Verlags-Marketing

Lese-Marathon am Schwielowsee

Eine Frau sitzt lesend auf einem Sofa. Das Buch ist der Mittelpunkt des Bildes.
Vollzeit-Lesen verlangt vor allem Disziplin, hat unsere Autorin festgestellt. © imago/ Westend61
Von Sieglinde Geisel · 30.01.2017
Der Hanser-Verlag geht beim Marketing neue Wege: Er hat Buchhändler, Kritiker und Blogger eingeladen, jeweils drei Tage in einer Ferienwohnung am Schwielowsee ungestört zu lesen - und zwar Hanya Yanagiharas Roman "Ein wenig Leben". Sieglinde Geisel hat es ausprobiert.
"Das ist alles, was Sie dabei haben?" - "Den Rucksack noch." - "Gut."
Ich reise mit leichtem Gepäck. Ich brauche nicht viel für drei Tage lesen, und der Kühlschrank, so hat man mir versichert, ist gefüllt. Thomas Rohde von der Presseabteilung chauffiert mich nach Ferch am Schwielowsee.
"Wir haben gerechnet, so 940 Seiten, wie schafft man denn das, wenn man es möglichst kompakt lesen will. So 8 Stunden am Tag, bei 40 Seiten pro Stunde … und dann halt drei Tage."
Es ist Mittwoch nachmittag. Ich verlasse nicht nur Berlin, sondern auch meinen Alltag.

Drei Tage allein mit einem Buch

Nun bin ich ganz mir selbst überlassen. Es gibt nur mich und das Buch, kein WLAN. Wann habe ich zuletzt drei Tage lang nonstop gelesen? Das muss in der Kindheit gewesen sein, mit Karl May. So sollte man immer lesen, denke ich und tauche ein in die fremde Welt des Romans. Vier Männer in New York sind auf der Suche – auf der Suche nach dem Leben, und nach ihren Gefühlen für dieses Leben.
"Nur lesen" ist gar nicht so einfach: Der gut gefüllte Kühlschrank summt leise vor sich hin - und ich denke ständig ans Essen. Was koche ich mir heute? Ich könnte auch ins "Schwälbchen" gehen, das Lokal oben an der Straße. Doch dafür ist der Kühlschrank zu gut gefüllt. Ich mache mir Pellkartoffeln mit Quark und Käse. Ein Abendspaziergang?
Auf der Veranda ist es still, durch den Wald hört man in der Ferne eine Autobahn, doch es regnet ein bisschen. Und ich bin ja zum Lesen hergekommen, nicht zum Spazieren. Also wieder ab in den blauen Ohrensessel! Ich gehe früher als sonst ins Bett und komme mir ein bisschen vor wie eine Pionierin.

Der zweite Tag: Ist Lesen Arbeit?

Donnerstag. Ich bin Herrin meiner Zeit, doch mir ist klar: Das Vollzeit-Lesen verlangt Disziplin! Ich mache mir einen Plan: drei Blöcke à drei Stunden, vormittags, nachmittags, abends. Nach 90 Minuten mache ich jeweils eine kleine Pause, das soll dem Biorhythmus entsprechen. Ich lese also mit Timer. Und ich kann nicht glauben, wie lang 90 Minuten sind, wenn man tatsächlich nur liest. Nach der ersten Drei-Stundensitzung gehe ich wieder spazieren, auf der Uferpromenade am Schwielowsee. Ist das, was ich hier tue, Arbeit, oder ist es etwas anderes?
Der Roman liest sich süffig, ich kann es nicht anders sagen, Abgründe tun sich auf, wo ich sie nicht erwartet habe. Ich schmeiße mich rein ins Buch, versuche den Beobachter auszuschalten – darf ich das überhaupt als Kritikerin?

Der dritte Tag: Acht Stunden Kafka? Lieber nicht

Freitag. Ich beginne den Tag mit einem Morgenspaziergang.
(Geräusch Motorsäge) Die Motorsäge tut mir gut, es wäre mir sonst zu idyllisch hier in der Siedlung im Wald. Beim Spazieren merke ich: Die Pausen sind so wichtig wie das Lesen.
Ich beschließe, meinen Zeitplan aufzugeben und lese, wie’s kommt. Und auf einmal sind 90 Minuten kein Problem mehr! In der zweiten Hälfte des Buchs nehme ich den Text anders wahr. Liegt es am Buch oder an meiner Lese-Taktik, meiner Laune oder daran, dass ich ausgeschlafen bin? Vielleicht ist es auch nur der veränderte Blick: Ich habe den blauen Ohrensessel gedreht und schaue nicht mehr zur Küche, sondern in den Garten.
Als ich am nächsten Tag abgeholt werde, habe ich das Buch tatsächlich geschafft.
Sollte man nicht immer so lesen? Nun ja, acht Stunden Kafka? Lieber nicht.