Vernachlässigte Geschichte

Rezensiert von Eva Karnofsky · 12.07.2009
Über ein Dutzend Bücher hat der lateinamerikanische Schriftsteller und Journalist Eduardo Galeano fast ausnahmslos seinem Kontinent gewidmet. Mit "Fast eine Weltgeschichte - Spiegelungen" geht er einen Schritt weiter: Er beschäftigt sich mit der Weltgeschichte und Themen, die in der öffentlichen Wahrnehmung für ihn bisher zu kurz kamen.
Eduardo Galeano beweist mit "Fast eine Weltgeschichte" wieder einmal, dass er sein Metier beherrscht. Er kann erzählen, schreibt eingängig, geschliffen und niemals langweilig, er ist ein Meister der Ironie, des schwarzen Humors sowie der ungewöhnlichen Vergleiche und er versteht es vor allem, die Dinge mit der Aneinanderreihung von kleinen Geschichten, Aphorismen und Aperçus auf den Punkt zu bringen. Unter der Überschrift "Kurze Geschichte der Zivilisation" etwa heißt es:

"Die Ergebnisse der Zivilisation waren überraschend: Unser Leben war sicherer, doch weniger frei, und wir arbeiteten viele Stunden mehr."

Galeano weist sich zudem als fanatischer Leser nicht nur von Zeitungen aus, sondern auch von griechischer, ägyptischer, sumerischer oder aztekischer Geschichte und Mythologie. Auch die Bibel und der Koran sind ihm keinesfalls fremd. Als journalistischer Weltreisender hat er vielerorts genau hingeschaut und mit vielen Menschen gesprochen - und nicht nur mit den Mächtigen. Kurz: Er wäre gerüstet, um eine Weltgeschichte zu schreiben. Doch er schreibt nur fast eine solche, und nicht nur, weil er keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt: Eduardo Galeano geht es vielmehr darum, den Blick auf Themen zu lenken, die in der Weltgeschichte bislang zu kurz kamen. Der Uruguayer möchte vor allem auch die eurozentrische Perspektive ändern.

"Europa sah die Welt, indem es in den Spiegel schaute. Dahinter lag nichts als das Nichts. Die drei Erfindungen, die die Renaissance möglich machten, der Kompass, das Schießpulver und die Kunst des Buchdrucks, kamen aus China. Die Babylonier hatten Pythagoras tausendfünfhundert Jahre vor ihm angekündigt. Viel früher als irgendjemand sonst hatten die Inder gewusst, dass die Erde rund war, und hatten ihr Alter berechnet. Und viel besser als irgendjemand anders kannten die Mayas die Sterne, die Augen der Nacht, und die Geheimnisse der Zeit. Diese Kleinigkeiten waren nicht der Beachtung wert."

Und er geißelt den Rassismus nicht nur, er führt ihn ad absurdum.

"Jetzt haben wir, Frauen und Männer, Regenbogen der Erde, mehr Farben als der Regenbogen des Himmels; doch sind wir alle ausgewanderte Afrikaner. Noch die weißesten Weißen kommen aus Afrika."

Jahrhundertelang wurde Geschichte vor allem von Männern geschrieben und sie haben die Rolle der Frau dabei meist vergessen. Dies ist zwar keine neue Erkenntnis mehr, denn die Feministinnen haben inzwischen begonnen, dies zu ändern, doch Galeano springt ihnen bei. Er klagt die Unterdrückung und Diskriminierung der Frauen in den verschiedenen Kulturen bis in die heutige Zeit an.

"Jordanisches Familienbildnis - Eines Tages im Jahre 1989 kam Yasmin Abdullah weinend nach Hause. Sie konnte nur noch stammeln: ‚Ich bin keine Jungfrau mehr.’ Sie war ihre ältere Schwester besuchen gegangen. Der Schwager vergewaltigte sie. Yasmin wurde ins Gefängnis von Jweidah gebracht, bis der Vater sie herausholte, wobei er die entsprechende Kaution bezahlte und sich verpflichtete, gut auf sie aufzupassen. Zu dem Zeitpunkt hatten bereits der Vater, die Mutter, die Onkel und Tanten und siebenhundert Nachbarn in einer Versammlung beschlossen, dass die Familienehre mit Blut reingewaschen werden musste. Yasmin war sechzehn Jahre alt. Ihr Bruder Sarhan schoss ihr viermal in den Kopf."

Galeano klagt den Machismo an, macht ihn auch immer wieder lächerlich, aber er wäscht die Frauen auch nicht gänzlich rein von Schuld, sind sie doch immer wieder diejenigen, die dem Machismo applaudieren oder ihn zumindest hinnehmen.

Cover "Fast eine Weltgeschichte" von Eduardo GaleanoMisshandlung von Kindern, Missbrauch der Umwelt, Sklaverei und wirtschaftliche Ausbeutung von Männern, Frauen oder Ländern, jegliche Form von Krieg und Gewalt, von Tyrannei und Diktatur oder die längst nicht immer rühmliche Rolle der katholischen Kirche in den letzten beiden Jahrtausenden sind die wichtigsten Leitgedanken, die sich wie ein roter Faden durch Galeanos Geschichtsbetrachtungen ziehen. Es geht ihm dabei nicht darum, sich der Objektivität auch nur anzunähern: Er will vielmehr einseitig sein, um wachzurütteln, aber auch, um der offiziellen Geschichte, der Geschichte der Europäer, der Männer, der wirtschaftlich und politisch Mächtigen die Geschichte derer entgegen zu halten, die unter ihnen zu leiden hatten oder haben. Und so mögen einem Historiker gelegentlich die Haare zu Berge stehen, etwa, wenn Galeano den argentinischen Präsidenten Domingo Faustino Sarmiento nur als Rassisten und Mörder von Indigenen und Schwarzen charakterisiert und nicht auch als den Mann, der seinem Land im 19. Jahrhundert ein Bildungssystem bescherte. Und es geht der Revolutionsromantiker mit Galeano durch, wenn er über die Feinde von Fidel Castros Kuba schreibt:

"Sie sagen nicht, dass trotz der Angriffe von außen und der Willkür im Innern, diese Insel, die so viel erlitten hat und doch hartnäckig fröhlich bleibt, die am wenigsten ungerechte Gesellschaft Lateinamerikas geschaffen hat."

Der Autor vergisst, dass in Kuba Gerechtigkeit nur demjenigen widerfährt, der seinem Helden Castro huldigt. Und es muss die Frage erlaubt sein, ob es gerecht ist, dass am Existenzminimum lebt, wer nicht Hilfe aus dem geschmähten Feindesland erhält.

Dennoch: Wer Spaß hat an historischen Zuspitzungen, die gelegentlich an historisches Kabarett grenzen und von Lutz Kliche hervorragend übersetzt wurden, wird von Eduardo Galeanos neuestem Buch bestens bedient.

Eduardo Galeano: Fast eine Weltgeschichte – Spiegelungen
Aus dem Spanischen von Lutz Kliche.
Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2009,
460 Seiten, 24 Euro