Vermisste Kinder

"Zeit ist der wichtigste Faktor"

Der Schatten einer Familie, die sich an der Hand hält.
Der Internationale Tag der vermissten Kinder erinnert an Langzeitvermisste © picture-alliance / dpa / Markus C. Hurek
Lars Bruhns im Gespräch mit Ute Welty · 23.05.2015
Schnell und koordiniert öffentlich fahnden ist entscheidend bei der Suche nach einem verschwundenen Kind, sagt Lars Bruhns, Vorsitzender der "Initiative Vermisste Kinder“. Er fordert eine zentrale Spezialeinheit der Polizei nach polnischem Vorbild.
Um die schnelle öffentliche Fahndung nach vermissten Kindern zu verbessern, spricht sich Lars Bruhns, Vorsitzender der "Initiative Vermisste Kinder", dafür aus, in Deutschland eine zentrale Spezialeinheit der Polizei zur Öffentlichkeitsfahndung aufzubauen.
"Zeit ist der wichtigste Faktor in Vermisstenfällen", sagte Bruhns im Deutschlandradio Kultur. Frühe Hinweise aus der Bevölkerung seien zur Rettung des Lebens eines Kindes oft entscheidend. "Wir bräuchten eigentlich eine zentrale Einheit der Polizei, die letztlich (...) in Fällen, wo eine Entführung für möglich gehalten wird, in Stunden die Bevölkerung alarmiert."
Optimierungsbedarf der Polizeiarbeit nach polnischem Vorbild
Anlässlich des internationalen Tages der vermissten Kinder am Pfingstmontag versuche die Initiative diesen "Optimierungsbedarf der Polizeiarbeit deutlich zu machen", sagte Bruhns und verwies auf das polnische Modell. Die Suche nach verschwundenen Kindern werde seit zwei Jahren zentral in Warschau von einer speziellen Experteneinheit koordiniert, die sich um Vermisstenfälle in ganz Polen kümmere. Im vergangenen Monat sei ein Alarm landesweit ausgelöst und eine Entführung erfolgreich gestoppt worden. Der Fall, bei dem das Kind über die deutsch-polnische Grenze gebracht wurde, zeige auch einen grenzübergreifenden Bedarf nach schneller Alarmierung der Öffentlichkeit.
Fall Inga aus Sachsen-Anhalt bleibt Einzelfall
Trotz der hohen Fallzahlen von 100.000 Kindern, die in Deutschland jedes Jahr bei der Polizei vermisst gemeldet würden, kehrten die allermeisten nach kurzer Zeit selbst zurück oder würden wohlbehalten wieder gefunden. Fälle wie der der fünfjährigen Inga aus Sachsen-Anhalt, deren Schicksal bislang ungeklärt ist, seien Einzelfälle.
Kategorie "Ausreißer" hinterfragen
Allerdings warnte Bruhns vor der vorschnellen Kategorisierung eines verschwundenen Kindes als "Ausreißer". Als Beispiel nannte er einen Fall aus Niedersachsen: Eine Vierzehnjährige sei zunächst in diese Kategorie eingeordnet worden. Sie sei aber, ebenso wie ein weiteres Kind, von einem Mann aus der Gemeinde getötet worden: "Das zeigt auch die Schwierigkeit, wie in jedem Einzelfall eine Bewertung neu vorgenommen werden muss", so der Vorsitzende des Vereins "Initiative Vermisste Kinder", die seit 1997 betroffene Familien berät, Hilfe koordiniert und unter anderem die Facebook-Seite "Deutschland findet euch" betreibt. Außerdem ist die Initiative in Deutschland zuständig für die europäische Notrufhotline 116 000.
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Das vollständige Interview im Wortlaut:
Ute Welty: Die Lebens- und Leidensgeschichte von Natascha Kampusch ist raus aus den Schlagzeilen, aber sie wird die junge Frau und ihre Familie ewig begleiten: Zehn Jahre lang war Natascha Kampusch gefangengehalten worden, zehn Jahre lang war sie vermisst worden. An das Schicksal von vermissten Kindern erinnert jedes Jahr der internationale Tag der vermissten Kinder, initiiert 1983 vom damaligen amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan, und in Deutschland wird dieser Tag inzwischen von der Initiative Vermisste Kinder organisiert. Lars Bruhns ist der Vorstand der Initiative. Guten Morgen!
Lars Bruhns: Ja, guten Morgen, Frau Welty!
Internationaler Tag der vermissten Kinder erinnert an Langzeitvermisste
Welty: Was planen Sie für den diesjährigen Tag der Vermissten Kinder, für diesen Pfingstmontag?
Bruhns: Ja, in diesem Jahr ist es natürlich so, dass der Fall der vermissten Inga aus Stendal vieles überschattet und natürlich auch unsere Planung für den Tag der Vermissten Kinder anders gestalten lässt als sonst in den Jahren. Grundsätzlich ist es ja so, dass wir gerade an diesem Tag versuchen, auf das Schicksal vermisster Kinder aufmerksam zu machen, auch in der medialen Berichterstattung. In diesem Jahr ist das Thema vermisste Kinder auf der medialen Agenda. Und natürlich versuchen wir auch, gerade zu diesem Tag Optimierungsbedarf auch in der Polizeiarbeit deutlich zu machen. Auf der anderen Seite erinnern wir natürlich auf all unseren Kanälen und auch über die sozialen Medien gerade auch an die langzeitvermissten Kinder.
100.000 Kinder und Jugendliche werden jährlich vermisst - die meisten aber nur kurz
Welty: 100.000 Vermisstenanzeigen gehen jedes Jahr bei der Polizei ein, wobei sich die meisten relativ schnell erledigen, weil die Kinder wieder auftauchen oder gefunden werden. Was muss passieren, damit sich ein solcher Fall schnell aufklären lässt, und was können Eltern dazu beitragen?
Bruhns: Es ist genau richtig, dass es halt eine sehr hohe Fallanzahl in Deutschland gibt von über 100.000 Kindern und Jugendlichen, die pro Jahr vermisst werden. Also so ein Fall wie der kleinen Inga sind letztendlich Einzelfälle. Sie haben tatsächlich sehr viele Fälle, wo Kinder und Jugendliche freiwillig von zu Hause weggehen und dann auch schnell wohlbehalten zurückkehren. Letztlich ist es natürlich gerade wichtig, ...
Welty: Das, was man früher mal „ausgerissen" nannte.
Kategorie "Ausreißer" hinterfragen
Bruhns: Ganz genau richtig, und der Begriff ist natürlich ganz schwierig. Es gab beispielsweise in 2010 einen Fall in Niedersachsen, in Bodenfelde, wo ein 14-jähriges Mädchen zum Wochenende hin vermisst wurde, Nina, nach einem Streit mit den Eltern, und im Prinzip in diese Kategorie „Ausreißer" gestellt wurde. Anfang der Woche wurde dann ein 13-jähriger Junge aus derselben Ortschaft vermisst. Letztlich wurden beide Kinder tot aufgefunden, von einem Mann aus dieser Gemeinde getötet. Und das zeigt halt auch die Schwierigkeit, wie sehr genau eine Bewertung in jedem einzelnen Vermisstenfall neu vorgenommen werden muss. Und um auf die Frage zurückzukehren: Letztlich ist die Zeit eigentlich der wichtigste Faktor in Vermisstenfällen, und Sie bräuchten eigentlich eine zentrale Einheit der Polizei, die letztlich diese Bewertung in jedem Fall vornimmt und dann auch tatsächlich in solchen Fällen, wo eine Entführung für möglich gehalten wird, innerhalb von Stunden die Bevölkerung alarmiert, denn letztlich ist es eigentlich nur ein Zeugenhinweis, der oftmals in diesen Fällen zur Aufklärung und dann tatsächlich in diesen dramatischen Fällen auch zur Rettung des Lebens des Kindes beitragen kann.
Welty: Würden Sie sagen, dieses Nicht-Ernst-Genommen-Werden, abgesehen mal von dem Faktor Zeit, ist die größte Gefahr für das Kind, was dann verschwunden ist?
Vorbild Polen mit zentraler Polizei-Einheit für Vermisstenfälle
Bruhns: Sicherlich. Das ist ein ganz klares Faktum. Und es gibt in Polen beispielsweise seit mittlerweile zwei Jahren eine spezielle polizeiliche Einheit, die sich in Warschau ausschließlich dort bei der zentralen Polizeieinheit um Vermisstenfälle in ganz Polen kümmert und diese einzeln bewertet. Und im vergangenen Monat gab es dort den ersten Vermisstenfall, wo ein landesweiter Alarm ausgelöst wurde, es war ein zehnjähriges Mädchen, Maja, die direkt in der Nähe der deutsch-polnischen Grenze vermisst wurde, und wenn man sich diesen Fall anschaut: Ganz Polen war alarmiert über den Fall, die polnische Polizei ging davon aus, dass das Kind entführt wurde und vermutlich in Richtung Deutschland entführt wurde. Letztlich wurde das Kind auch auf deutscher Seite aufgefunden, ausschließlich dem Umstand geschuldet, dass der Entführer einen Verkehrsunfall gebaut hat und jemand aus der Ortschaft Friedland in Mecklenburg-Vorpommern die Polizei wegen des Unfalls gerufen hat. In diesem Auto befand sich dann der Entführer und das Kind. Der Mann war auch vorbestraft, weil er schon mal versucht hatte, im Ausland ein Kind zu entführen. Das zeigt so ein bisschen die Schwierigkeit und auch den Optimierungsbedarf, dass natürlich auch beidseitig innerhalb europäischer Grenzen dann so eine Alarmierung durchgeführt werden müsste.
Welty: Welche Hilfestellung können Eltern in Anspruch nehmen, die dann in einer solchen Situation sind? Also ihr Kind ist verschwunden, sie warten auf Infos, auf eine mögliche Aufklärung. Haben die irgendeine Variante, ja auch psychologische Hilfe in Anspruch nehmen zu können?
Große psychische Belastung für alle Beteiligten
Bruhns: Also es ist natürlich auch so jetzt in dem aktuellen Fall der vermissten Inga, dass die Eltern sehr eng dort auch von einem Kriseninterventionsteam betreut werden, es sind natürlich nicht nur die Eltern, sondern auch die Geschwisterkinder. Und ich erinnere da auch eine Begebenheit, die mir ein Polizist, der dort vor Ort war über die Tage, auch als die Suche dort stattgefunden hat in Wilhelmshof, erzählt hat, wie sehr ihn selbst die Situation betroffen hat, und er hat mir einen Umstand geschildert, dass er als Letzter von diesem Wilhelmshof im Prinzip dort die Örtlichkeit verlassen hat und die Schwester von Inga dort noch auf dem Weg stand, und wie betroffen ihn im Prinzip diese Situation auch als Familienvater selbst gemacht hat. Also es ist eine Belastung für alle Beteiligten, sicher auch für die ganzen Polizeikräfte und andere Einsatzkräfte vor Ort.
Welty: Keine einfache Aufgabe. Lars Bruhns von der Initiative Vermisste Kinder vor dem internationalen Tag der vermissten Kinder am Pfingstmontag. Ich danke für dieses Gespräch und ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei Ihrer Arbeit!
Bruhns: Ja, danke, Frau Welty!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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