Vermeintliches Paradies Europa

Moderation: Klaus Pokatzky · 13.05.2013
Der schweizerisch-tunesische Schriftsteller Amor Ben Hamida erzählt in "Aufgetaucht – zum Paradies via Lampedusa" vom Schicksal zweier Männer. Er appelliert an die jungen Tunesier, sich etwas in ihrer Heimat aufzubauen und unterstützt sie dabei auch ganz praktisch.
Klaus Pokatzky: Lampedusa – der Literaturfreund verbindet damit den großen italienischen Schriftsteller Giuseppe Tomasi di Lampedusa mit seinem Roman "Der Leopard", Filmfreundinnen denken an Luchino Viscontis Verfilmung des Romans, wenn sie Lampedusa hören. 20 Quadratkilometer ist sie groß, mit 4500 Einwohnern. Politiker denken bei Lampedusa daran, dass hier Bootsflüchtlinge vor allem aus Tunesien landen, als Tor zur Europäischen Union. "Aufgetaucht – zum Paradies via Lampedusa" hat der Schriftsteller Amor Ben Hamida sein neues Buch genannt. Ihn begrüße ich nun im Studio in Zürich, willkommen! Oder Ahlan wa sahlan!

Amor Ben Hamida: Ahlan wa sahlan!

Pokatzky: Herr Hamida, seit Ihrem elften Lebensjahr wohnen Sie in der Schweiz, Sie sind heute Schweizer und tunesischer Staatsbürger. Wer sollte Ihr Buch über die tunesischen Bootsflüchtlinge eher lesen, die Schweizer oder die Tunesier?

Hamida: Also, ich glaube, im Moment peile ich eher die Schweizer an, weil wir hier ja ziemliche Probleme mit dieser Situation haben. Aber ich wünsche mir sehr, dass vor allem diese Kandidaten, die ja immer noch warten auf eine Gelegenheit, nach Lampedusa zu gehen, dieses Buch auch irgendwann lesen.

Pokatzky: Wenn Sie sagen Kandidaten, meinen Sie die Tunesier, die jungen tunesischen Männer.

Hamida: Ja, die jungen Tunesier, die schon in den Startlöchern sind immer wieder, leider. Und wir haben jetzt in der Schweiz alleine jetzt wieder ein paar Hundert seit Januar, die Asyl gesucht haben. Das wünsche ich mir, dass die das lesen, und ich tue auch etwas dafür, ich lese ja auch in Tunesien und versuche, diese Leute zu erreichen, weil die Katastrophe ist langsam wirklich bedenklich.

Pokatzky: Sie beschreiben das, was Sie jetzt Katastrophe nennen, vor allem aus zwei Perspektiven: Da gibt es einmal Ali, der ertrinkt auf dem Weg nach Europa im Mittelmeer, und Mokta kommt durch bis nach Zürich und ist da von diesem Paradies Europa doch so enttäuscht, dass er nach Tunesien zurückkehrt, am Ende des Buches dann doch vielleicht wieder nach Europa will. Wie haben Sie das alles recherchiert, das klingt nicht nur nach Zeitungslektüre?

Hamida: Nein, das sind wirklich echte Geschichten. Ich durfte ja auch für eine große Schweizer Zeitung hier zwei Jungs unten interviewen, die genau einen solchen Weg gemacht haben.

Pokatzky: Was heißt zwei Jungs unten?

Hamida: In Tunesien. Also, eigentlich habe ich sogar in der eigenen Familie Cousins, die Kinder haben, die es versucht haben. Also, dieses Thema betrifft uns alle Tunesier, es gibt kaum einen Tunesier, der nicht sagen kann, in seinem Dorf, in seiner Stadt, in seiner Verwandtschaft ist niemand nach Lampedusa gegangen. Also, es ist ein flächendeckendes Problem und darum habe ich dies wirklich an Ort und Stelle recherchiert in Tunesien. Und natürlich weil ich hier mit Asylsuchenden auch Kontakt hatte in der Schweiz, konnte ich diese zwei Geschichten erzählen. Das einzig Fiktive daran ist, dass der Ali ertrinkt und trotzdem vom Mittelmeer herauf seine Warnungen an seine Freunde schickt.

Pokatzky: Vom Boden des Mittelmeers als Ertrunkener. Und die tunesische Telekom schickt ihm dann zurück, dass er im Moment keinen Anschluss hat.

Hamida: Genau.

Pokatzky: Sie entzaubern das Paradies Europa. Warum machen sich jedes Jahr doch Zehntausende junger Tunesier auf den Weg in dieses vermeintliche Paradies, woraus die Europäer sie ja doch so gerne wieder vertreiben wollen?

Hamida: Ja, warum machen sie das, obwohl ja heute im Gegensatz zu Ben Alis Zeiten die Bilder bis nach Tunesien, bis in die Fernsehschirme Tunesiens kommen, diese Bilder von Ertrunkenen, von schwarzen Säcken am Strand und so weiter. Ich glaube einfach, dass ein Hoffnungsschimmer immer kommt, wenn jemand aus Marseille schreibt: Hey, Freunde, ich arbeite jetzt illegal und unversichert und so weiter für ein paar Hundert Euro in einem Restaurant als Tellerwäscher! Das gibt wieder so eine Riesenmotivation für Tausende wieder. Niemand denkt wirklich lange darüber nach, was ist mit all den Leuten, den jungen Menschen passiert, die eben nicht angekommen sind oder irgendwo in Parks schlafen und seit zwei, drei Jahren in Europa herumirren.

Pokatzky: Was erwartet die denn ganz genau nach Ihren Recherchen in diesem vermeintlichen Paradies Europa, wenn sie dort angekommen sind? Wie werden sie wirklich behandelt?

Hamida: Die Behandlung ist ja eigentlich vielleicht auch so ein Motiv für junge Tunesier, die absolut nichts mehr haben. Ich habe ja auch ein gewisses Verständnis für die Lage, die haben nichts. Sie haben nur noch Schulden und Probleme und wollen einfach nur hinaus. Sobald sie ankommen in Lampedusa, werden sie natürlich korrekt behandelt, sie werden in Zwischenlager gebracht und von dort aus können sie sich teilweise bewegen. Und dann ergreifen sie die Gelegenheit und wandern dann hinauf nach eben Schweiz, Frankreich, teilweise auch Deutschland, Österreich.

Pokatzky: Legal oder illegal?

Hamida: Illegal selbstverständlich. Weil ein Asylsuchender nach Dublin- und Schengen-Abkommen, der ist ja eigentlich in dem Land, wo er Asyl angesucht hat, muss er warten, bis er einen Bescheid bekommt. Aber alle wissen ausnahmslos, dass es für Tunesier keinen positiven Asylbescheid gibt. Gibt es nicht! In der Schweiz hatten wir von zweieinhalb Tausend Gesuchen zwei, die vorübergehend aus humanitären Gründen aufgenommen wurden!

Pokatzky: Und was passiert mit denen, die dann abgelehnt werden als Flüchtlinge?

Hamida: Das ist genau das Problem, dass man ihnen ja eine gewisse Frist zur Abreise gibt. Das sind zwar nur fünf Tage, aber viele, sehr viele tauchen dann eben unter, wandern weiter. Ich habe Leute kennengelernt, die sind seit vier, fünf Jahren in Europa, waren also schon vor der Revolution hinausgefahren mit diesen Booten. Und sie verstecken sich ganz einfach. Sie werden niemals eine Arbeit bekommen, das ist zumindest nach Schweizer Migrations- und Asylgesetz unmöglich, eine Bewilligung zu bekommen!

Wanderschaft durch Europa

Pokatzky: Was heißt Abreise, Abreise wohin, wohin müssen sie dann abreisen? Nach Tunesien?

Hamida: Eigentlich sagt das Gesetz oder der Brief, den dann das Bundesamt für Migration hier schickt, das Land verlassen, also die Schweiz verlassen. In die Schweiz kommen ja kaum Asylsuchende direkt per Flugzeug, die kommen alle über Italien, Frankreich, vielleicht Deutschland auch. Also heißt es: Geh, wohin auch immer, aber geh! Und die meisten wollen nicht nach Tunesien, weil sich eben die Lage leider nach zwei Jahren, wie es übrigens alle schon vorausgesehen haben, noch nicht verbessert hat. Also sagen sie sich, was will ich in Tunesien, da gehe ich lieber wieder nach Italien zurück, dort komme ich nämlich her, und schlage mich wieder ein paar Monate dort durch. Und irgendwann versuche ich, vielleicht in ein anderes Land zu gehen! Also, darum sage ich Tragödie, wirklich eine Wanderschaft durch Europa.

Pokatzky: In Deutschlandradio Kultur der schweizerisch-tunesische Schriftsteller Amor Ben Hamida über sein neues Buch, "Aufgetaucht – zum Paradies via Lampedusa", das tunesische Bootsflüchtlinge auf dem Weg zum vermeintlichen Paradies Europa schildert. Herr Hamida, Harrag werden die Flüchtlinge genannt, das kommt vom arabischen Wort für brennen, das sind also Durchbrenner, andere sagen auch Deserteure zu ihnen. In Tunesien scheinen die jungen Männer, die nach Europa wollen, offenbar keinen guten Ruf zu haben?

Hamida: Nicht mehr. Wissen Sie, vor der Revolution, da hatte man ja Verständnis, wenn jemand vor Ben Ali, vor dem Regime, Studenten … Ich kenne auch in der Schweiz einige, die vor 20 Jahren Asyl angesucht haben und erhalten haben, aus politischen Gründen. Aber heute sagen sehr viele Tunesier, wieso fliehen die Leute heute, genau wo sie eigentlich ihr Land wieder aufbauen sollten? Aber wir haben eine enorm hohe Arbeitslosigkeit in Tunesien.
Pokatzky: Bei 20 Prozent?

Hamida: Ja, unter den jugendlichen, teilweise sehr gut ausgebildeten Leuten. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, sehr wenige gut Ausgebildete sind dann geflüchtet, es sind mehrheitlich Leute, die wirklich in Tunesien schon keine Chance hatten auf dem Arbeitsmarkt.

Pokatzky: Und wenn sie dann tatsächlich jetzt wieder von Europa nach Tunesien zurückgehen, wie werden sie da dann behandelt? Also, erst waren sie die Deserteure, und jetzt sind sie auch noch Versager?

Hamida: Das Problem, warum diese jungen Leute nicht nach Hause wollen, ist, weil sie eben das Gesicht verlieren. Sie kommen also zwei Jahre hier nach Europa, in dieses vermeintliche Paradies, und nehmen nichts mit. Sie gehen quasi als Verlierer zurück. Und das wollen sie nicht. Darum glaube ich auch, dass Europa sich jetzt Gedanken machen muss. Ich meine, in der Schweiz haben wir vielleicht 2000 noch, aber in ganz Europa sind es 20.000 bis 30.000. Und wenn Europa diese jungen Leute wieder nach Hause schicken will, dann muss sich Europa irgendein Mittel, eine Idee, ein Konzept erstellen, wie diese jungen Leute ohne ihr Gesicht zu verlieren wieder nach Hause gehen können. Einige haben es ja gemacht und haben gesagt: Okay, die Erfahrung war schlecht, ich wusste nicht, dass das so schlimm ist. Als ich dann irgendwo unter den Bäumen schlafen musste und so weiter und nichts mehr zu Essen hatte, da wurde mir bewusst, Europa will mich nicht, also gehe ich lieber nach Hause und schlage mich zu Hause durch.

Pokatzky: Sie haben sich Gedanken gemacht, Sie haben auch so eine Art Konzept schon entwickelt, da schlagen Sie vor, dass Auslandstunesier in der Schweiz, wo ja 7000 Tunesier völlig legal mit einer festen Aufenthaltsgenehmigung leben, dass Sie die motivieren wollen, dass die in ihrer tunesischen Heimat in kleine Projekte investieren und so Arbeitsplätze schaffen. Und Sie selber haben ja auch so ein kleines Projekt schon gemacht. Wie geht das praktisch ab?

Hamida: Ich wollte ja mit diesem Beispiel vorangehen. Also, einerseits habe ich selber meinen Verlag unten als quasi Filiale gegründet.

Pokatzky: Sie lassen Ihre Bücher in Tunesien drucken und bangen immer, dass die auch tatsächlich rechtzeitig gedruckt werden zu den Vorstellungen in der Schweiz!

Hamida: Genau! Also, wir hatten ein-, zweimal wirklich Panik, ob jetzt die Lesung stattfinden konnte, aber wir hatten immer Glück. Das sind Anfangsschwierigkeiten, zu denen müssen wir stehen als Auslandstunesier, und ich spreche eigentlich auch die vielen, vielen in Deutschland gut Situierten … Ich durfte in Stuttgart eine Lesung machen vor zwei Wochen, mit vielen Deutschlandtunesiern, wirklich exzellente Leute, muss ich ganz ehrlich sagen, und dort sehe ich ein Riesenpotenzial. Nicht nur vom Finanziellen, sondern auch von der gesellschaftlichen, von der demokratischen Erfahrung her, die wir haben. Und unser kleines Projekt, Express Invest Tunisia nennen wir das, schnell müssen wir handeln, weil die Behörden einfach länger brauchen als wir, wir können wirklich viel bewegen, wenn wir uns zusammenschließen. Und ich versuche das in der Schweiz, aber auch in Deutschland.

Pokatzky: Und welche Hoffnung haben Sie, dass hier wohlsituierte Tunesier oder aus Tunesien stammende tatsächlich so ein Kleinprojekt machen wie Sie, der Sie sich zum Beispiel um Fischer gekümmert haben, die ihre Boote verloren haben wegen der Revolution, die jetzt also wieder verdienen können mit dem Fischen, wie groß ist Ihre Hoffnung, dass Sie da kein Einzelwohltäter sind?

Hamida: Meine Hoffnung ist darum groß, weil wir schon Erfahrungen gemacht haben, dass Tunesier positiv darauf reagieren. Und vor allem, was mich noch mehr freut, Freunde und Freundinnen Tunesiens in Deutschland, in der Schweiz, in Österreich haben uns auch geholfen. Wir haben diese Boote wirklich jetzt übergeben und diese Fischer leben sehr gut mit diesen Booten. Aber ohne Boot waren sie einfach absolut in bitterer Armut. Jetzt geht es ihnen besser und ich werde jetzt in einer Woche nach Tunesien gehen, mache ein paar Bilder und motiviere wieder meine Landsleute hier, uns zu helfen, wenn sie nicht selber Kontakte haben. Viele haben leider eben den Kontakt in den letzten zwei Jahren aus politischen Gründen zu Tunesien etwas gelockert, wenn nicht verloren, aber wir haben eine super Organisation aufgebaut, klein, aber fein!

Pokatzky: Danke, Amor Ben Hamida in Zürich und natürlich viel Glück für Ihr neues Buch!

Hamida: Vielen herzlichen Dank!

Pokatzky: Vielen Dank! Und das ist noch zu sagen, "Aufgetaucht – zum Paradies via Lampedusa" ist erschienen im Verlag Ben Hamida International, hat 122 Seiten und kostet 12,50 Euro.

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