Verschickungskinder

Gewalt und Demütigungen statt Ruhe und Erholung

09:36 Minuten
Kinderverschickung: undatierte historische Aufnahme von drei Kindern mit Gepäck auf dem Rücken.
Nach Schätzungen gab es bis zu zwölf Millionen Kinder, die von ihren Eltern in guter Absicht auf Kur geschickt wurden (Symbolbild). © picture alliance / PA Wire / empics
Anja Röhl im Gespräch mit Dieter Kassel · 07.06.2021
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In den 1960er- und 70er-Jahren schickten Eltern ihre Kinder oft auf Kur. Doch in den Kurheimen wurden die "Verschickungskinder" oft gequält und gedemütigt. Betroffene wie die Autorin Anja Röhl fordern die systematische Aufarbeitung der Geschehnisse.
Sie sollten sich erholen, wieder ganz gesund werden oder an Gewicht zunehmen - doch was viele Kinder in der 1960er, 1970er- und sogar noch in den 1980er-Jahren in Kurheimen überall in Deutschland erwartete, hinterließ nur tiefe seelische Narben. Betroffene berichten von drakonischen Strafen, Prügel und schweren Demütigungen. In Nordrhein-Westfalen nimmt sich nun der Landtag des Themas an.
Erst 2019 habe die systematische Aufarbeitung des Themas begonnen, sagt Anja Röhl, Vorsitzende des Vereins "Aufarbeitung und Erforschung von Kinder-Verschickung". Seitdem seien Tausende von Betroffenenberichten gesammelt worden, von denen etliche auch auf der Webseite des Vereins einsehbar sind.

Seelische, körperliche und sexuelle Gewalt

Was Röhl berichtet, ist schlicht erschütternd: Kleine Kinder seien zur Strafe in Besenkammern gesperrt worden oder wurden mit Gewalt zum Essen gezwungen: "Die Kinder mussten manchmal eine ganze Nacht vor dem Teller sitzen."
Bettnässen, Weinen, das Nichtschlafen- und das Nichtzunehmenkönnen seien bestraft worden, sagt Röhl, unter anderem mit öffentlichen Demütigungen und Schildern um den Hals. Sie berichtet auch von körperlicher Gewalt gegen Kinder und sexuellem Missbrauch.

"Um das Bettnässen zu 'bekämpfen' bekamen wir fast nichts zu trinken, nur morgens und abends eine Tasse Pfefferminztee (den kann ich bis heute nicht riechen oder trinken). Vor lauter Durst habe ich mal mit einem anderen Mädchen morgens im Waschraum aus dem Wasserhahn getrunken. Wir wurden erwischt, vor versammelter Mannschaft im Speisesaal gedemütigt und bekamen zur Strafe an diesem Tag nichts zu trinken. Noch Jahrzehnte später habe ich aus dem Nichts heraus und völlig grundlos einen trockenen Mund bekommen und ein unerträgliches Durstgefühl.

Der große Dusch-Raum war im Keller. Einmal in der Woche wurde geduscht, dazu mussten wir uns mit dem Gesicht zur Wand stellen, während hinter uns kochend heißes Wasser aufgedreht wurde, bis der ganze Raum so mit Wasserdampf gefüllt war, dass wir keine Luft mehr bekamen. Viele Kinder haben geweint und Panik bekommen. Erst dann wurde die Wassertemperatur reguliert und wir konnten duschen. Ich habe panische Angst vor dem Dusch-Tag gehabt."
Betroffenenbericht von der Seite verschickungsheime.de

Das alles sei nicht auf einzelne Heime beschränkt gewesen, betont Röhl. Inzwischen weiß der Verein, dem sie vorsitzt, von bundesweit 1400 Heimen, in die Kinder ehemals verschickt wurden.
Doch die Anzahl sei noch weit größer, täglich kämen durch Archivrecherchen neue hinzu. Nach Schätzungen gab es bis zu zwölf Millionen Kinder, die von ihren Eltern in guter Absicht auf Kur geschickt wurden.

Isoliert und einsam

Die Opfer hätten sich mit ihren traumatischen Erfahrungen lange isoliert und einsam gefühlt und diese zumeist erst als Erwachsene im Familienkreis preisgegeben, sagt Röhl. Als Kinder hätten sie geschwiegen. Denn: "Die Kinder mussten aus den Heimen Briefe schreiben, in denen sie ihre Eltern anlügen mussten."
Das Essen schmecke gut, alles sei wunderbar, habe in den Briefen gestanden. Wenn die Kinder dann nach der Kur erzählen wollten, was passiert war, mussten sie sich zunächst erst einmal "selbst der Lüge überführen". Und das allein sei schon eine "Wahnsinnshürde" gewesen, sagt Röhl.
(ahe)

Anja Röhl: "Das Elend der Verschickungskinder"
Psychosozial-Verlag, Gießen 2021
320 Seiten, 29,90 Euro

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