 Grad warm, richtig schön gemütlich. Aber im Winter war es dauerhaft gefroren. Die Winter waren wahrscheinlich nicht ganz so schneereich, wie wir uns das vielleicht vorstellen. Also diese großen Schneemassen, Eiswüsten, so wie wir das von Ice Age im Kopf haben, so dürfen wir uns das nicht vorstellen, weil das sind einfach andere Bedingungen hier als jetzt in der Arktis."
Auf einer Lichtung in der Nähe weidet eine Herde Auerochsen. Die Bullen mit ihren breiten, kräftigen Stirnhörnern, einige Kühe und junge Kälber suchen nach Nahrung in der karg bewachsenen Gegend.
Auffermann: "Oben auf den Hochflächen, wo heute Hochdahl ist, und die Ebenen, die sich dann runterziehen in die Rheinebene, die müssen wir uns vorstellen wie eine Steppe, Steppenvegetation. Vielleicht in einigen geschützteren Lagen Büsche und kleinere Bäume wie in der subarktischen Tundra. Und über diese gewaltigen offenen Landschaften zogen dann Mammutherden, Wisentherden, Pferdeherden, auch Wölfe, Bären, Löwen… Also das war ein bisschen wie in der Serengeti, nur ein bisschen kälter."
Bärbel Auffermann hat die Szenerie vor Augen, die sich den Frühmenschen hier vor 40.000 Jahren bot. Die Steinzeitarchäologin und stellvertretende Direktorin des Neandertalmuseums kennt die Bedingungen, unter denen die Menschen damals um ihr Überleben kämpfen mussten.
Da es in der kühlen Umgebung nur wenige essbare Pflanzen gab, sind die kleinen Stammesverbände vermutlich hinter den Nahrung suchenden Tierherden der Eiszeit her gewandert. Einer dieser Frühmenschen wurde in einer Höhle etwa 20 Meter oberhalb der Düssel bestattet. Seine 16 noch erhaltenen Knochen sind heute im Neandertalmuseum zu sehen.
Auffermann: "Also dieser war ein eher alter Mann. Er war wohl schon so 60 Jahre alt. Er hat Verletzungsspuren am Körper. Also er hat eine kleine Verletzung an der einen Augenhöhle, da hat er sich vielleicht mal irgendwo gestoßen. Er hat einen verheilten Armbruch, also der linke Arm war in der Bewegung etwas eingeschränkt. Das ist aber verheilt, und er hat damit auch noch eine ganze Weile gelebt, also da hat sich wohl jemand auch um ihn gekümmert. Und als er dann gestorben ist, hat man ihn wahrscheinlich in dieser Höhle bestattet."
Die Höhle wurde von der Düssel und kleineren Zuflüssen in Millionen von Jahren aus den Kalksteinfelsen des steinernen Plateaus herausgespült. Die Schlucht, so Bärbel Auffermann, wird damals nicht viel anders ausgesehen haben als Anfang des 19. Jahrhunderts, als die Düsseldorfer Maler sie auf ihren Bildern festgehalten haben.
Auffermann: "Die Düssel hat sich über Jahrmillionen natürlich da reingefräst in diesen Kalkstein, aber zu Zeiten der Neandertaler war sie sicherlich schon in etwa so tief. Das ist ja gar nicht lange her. In Erdzeitaltern gerechnet ist das vorgestern gewesen, vor 40.000 Jahren."

Das Grab des Neandertalers

Von der Schlucht, den Höhlen und Kalksteinfelsen ist heute auf den ersten Blick kaum noch etwas zu sehen. Als Bärbel Auffermann 1995 ihre Stelle am Museum antritt, wissen nur Eingeweihte, wo das Grab des Neandertalers gewesen sein muss: In einer Grotte hoch oben in den Kalksteinfelsen der Schlucht. Zwei italienische Arbeiter schaufelten 1856 Lehm aus der Höhle, als sie auf die ersten Knochen stießen.
Auffermann: "Was vollkommen betrüblich war damals, war tatsächlich die Situation der Fundstelle. Wenn man sich gefragt hat: Wo war denn jetzt die Höhle?, dann ist man von Ortskundigen auf ein altes Schrottplatzgelände geführt worden. Da standen auch noch die Schuppen, da standen noch alte Autos, aus denen so das Öl sickerte, hatte man zumindest den Eindruck. Und da war die Stelle, wo sich vor langer Zeit, also um 1850 noch, 20 Meter hoch im Fels die Feldhofer Grotte befunden hat."
Einer, der die Höhlen der Schlucht noch kannte und schätzte, war der Pastor Joachim Neander. Ursprünglich aus Bremen, lebte und arbeitete er von 1674 bis 1679 als Rektor der reformierten Lateinschule in Düsseldorf. Da war er Mitte zwanzig, und zog sich gern in das nahe Tal zurück, um dort zu wandern, Gottesdienste zu feiern und sich von der prächtigen Natur inspirieren zu lassen. Seine bekannteste Dichtung ist bis heute das Kirchenlied "Lobe den Herren".
Joachim Neander hieß eigentlich Joachim Neumann. Einer damaligen Mode folgend, übersetzte er seinen Nachnamen ins Griechische. Nach seinem Weggang erinnerten sich die Menschen vor Ort noch lange an seine Lieblingsplätze im Gesteins. Der Volksmund nannte sie schon bald Neanders Höhle und Neanders Stuhl. Dass dieser Pastor Joachim Neander damit zum Namensgeber nicht nur des Tales, sondern einer ganzen Menschengattung werden würde, hätte er sich selbst wohl nie träumen lassen.
175 Jahre nach seinem Weggang wurde die Gegend das erste Mal offiziell als "Neanderthal" bezeichnet. Als die "Actiengesellschaft für Marmorindustrie im Neanderthal" hier ihren Sitz eröffnete. Die Steinbruchindustrie besiegelte das Schicksal der Schlucht und der Höhlen für immer.

Das Neandertal heute

Noch heute wackeln im Neandertal gelegentlich die Wände, wenn im letzten verbliebenen Kalksteinwerk eine Sprengung durchgeführt wird. Der Kalkstein wurde Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem begehrten Rohstoff. Er wird bei der Stahlherstellung in der Eisenindustrie und als Baustoff benötigt. 1849 beginnt der Abbau im Neandertal im großen Maßstab. Sprengungen zerstören die malerische Felsenschlucht vollständig.
Der Fortschritt ist wichtiger als die Natur. Als das Gebiet 1921 unter Naturschutz gestellt wird, ist aus der steilen Schlucht ein weites, baumloses Tal geworden. Millionen Tonnen Gestein sind im Zuge der Industrialisierung abgetragen worden. Die Feldhofer Grotten und den Lieblingsplatz von Joachim Neander gibt es nicht mehr. Nichts erinnert mehr an den Lebensraum des Neandertalers oder den verwunschenen Ort auf den romantischen Malereien.
Ute Stöcker: "Also Wild ist hier nicht mehr anzutreffen. Das gibt es hier nicht mehr."
Ute Stöcker, Bäuerin, Stadträtin und Wanderführerin im Neandertal, über die Gegend heute.
"Man darf sich nicht vorstellen, dass es hier ist wie in der Eifel oder im Sauerland, dass irgendwann, wenn es abends dunkel wird, die Wege nicht mehr belaufen werden. Weil dieser Besucherdruck ist hier extrem hoch. Dass Menschen in Gruppen quer durch den Wald marschieren, nachts um zwölf, morgens um eins, morgens um fünf Mountainbiker hier ihre Touren drehen, Schatzsucher über GPS und hasste nich' gesehen. Dieser Druck ist schon da."
Touristen, Wanderer und Erholungssuchende strömen in das Neandertal. Das Museum ist eines der am besten besuchten in ganz Deutschland, das Wildtiergehege mit seinen Auerochsen, Wisenten und Wildpferden eine Attraktion. Ute Stöcker und ihrer Familie gehört das Gut Bachelsberg am östlichen Ende des Tals. Die Felder, Wiesen und Wälder des Anwesens reichen bis zu den Auen der Düssel herunter und umfassen auch einen Teil der Spazierwege.
Bei gutem Wetter zeigt Ute Stöcker Besuchern auf ihrer "Urtour" durchs Tal das Gelände einer ehemaligen Fliehburg aus dem Mittelalter, die Bewässerungsgräben entlang der Flussauen oder besondere Pflanzen, die heute hier wachsen.
Stöcker: "Wir selber – und das ist eigentlich der Ursprung der Urtour gewesen – als wir selber hier unser Haus gebaut haben, das erste, was immer passierte: Die Leute sind bei uns ums Haus gelaufen und haben gefragt: Können Sie mir mal bitte Folgendes erklären Doppelpunkt. So bin ich überhaupt darauf gekommen, eine Ur-Tour zu initiieren, weil wir hatten ständig jemanden an der Haustür, der danach gefragt hat, wo der Weg lang geht oder wie man ins Neandertal kommt."
Die Gegend und ihre Geschichte liegen Ute Stöcker am Herzen. Seit sie und ihr Mann den landwirtschaftlichen Betrieb des Gutes ihrem Sohn überlassen haben, ist sie vor allem in der Kommunalpolitik tätig als Mitglied des Stadtrates der Stadt Mettmann. Über die Pläne der öffentlichen Hand für die Weiterentwicklung des Neandertals ist sie deshalb immer gut informiert.
Stöcker: "Was in Angriff genommen werden soll, ist die ganze Wegeplanung, die Verbesserung der Wege. Also von Papierkörben angefangen, über Bänke, über die Gestaltung der Wege, über die Ausschilderung. Da hat man jetzt zum Teil auch schon mit begonnen, die Ausschilderung etwas zu verfeinern. Kann ich nur begrüßen, weil gerade hier oben auf der Höhenlage, bei den Menschen merkt man, die kommen zu uns und fragen: Wie komme ich ins Museum? Wie komme ich zu dem Wildgehege? Wo kann ich die Auerochsen sehen? Wo kann ich hier herlaufen, damit ich wieder zu meinem Parkplatz komme? Und durch die Beschilderung, die jetzt in den letzten Monaten auch hier etabliert worden ist, hat sich das schon ein bisschen gebessert."
Als Naherholungsgebiet hat das Neandertal auch heute noch Qualitäten. Gemessen an der Vergangenheit sieht es hier jedoch ein bisschen aus wie überall. Wiesen, Felder, ein Wald mit jungen Bäumen, dazwischen die rasch dahinfließende Düssel. Die Gegend ist reizvoll, keine Frage. Aber der Zauber vergangener Jahrhunderte scheint unwiederbringlich verloren. Die Jahrtausende alte Naturschönheit ist zerstört. Stattdessen versucht das Tal durch attraktive Besucherkonzepte zu überzeugen.
Stöcker: "Aber man muss hier noch eine ganze Menge tun, weil wenn wir uns touristisch erschließen wollen hier im Neandertal – das ist ein Alleinstellungsmerkmal nicht nur für den Kreis Mettmann, sondern auch für die Stadt Mettmann – dann müssen wir uns so aufstellen, dass Menschen hier erstens gerne hinkommen. Das tun sie sowieso schon. Dass sie sich hier wohlfühlen, und auch eine Gastronomie vorfinden, wo sie sich über Tag irgendwie aufhalten können. Dass sie ein bisschen was aus dem Tal mitnehmen, also von der Geschichte des Tales mitnehmen, dass wir das Tal und auch die Geschichte des Neandertalers mehr erlebbar und erfahrbarer machen. Also wenn wir das erreichen könnten über ein touristisches Konzept, dann wären wir schon ganz weit vorne."

Die vielen Facetten des Neandertals

Fünf Autominuten von Gut Bachelsberg entfernt steht ein weißes Backsteingebäude am Rande von Mettmann. In der alten Chemiefabrik mit dem weißen Schornstein aus den 20er-Jahren haben ein Fitness-Studio und das Radio Neandertal ihren Sitz. Eine Etage höher liegt das Atelier von Martina Chardin. Die Fotografin und Malerin hat auf eigene Kosten einen Bildband über das Neandertal herausgegeben.
Chardin: "Das erste Mal, als ich einen Ausflug ins Neandertal gemacht habe, hatte ich natürlich eine Vorstellung wie das so sein müsste."
Das erste Mal war für Martina Chardin Anfang der 80er-Jahre, als sie ihre Fotografenausbildung in Düsseldorf begann.
Chardin: "Man denkt, es ist urig, es ist geheimnisvoll, vielleicht auch mysteriös so ein bisschen, und (das) ist es auch. Aber die Leute sehen das in der Regel gar nicht so. Aber ich wollte das auf jeden Fall so sehen, und deshalb habe ich das auch so fotografiert. Ein bisschen dunkel, und es ist ja auch kein blauer Himmel drin. Also ich wollte eben diese Natur und dieses Wilde und Ursprüngliche. Das war mein Anliegen, das so zu zeigen."
In einem grau-weißen Strickpulli, Bluejeans und Wildlederstiefeln sitzt Martina Chardin in ihrem Atelier und dreht sich eine Zigarette. Ihr erster Eindruck vom Neandertal ließ sie damals etwas ratlos zurück. Die Begegnung mit dem Lebensraum des weltberühmten Urmenschen hatte sich die in Jülich geborene Künstlerin anders vorgestellt.
Chardin: "Ja, irgendwie schon. Weil vom Neandertaler weit und breit nichts zu sehen ist, logischerweise. Da gab es auch das Neandertalmuseum noch nicht, das neue. Nur das alte. Es war einfach noch nichts. Es war das Neandertal, aber es gab nichts. Und das war dann irgendwie ein bisschen wenig, weil es hätte auch überall sein können. Von daher war ich schon ein bisschen enttäuscht damals."
Über 30 Jahre später wurde aus ihrer ersten Enttäuschung die Idee für einen eigenen Bildband. Dafür ist sie mit ihrer Kamera immer wieder zu verschiedenen Tages- und Jahreszeiten durch das Tal gelaufen, um es in all seinen Facetten zu erleben.
Chardin: "Ich hab wirklich gesucht. Oftmals geht man ja durchs Tal nicht alleine, in Gesellschaft, man unterhält sich, und man sieht ja nichts mehr. Also man läuft und läuft und läuft. Und als ich die Fotos gemacht habe, wollte ich natürlich schöne Motive finden und war auch immer alleine unterwegs, und habe mich auch wirklich im Kreis gedreht. Bin dann stehen geblieben und habe mich um mich selbst gedreht, um das dann aus allen Richtungen erfassen zu können."
Aus vielen hundert Bildern hat Martina Chardin ihre Favoriten für das Buch zusammengestellt. Die Orte darauf wirken wie aus einer anderen Welt. Eine einzelne Trauerweide auf der kleinen Insel in der Mitte eines Sees, über dem schemenhaft der Nebel dampft in geisterhafter Gegenlichtstimmung. Eine umwaldete Au, auf der im ersten Tageslicht ein zauberhafter Schleier liegt. Oder das dunkle Gehölz des Waldes, durch das vereinzelte Lichtfinger brechen.
Chardin: "Wir gehen mal soweit, da zeig ich Ihnen die Stelle, die ich besonders schön finde!"
Draußen scheint die Sonne. Der wolkenlose Himmel ist makellos blau. Vom Parkplatz gegenüber des Museums sind es etwa zwei Kilometer Fußmarsch. Am Wegesrand liegt die Steinzeitwerkstatt des Museums. Hinter den Scheiben lernt eine Schulklasse gerade die Herstellung von Steinklingen und den Umgang mit einfachen Holzbohrern. Ein paar Schritte weiter beginnt das Wildtiergehege.
Chardin: "Da sind die Pferde draußen! – Heute wäre das ein Tag, bei dem Licht, da hätte man schon schöne Aufnahmen machen können."
Ein ganzes Stück weiter hinter dem Gehege legt sich die Düssel in eine kleine, enge Schleife. Die steinernen Mauerreste eines alten Stauwehrs stehen an beiden Ufern des knietiefen Flusses, der hier kaum drei Meter breit ist. Martina Chardin sucht die Position, von der aus sie damals das Foto von dieser Stelle gemacht hat.
Chardin: "Und zwar, wenn wir noch ein bisschen runter gehen. Ja. So ungefähr. Dann noch ein bisschen hier rüber. So! – Das ist die Szene! Der hier hinten, das ist da vorne der Baum."
In der diffusen Mittagssonne zeigt das Unterholz im Augenblick kaum Schatten oder Kontraste. Die gleichmäßige Helligkeit lässt die Szene flach und langweilig wirken. Ganz anders auf ihrem Foto, auf dem die gleiche Stelle kaum wiederzuerkennen ist. Dort bricht das Licht schräg durch das grüne Geäst und zeichnet helle Flecken und Konturen auf den Boden und die Baumstämme. Das Gegenlicht überstrahlt den Hintergrund und lässt die Umrisse der Bäume noch schattenhafter hervortreten. Aus dem hübschen Bachlauf ist auf dem Foto eine fast märchenhafte Szene geworden.
Durch den fotografischen Blick von Martina Chardin gewinnt das Neandertal einiges von seiner geheimnisvollen, urtümlichen Aura zurück. Sie zeigt sich auch heute noch dem, der zu gucken versteht. Oder dem, der die richtigen Stellen kennt.

Die Zeit vor dem Kalksteinabbau

In festem Schuhwerk läuft Hanna Eggerath die Verkehrsstraße neben der Düssel im Neandertal entlang. Mit ihrem Buch über die Bilder der Düsseldorfer Malerschule im Gepäck, will sie mir den Laubach zeigen, einen kleinen Wasserfall abseits der Straße. Hier soll die Natur wieder ähnlich unberührt aussehen, wie zur Zeit vor dem zerstörerischen Kalksteinabbau.
Hanna Eggerath: "So, jetzt sind wir schon da, und haben den Weg nicht gefunden."
Am Straßenrand führt ein kaum sichtbarer Pfad in das Unterholz. Vorsichtig tastet sich die 80-Jährige einen kleinen Abhang hinunter durch ein lichtes Wäldchen junger Bäume. Rechts ragen zehn bis 15 Meter hoch die Reste der Kalksteinwand auf. Dann wird hinter einer schmalen Wiese das Rauschen des Wasserfalls langsam immer lauter.
Nicht weit von dieser Stelle hat der niederländische Maler Barend Cornelis Koekkoek 1843 ein Bild des Tals gemalt. Durch eine baumbewachsene enge Mündung ergießt sich darauf der Laubach über Felsen schäumend in die Düssel. Heute ist die Mündung des Baches von der Straße überbaut. Aber der Bachlauf selbst zeigt mit seinem dichten Unterholz, den knorrigen Wurzeln und bemoosten Steinen wieder Spuren des urtümlichen Wildwuchses, der auch Mitte des 19. Jahrhunderts hier geherrscht haben muss. Damals, im gleichen Jahr 1843, besuchte auch die linke Frauenrechtlerin und Journalistin Mathilde Franziska Anneke das Neandertal. Mit der zwei Jahre vorher fertiggestellten Eisenbahn fährt sie von Düsseldorf aus zu einer Landpartie bis in die Nähe der Schlucht.
Hanna Eggerath liest Anneke, Ausflug ins Gesteins 1843:
"Und von dort aus machten wir den kleinen Weg zu Fuß nach dem von Menschen wimmelnden Tale des Gesteins. Oder nach dem unter dem Namen Neanders-Höhle bekannten Felsenlabyrinth. Es ist dieses vielleicht eines der interessantesten Plätze unseres Landes, in der Nähe von Mettmann unweit von Düsseldorf."
Hanna Eggerath hat die idyllische Reisebeschreibung der damals 26-jährigen in ihr Buch über die Malerei der Düsseldorfer Malerschule übernommen.
Hanna Eggerath liest Anneke:
"Das wilde, romantische Felsental, das wir nun erst von einer seiner höchsten Feldspitzen überschauen sollten, ist unten in seiner engen Ebene von dem kristallhellen Gewässer der Düssel durchbrochen. Zu ihren beiden Seiten stehen die kollossalsten Steinmassen, und die engste und verwirrteste Schlucht ist etwa eine halbe Stunde lang."
Also das ist eine schöne Beschreibung, ne?
"Ein stämmiges Buchenwäldchen grünt auf den Höhen, und das Laubwerk niederer Gesträuche versteckt seine Grotten und Höhlen, die indes, so verborgen sie auch scheinen, doch bei einiger Ausdauer nicht unzugänglich sind."
Auch wenn das Neandertal noch immer ein beliebtes Ausflugsziel ist, es zehrt bis heute sehr von der Erinnerung an seine einstige Schönheit, die in alten Reiseberichten gepriesen und von den Malern der Düsseldorfer Malerschule festgehalten wurde. Und natürlich von dem Mythos, den der Fund eines 60-jährigen Toten aus der Eiszeit begründet hat. Es ist eine traurige Ironie der Geschichte, dass die erstaunliche Entdeckung des Neandertalers zwischen Mettmann und Erkrath nur auf Kosten der Zerstörung des Tales möglich war.
Hanna Eggerath: "Das ist die Kehrseite, ne. Wenn das Neandertal nicht abgebrochen worden wäre, wäre der Neandertaler hier nicht gefunden worden."
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