Vernetzte Einzeltäter

Von Agnes Bührig · 16.07.2012
In Malmö verhandelt ein Gericht über eine Anschlagserie mit drei Morden und rechtsextremem Hintergrund. Wie beim Breivik-Prozess in Oslo geht es dabei auch um die Frage, ob das Weltbild des Angeklagten in der Gesellschaft verankert war.
Ein heller Laden am Rande der Innenstadt von Malmö. An den Wänden hängen Gestelle mit bunten Garnen, daneben ist auf Sitzhöhe ein großer runder Spiegel angebracht. Naser Yazdanpanah betreibt hier einen Friseursalon mit angeschlossener Schneiderei. Am 23. Oktober 2010 steht er am Bügelbrett und hat eine Hose in Arbeit. Da hört er einen Knall. Er glaubt zunächst an einen Stein, der durchs Fenster geflogen ist, springt wütend auf den Hof und bekommt einen Mann zu fassen, erzählt der gebürtige Iraner:

"Ich halte ihn so am Arm und frage ihn: Warum schmeißt du mit einem Stein auf mich und aufs Fenster. Er wird ungehalten und sagt: Das war ich nicht, das war ich nicht, lass mich los. Daraufhin sage ich: Hier gibt es keinen anderen Menschen, du warst das."

Später erfährt Yazdanpanah, dass es kein Stein, sondern eine Pistolenkugel war, die ihr Ziel um wenige Zentimeter verfehlte. Die Polizei sichert die Spuren zweier Geschosse, die im Fensterrahmen eingeschlagen sind. Es ist einer der zwölf Mordversuche, die dem mutmaßlichen Heckenschützen von Malmö zur Last gelegt werden.

Laut Anklage ist er dafür verantwortlich, dass Einwohner der Hafenstadt Malmö mit dunkler Hautfarbe 2010 in Angst und Schrecken leben. Demzufolge ging Peter M. mit einer militärischen Schutzweste durch die Stadt, bestückt mit Waffe und Patronen. Er zielte aus dem Hinterhalt auf Wohnungen, in denen Menschen mit ausländisch klingenden Namen wohnen, feuerte durch Autoscheiben und schoss auf ein Fitnessstudio. Immer wieder habe er Menschen mit Migrationshintergrund ins Visier genommen, so die Staatsanwaltschaft. Die Vermutung, es handele sich um die Tat eines Rechtsextremen, ist schnell zur Hand. Doch die Persönlichkeit von Peter M. ist vielschichtig, sagt Staatsanwältin Solveig Wollstad:

"Wir schauen uns nicht in erster Linie das Motiv an, sondern die Beweise, die es gibt und die eine Anklage begründen können. Natürlich reflektieren wir, wie er denkt, was er macht, was ihn zu seinen Taten angeregt haben kann. Dabei ist aber kein eindeutiges Bild herausgekommen. Im Material, das aus Computer und Mobiltelefon des Angeklagten stammt, gibt es Anzeichen für Aggression gegen Kriminelle, die bereits verurteilt wurden. Aber auch für Fremdenfeindlichkeit."

30.000 Seiten umfasst das Material der Voruntersuchung, eineinhalb Jahre dauerte die Vorbereitung auf die Verhandlung. Es ist einer der größten schwedischen Rechtsfälle seit dem Mord an Ministerpräsident Olof Palme 1986. Bis ins Jahr 2003 reichen die ersten beiden Morde zurück, die Peter M. zur Last gelegt werden.

Malmö leidet seit Jahren unter organisierter Kriminalität und regelrechten Bandenkriegen. Dass ein Heckenschütze mit fremdenfeindlichen Motiven darunter sein könnte, fiel daher zunächst nicht auf.

Auch Peter M. selbst sieht sich nicht als Rassist. Dabei finden sich im Material der Voruntersuchung deutliche Hinweise auf rechtsextremes Gedankengut, sagt Daniel Poohl, Chefredakteur der antirassistischen Zeitschrift Expo:

"Er hat selbst gesagt, dass er schon als Kind Probleme mit Einwanderern hatte. Damals sei er mit Menschen mit Migrationshintergrund in Konflikt geraten. Seitdem habe er diese negativen Gefühle. Und diese Gefühle hat er ernst genommen, indem er mehr über den Rechtsextremismus gelesen hat. Er abonnierte die Zeitschrift National heute, die von den rechtsradikalen Nationaldemokraten gegründet wurde, er hat in Internetforen über Einwanderung und die Macht der Juden geschrieben. Er ist stark antisemitisch eingestellt."

Nahezu jeder dritte Bewohner Malmös ist aus dem Ausland zugewandert oder ein Kind von Einwanderern. Viele von ihnen fühlten sich 2010 an eine ganz ähnliche Anschlagsserie Anfang der 90er-Jahre erinnert. John Ausonius machte in Stockholm und Uppsala Jagd auf vermeintliche Einwanderer. Der so genannte "Lasermann" schoss in sechs Monaten mit einer Waffe mit Laser-Zielvorrichtung auf elf Menschen, tötete einen von ihnen und fügte vielen großes Leid zu. Bei seiner Verurteilung zu lebenslanger Haft nannte Ausonius seinen Hass auf Ausländer als Motiv.

Schweden wird damals von einer schweren Wirtschaftskrise geschüttelt, 1991 zieht die rechtspopulistische Partei "Neue Demokratie" in den Reichstag ein. Die Rechtsextremen sind auf dem Vormarsch und agieren vor allem lokal. Wichtige Hochburgen haben sie in den südlichen Provinzen des Landes, sagt Daniel Poohl:

"Mitte der 80er Jahre kamen viele Flüchtlinge nach Schweden, vor allem wegen des Krieges zwischen Irak und Iran. Eine ganze Reihe von Hafenstädten in Schweden bekamen extrem viele Asylsuchende zugewiesen. Sie mussten Containersiedlungen und Baracken errichten. Eine regionale Partei hatte Erfolg mit einer Volksbefragung, die mehr Einwanderung ablehnte. Das wurde dann zur Symbolfrage für ganz Schweden und trug dazu bei, dass die rechtspopulistische 'Neue Demokratie' in den Reichstag einzog."

Es sollte ein kurzes Gastspiel werden. Die Wirtschaftskrise flaut ab, die Rechtspopulisten verlieren ihr zentrales Thema. Nach einer Legislaturperiode sind sie wieder raus aus dem Parlament. Gleichzeitig wächst eine Partei, die ihre Wurzeln in der Ideologie von Faschismus und Nazismus hat, heran. Die "Schwedendemokraten". Im Laufe der Zeit verändern sie ihr Erscheinungsbild: Statt Bomberjacken und kahlen Schädeln wählen sie Anzug und Kurzhaarschnitt. Statt zu Gewalt aufzurufen, versuchen sie sich am politischen Diskurs. 2010 ziehen sie ins Parlament ein.

Der jugendliche Parteichef, Jimmie Åkesson, Jahrgang 1979, preist am Wahlabend im Herbst 2010 den Einzug der "Schwedendemokraten" ins Parlament als historischen Sieg. Seit 2005 führt er die Partei. Mitte der 80er-Jahre ist sie im Milieu der neonazistischen White Power-Bewegung und ihrer jugendlichen Skinhead-Subkultur entstanden.

Nach einer Serie von Misserfolgen hat sie sich ein neues, weicheres Profil verordnet. Forderungen wie etwa den Ruf nach der Todesstrafe haben sie kassiert, um die Angriffsfläche zu vermindern. Den Zuzug von Einwanderern wollen sie jetzt zugunsten einer besseren Integration der bereits im Land befindlichen Einwanderer drastisch begrenzen. Auf Gewaltdelikte sollen härtere Strafen folgen.

Der typische Wähler der "Schwedendemokraten" ist laut Demoskopen jung, männlich, arbeitslos und auf dem Lande wohnhaft. Der Flirt mit den Ultrarechten sei gleichwohl mehr als nur Protest, sagt Daniel Poohl: Im vermeintlich toleranten Schweden gebe es seit Jahren ein festes Wählerpotential für fremdenfeindliche Parteien. Viele Wähler fühlen sich weder vom linken noch vom bürgerlichen Parteienblock vertreten. Die "Schwedendemokraten" stellen sich heute als eine ernsthafte Alternative dar. Sie werden gewählt, weil sie Rassisten sind. Man stimmt ihrer Ansicht zu, dass die multikulturelle Gesellschaft von Übel ist.

Schweden ist in Bezug auf die Rechtspopulisten in Skandinavien kein Einzelfall. In Dänemark konnte die Dänische Volkspartei bis zum Amtsantritt der Sozialdemokratin Helle Thorning-Schmidt 2011 in den vergangenen Jahren ihre fremdenfeindliche Einwanderungspolitik durchsetzen. In Finnland errangen die einwanderungskritischen "Wahren Finnen" bei der Parlamentswahl im Frühjahr 2011 knapp ein Fünftel der Stimmen. Und in Norwegen gibt es mit der FRP ebenfalls eine rechtspopulistische Reichstagspartei. Allerdings ist sie keinesfalls mit der sehr viel radikaleren Dänischen Volkspartei zu vergleichen, sagt der Journalist Harald Stanghelle von der Tageszeitung Aftenposten in Oslo:

"Es wäre ganz falsch, die Fortschrittspartei mit den "Schwedendemokraten", Le Pens Partei in Frankreich, Geert Wilders in den Niederlanden oder der Freiheitlichen Partei Österreichs des Jörg Haider zu vergleichen. Es ist eine Partei, die einwanderungskritisch ist. Sie hat aber ein größeres politisches Spektrum, das darüber hinaus geht. Sie ist politisch nicht so weit rechts angesiedelt wie die Parteien, die ich genannt habe."

Welche Stellung die Rechtsextremen in Norwegen heute haben, wird im Antirassistischen Zentrum in Oslo erforscht. Die unabhängige Organisation, die aus staatlichen Mitteln finanziert wird, wurde 1978 gegründet, um dem zunehmenden Rassismus Einhalt zu gebieten. Bis heute setzt sie sich dafür ein, Diskriminierung zu bekämpfen.

An diesem Nachmittag steht Jobb X auf dem Programm, ein Angebot, das Einwanderern bei der Jobsuche hilft. Somia Salaouatchi, das Gesicht von einem fliederfarbenen Schleier eingerahmt, hilft Achmed aus Somalia mit dem richtigen Aufbau seines Lebenslaufs. Rassismus gibt es in Norwegen, doch er zeigt sich nicht so offen, sagt die 24-Jährige:

"Es ist gerade ein Bericht herausgekommen, der besagt, dass die Chancen bei Bewerbungen schlechter sind, wenn man einen ausländisch klingenden Namen hat. Man bekommt dann weniger Einladungen zum Vorstellungsgespräch."

Als klar wurde, dass der Täter der Terroranschläge vom 22. Juli kein Muslim war, machte sich unter ihren Kursteilnehmern Erleichterung breit, erzählt Salaouatchi. Anders Behring Breivik kommt aus der Mitte der Gesellschaft. Seine Verbündeten fand er im Internet. Unbeobachtet vom Geheimdienst zimmerte er sich sein krudes faschistisches Weltbild zusammen. Denn die Bedrohung, die vom Rechtsextremismus in Norwegen derzeit ausgeht, ist gering, so der Jahresbericht des norwegischen Geheimdienstes 2012. Shoaib Sultan, Experte für Rechtsextremismus beim Antirassistischen Zentrum, kann dies bestätigen:

"In Norwegen sprechen wir oft von drei verschiedenen Gruppen von Rechtsextremen. Auf der einen Seite hast du die Neonazis. Die gibt es, es sind wenige, sie sind schlecht organisiert. Dann hast du die Rassisten, die meinen, dass Menschen mit anderer Hautfarbe nicht hier sein sollten, sie seien unterentwickelt. Diese Gruppe ist größer, ihre Ansichten sind aber nicht stubenrein. Du kannst nicht rumlaufen und sagen, dass du Leute mit anderer Hautfarbe nicht magst. Da bekommst du Contra von der Gesellschaft. Die dritte Gruppe, das sind diejenigen, die islamfeindlich sind. Für viele von ihnen ist diese Haltung ein Ventil. Sie benutzen das als Deckmantel für ihren Rassismus."

Ob Anders Behring Breivik einer dieser Gruppen angehört oder ob er psychisch krank war, diese Frage nahm einen Großteil des Prozesses gegen den norwegischen Massenmörder ein. Im Verlauf der Verhandlung wurde immer deutlicher, dass es sich um einen Einzeltäter handelt, der seine Ideologie aus dem Internet bezieht. Genau wie Peter M. aus Malmö, den er, neben der deutschen Terrorzelle NSU und der Al Kaida, lobend erwähnt.

"Die meisten, die Breivik inspiriert haben, sind nicht in Norwegen. Sie dienen als Vitalisierungswerkzeug. Das sieht man auch auf der anderen Seite, wenn junge Muslimen durch Hassvideos radikalisiert werden. Bei Menschen, die sie im Netz treffen, da können wir klare Parallelen finden. Auch, wenn man ihn als einsamen Wolf sieht in Norwegen, so hatte er viel Kontakt mit anderen Menschen im Netz, bekam Antwort auf seine hasserfüllten Beiträge."

Breiviks Verteidiger luden Zeugen wie den islamkritischen Blogger Peder Jensen alias Fjordman oder den Islamisten Mullar Krekar als Zeugen vor. Damit sollte bewiesen werden, dass Breiviks Thesen von der Islamisierung der Gesellschaft in Norwegen einen Nährboden haben und der Angeklagte nicht psychisch krank ist. Doch einer nach dem anderen sagte ab. Und die, die kamen, schrien ihre Hassparolen heraus oder beklagten, dass sie zu wenig Raum in den Medien erhalten. Dass der Islam eine reelle Bedrohung ist, konnte nicht vermittelt werden. Gleichwohl existiert sie in der Phantasie vieler, sagt der norwegische Historiker Tor Bomann-Larsen:

"Es gibt keinen Feind. Wir haben es hier mit einem Mann zu tun – und dieser Mann an sich ist total uninteressant. Aber seine Fantasiewelt, seine Vorstellung, die gibt es da draußen. Sie spielt mit den Ängsten, die die Themen Islam und Einwanderung in der norwegischen Gesellschaft hervorrufen."

Und so verwundert es nicht, dass die Frage im Prozess zentral ist, ob Breiviks Ideologie etwas mit den Verhältnissen in Norwegen zu tun hat oder ob er ein psychisch Kranker ist, der in einer Phantasiewelt lebt. Etliche der medizinischen Sachkundigen halten ihn für einen Asperger-Patienten. Genau wie Peter M. Der mutmaßliche Heckenschütze von Malmö nutzt seine Autismus-Diagnose, um der Polizei zu erklären, dass er ihren Fragen nicht folgen kann. Letztendlich haben die Anschläge genau das Gegenteil von dem bewirkt, was sie erreichen sollten, sagt Tor Boman-Larsen:

"Die Terrorhandlungen haben die Integration befördert. Das ist vielleicht auf lange Sicht das Wichtigste dieser Tragödie, dass es zum ersten Mal in der norwegischen Geschichte ein gemeinsames, dramatisch und zugleich sehr historisches Ergebnis gab, das die Einwanderer in Norwegen als ein Teil des Landes mit eingeschlossen hat. Dass ethnische Norweger und Einwanderer vereint waren gegen einen gemeinsamen Feind mit einer hasserfüllten Ideologie. Für die Jugendorganisation der AUF ist das ein Nachlass, der sie eint, wo Norwegen zusammensteht. Das wird auf lange Sicht eine prägende Erfahrung bleiben."
Mehr zum Thema