Verkehr

Abkehr von der automobilen Stadt-Gesellschaft

Autos fahren in Ludwigshafen über die Hochstraße. Das marode Bauwerk soll abgerissen und anschließend entweder wieder aufgebaut oder ebenerdig weitergeführt werden.
Die Hochstraße in Ludwigshafen ist marode und soll abgerissen werden. © picture alliance / dpa / Uwe Anspach
Von Ludger Fittkau · 10.07.2014
Um den Autoverkehr in den Griff zu bekommen, setzte Ludwigshafen vor 55 Jahren auf Hochstraßen nach kalifornischem Vorbild. Doch heute wollen die Bürger nicht länger mit den maroden Betonbrücken über ihren Köpfen leben.
"Das größte Hochstraßenprojekt der Bundesrepublik wird heute Morgen bei strahlendem Sonnenschein und leichtem Wind in Ludwigshafen am Rhein dem Verkehr übergeben."
Ausschnitt aus einer Rundfunk-Reportage aus dem Jahr 1959. Geschildert wird die Einweihung der Ludwigshafener Hochstraßen − das bis dahin größte Verkehrsprojekt dieser Art in Westdeutschland. Honoratioren in dunklen Anzügen über den weißen Hemden mit steifen Kragen lassen ihre Limousinen an den frisch asphaltierten Auffahrten zu den Hochbrücken parken. Verschlungen schieben sich diese bis zu 20, 30 Meter in den Himmel über Ludwighafen:
"Und dann wird die erste Autokolonne über die Brücke fahren und heute Mittag um 14 Uhr wird sie endlich dem Verkehrt freigegeben."
Der damalige CDU-Bundesverkehrsminister Hans-Christoph Seebohm schneidet das weiße Band durch, das der ersten Autokolonne noch den Weg auf die steilen Rampen der Ludwigshafener Hochstraßen versperrt:
"Wenn ich heute selbst gekommen bin, sehen Sie daran bitte die Bedeutung, die ich dieser hier geschaffenen Leistung zumesse. Wir sind dabei mit unseren Aufgaben keineswegs am Ende."
Mit einem Gewirr von Straßen auf Betonpfeilern will man hoch über den Häusern von Ludwigshafen den rasant steigenden Autoverkehr der Wirtschaftswunderzeit in den Griff bekommen. Zur Feier des Tages mobilisiert der Verkehrsminister seine Lateinkenntnisse und ruft ins Mikrophon: "Vivant sequentes − Die Nachfolgenden sollen leben!"
Eine zweite Verbindung zwischen den Schwesterstädten Mannheim und Ludwigshafen über den Rhein - die "Nordbrücke" - soll am 28.06.1972 eingeweiht werden. Mitte der 1960er Jahre war mit den Bauarbeiten an diesem 100 Millionen Mark-Projekt begonnen worden. Dieses Straßengeflecht auf der Mannheimer Seite führt den Verkehr kreuzungsfrei von und zur Brückenauffahrt, die oben links im Bild zu sehen ist (Archivbild vom 17.04.1972).
Kreuzungsfrei bis nach Ludwigshafen: die Nordbrücke in Mannheim© picture alliance / Roland Witschel
Leben unter Betonbrücken
"Das Beispiel Ludwigshafens weist uns den Weg in die Zukunft. Vivant sequentes! Und nochmals herzlichen Dank und herzlichen Glückwunsch."
Knapp 60 Jahre später ist die Hochstraßen-Euphorie in Ludwigshafen längst verflogen. Die Nachfolgenden wollen nicht länger mit den Betonbrücken über ihren Köpfen leben. Helga Hofmann von der städtischen Wirtschaftsentwicklungsgesellschaft Ludwigshafen am Rhein zeigt vor Ort, warum:
"Ich werde jetzt mit Ihnen in einen Bereich gehen, der abgesperrt ist, deshalb auch die Helme. Der ist jetzt offiziell von der Stadt abgesperrt, den darf man nur noch mit Helm betreten, da müssen wir auch ein bisschen seitlich durchgehen."
Helga Hofmann setzt einen weißen Bauhelm auf, dringt durch die Lücke eines Bauzaunes in ein wild wucherndes Gestrüpp ein. Sie bahnt sich den Weg durch das wilde Grün. Ein Dickicht mitten in Ludwigshafen, nur ein paar Schritte vom Rathaus entfernt. In gut 20 Metern Höhe winden sich mehrere Hochbrücken über das verwilderte Areal, in dem außer uns keine Menschenseele zu sehen ist. Großstadtdschungel unter bröckelnden Hochstraßen. An vielen Stellen sind unter den Betonbrücken rötliche Netze gespannt.
"Damit uns kein Brocken auf den Kopf fällt."
Bröckelnder Beton
Hoffmann lenkt ihre Schritte auf den einzigen Fußweg, der noch nicht überwachsen ist, zieht aus ihrer Tasche große Fotos hervor. Sie zeigen, wie es im Inneren der Betonkonstruktionen aussieht. Die Hochstraßen von Ludwigshafen sind die ältesten Hochstraßen Deutschlands, seit Ende der 1950er-Jahre in Betrieb. Sie sind verbraucht und abrissreif, sagt sie:
"Diese Brücken sind ja Konstruktionen, die man innen begehen kann. Das heißt, die Schäden sieht man nicht unbedingt von außen, sondern die befinden sich innerhalb des Bauwerks."
Reporter: "Die haben jetzt hier ein Foto, das zeigt ..."
Hofmann: "... wie der Stahl korrodiert, wie die Versorgungsschächte auch aussehen. Wir hatten es so angelegt, dass wir den Bürgern immer auch zeigen konnten, es ist ein Bedarf da. Man redet nicht ohne Sinn. Das ist belegt, das wurde dann vor Ort einfach genauestens erklärt."
Reporter: "Man sieht hier tatsächlich diese Eisenstreben, die im Stahlbeton drin sind, die rosten."
Hofmann: "Ja, der rostet tatsächlich. Die Betonüberdeckungen waren damals, auch die Vorschriften andere, als sie heute gelten. Die Achslasten sind heute bedeutend höher, die solche Betonkonstruktionen aushalten müssen, und das hat halt zu den Schäden geführt."
Schäden, die nun den Abriss der Ludwigshafener Hochstraßen nötig machen. Als 1959 der erste Abschnitt des Straßensystems auf Betonsäulen eingeweiht wurde, hätte sich wohl niemand vorstellen können, dass es schon einige Jahrzehnte später wieder vorbei sein könnte mit dem größten deutschen Hochstraßenprojekt - auch nicht der Rundfunkreporter von damals:
"Ein Hochstraßenprojekt, das den ersten Bauabschnitt einer größeren Planung darstellt. Und zwar ist dieses Straßensystem, das sich wie eine Schlange oder wie ein Bündel von Schlangen um die City von Ludwigshafen herum windet, eine Verbindung zwischen der vielbefahrenen Rheinbrücke zwischen Mannheim und Ludwigshafen und den Außenbezirken, also den außerhalb der City gelegenen Bezirken der Stadt Ludwigshafen."
Vorbild Los Angeles
Die Idee für das asphaltierte Schlangenbündel über den Köpfen der Ludwigshafener hatte man damals aus den USA: Aus Los Angeles und Pasadena, einer 140.000-Einwohner Stadt in der Peripherie der kalifornischen Megacity, mit der Ludwigshafen seit '65 in einer offiziellen Städtepartnerschaft verbunden ist.
Der "Pasadena Freeway", über den sich in Hauptverkehrszeiten nur zäh der Autoverkehr schiebt, sorgt für die Verbindung der Stadt nach Los Angeles. Bereits 1940 eingeweiht, gilt die Straße als erste Autobahn Kaliforniens.
Und auch die Verkehrsplaner der deutschen Wirtschaftswunderzeit waren beeindruckt von den breiten Straßen und Hochbrücken im äußersten Westen der USA. Noch heute lautet das Motto des "Freundschaftsvereins" Ludwigshafen-Pasadena: Mit "Freundschaft Brücken schlagen":
"Der innerstädtische Verkehr in Ludwigshafen und Mannheim verlangt dabei nach weiteren großzügigen Lösungen in beiden Städten."
Boomtown Mannheim-Ludwighafen
In den 50er-Jahren blühen die kriegszerstörten Städte des Rhein-Neckar-Raums wieder auf − Stadtplaner sprechen hinsichtlich der Zwillingsstadt Mannheim-Ludwighafen von einer "neuen Stadt", die entsteht: Die ersten Wohnhochhäuser werden errichtet, Straßen verbreitert. 1952 entsteht in dem von den Alliierten besetzten IG-Farben-Werk in Ludwigshafen die neue Chemiefabrik BASF. In den nachfolgendenden Jahrzehnten wächst hier mit mehr als 2000 Gebäuden das größte zusammenhängende Chemieareal der Welt. Teilweise arbeiten rund 50.000 Menschen beim größten Arbeitgeber des Region, auch heute sind es noch mehr als 30.000. Die sogenannte Metropolregion Rhein-Neckar ist seit Jahrzehnten eine Boom-Region, inzwischen leben hier mehr als zwei Millionen Menschen.
Es gibt eine eigene Bahnstation im BASF-Gelände, doch seit den 1950er-Jahren fahren immer mehr Menschen mit dem eigenen Auto zur Arbeit. Der Blick des Verkehrsministers der jungen "Bonner Republik" richtet sich nach Westen − nach Amerika, nach Kalifornien. Die Hochstraßen der Region Los Angeles sollen auch für den Rhein-Neckar-Raum die Mobilität der Zukunft garantieren.
Ganz nebenbei will Bundesverkehrsminister Hans-Christoph Seebohm mit dem Bau von Hochstraßen und Brücken in Raum Mannheim-Ludwigshafen auch das nahe Saarland anbinden, das sich erst kurz zuvor in einer Volksabstimmung für den Verbleib in der jungen Bundesrepublik und gegen Frankreich entschieden hatte:
"Und neben dem für den Verkehr mit der Saar notwendigen zweibahnigen Ausbau der Theodor-Heuss-Autobahnbrücke auch weitere Brückenspangen zwischen den beiden Schwesterstädten. Helfen die Länder wie bisher, dann können wir in den nächsten Jahren viel erreichen, was heute noch kaum durchführbar erscheint."
Vorfahrt fürs Automobil
Die Partnerstadt in Kalifornien hatte den Ludwigshafenern bereits gezeigt, was alles durchführbar war: Man konnte mit den Hochstraßen zum Beispiel eine zweite, kreuzungsfreie Verkehrsebene schaffen und damit dem Automobil eine herausragende Stellung auch in Ballungsräumen bescheren. Wie in Kalifornien, wo Fußgänger und Radfahrer ebenfalls kurzerhand unter die Hochstraßen verbannt wurden. Die Idee einer automobilen Stadt-Gesellschaft war geboren. Eine Idee, die in Ludwigshafen in den letzten Jahren bei zahlreichen Bürgerversammlungen und Befragungen auf den Prüfstand gestellt wurde. Klaus Dillinger, der heutige Bau- und Umweltdezernent der Stadt:
"Das ist sicherlich ein Wandel in der Haltung der Menschen hier in Ludwigshafen und anderswo. Diese Haltung ist meines Erachtens nicht nur dadurch geprägt, dass alle Städte bundesweit Probleme haben, diese technischen Bauwerke, ob jetzt Brücken oder Tunnelanlagen, zu unterhalten und zu erneuern. Es ist nicht nur ein monetärer Grund, sondern es ist auch ein Zurück zu der typischen europäischen Stadt. Die eben Verkehr auf der Null-Linie abbildet im Wesentlichen. Auf Verkehr in Unterführungen, Überführungen nur dort bringt, wo es wirklich unumgänglich ist, aber nicht mehr zum Normalfall macht, wie es Ludwigshafen oder anderswo in einer gewissen Zeit war."
Blick auf einen Brückenabschnitt der Hochstraße  in Ludwigshafen. Die Hochstraße leitet den Verkehr aus der Pfalz bis nach Mannheim und ist eine wichtige Durchgangsstraße, die mittlerweile marode ist und saniert werden muss.
Autos oben, Fußgänger und Radfahrer unten: die Hochstraße in Ludwigshafen© picture alliance / dpa / Uwe Anspach
Rückkehr zur "europäischen Stadt"
Die Abkehr vom kalifornischen Modell der kreuzungsfreien Autofahrt auf der zweiten Ebene und die Rückkehr zur europäischen Stadt: in Ludwigshafen ist das jetzt beschlossene Sache. Radfahrer und Fußgänger sollen aus dem Dunkel unter den Hochstraßen wieder heraus ans volle Tageslicht geholt werden.
"Man muss sagen, für den Fußgänger und Fahrradverkehr ist die Führung natürlich verwirrend. Wer hier nicht groß geworden ist, hat hier Orientierungsprobleme."
Orientierungsprobleme − die sollten vor allem Autofahrer auf den Hochstraßen nicht haben, die zur Arbeit ins riesige Chemiewerk oder in die betriebsame Nachbarstadt Mannheim wollten. Deshalb schuf man Ende der 1950er-Jahre auf rabiate Weise Platz für die bedingungslose Vorfahrt des Automobils im Stadtverkehr. Der Radioreporter von damals:
"Es war natürlich notwendig, dass umfangreiche Vorbereitungen getroffen wurden, nicht nur am Zeichenbrett und an der Rechenmaschine. Auch in der Stadt selbst. Es wurden Häuser abgerissen hier, ganze Straßenzüge eingeebnet."
Sogar der Ludwigshafener Hauptbahnhof stand dem Hochstraßenprojekt im Wege, berichtet Baudezernent Klaus Dillinger:
"An der Stelle, wo wir uns heute befinden und die Hochstraßen sind, gab es früher den einen oder anderen produzierenden Betrieb, insbesondere aber den Hauptbahnhof als Sackbahnhof damals, der zurückgebaut wurde und damit diese ganzen Flächen frei wurden für das, was man heute eben sieht."
Was man heute sieht: Löchrige Asphaltflächen unter den Hochstraßen, die bestenfalls als Parkplatz dienen. Immer wieder Betonpfeile und graffiti-besprühte Fußgängertunnel, die man schon am helllichten Tag nur mit mulmigem Gefühl durchschreitet. Verwilderte Grünanlagen, die manchmal als triste Schlafplätze für Obdachlose dienen. Einstige Hoffnungen, dass sie die tristen Flächen unter den Hochstraßen mit urbanem Leben füllen, haben sich nie erfüllt:
"Der Übergang ist irgendwie nicht ganz klar, finde ich. Die Fläche hat man ja in erster Linie gebraucht, um die Betonpfeiler zu erden für die Hochstraßen oder hatte die Fläche noch einen eigenen Sinn? So eine Art überdachte Fußgängerzone? Weil da befinden wir uns jetzt ja − unter den Hochstraßen? Wenn das aber auch das Ziel dieser Umstrukturierung war, dass eben die Fußgänger auch eine Fläche für sich haben, in der ihnen die Autos nicht in die Quere kommen, dann könnte man das an dieser Stelle erwähnen? Was für Ideen hatte man denn damals eigentlich für den Platz unter den Brücken, was für Vorstellungen hatte man da, was da passieren sollte an Leben?"
"Ja, es ist grün. Aber eigentlich ist es ein Un- oder Angstraum. Man traut sich hier abends sicher nicht durch."
Ödnis unter den Hochstraßen
Halb verrostete Radwegzeichen an einigen Betonpfeilern deuten noch darauf hin, dass die Flächen unter den Hochstraßen einst dazu gedacht waren, Radfahrern und Fußgängern einen autofreien Zugang zu den Einkaufsstraßen der Ludwigshafener Innenstadt zu bieten. Viele Flächen unter den Hochstraßen selbst sowie die unmittelbar angrenzenden Grundstücke, die heute meist ebenfalls Parkplätze sind, sollten eigentlich mal für neue Geschäfts- und Wohnbebauung genutzt werden, weiß Baudezernent Klaus Dillinger:
"Man hatte damals gehofft sicherlich, dass man links und rechts der Hochstraße auch die eine oder andere bauliche Entwicklung vornehmen kann. Das hat sich nie realisieren lassen, in den letzten 30 oder 35 Jahren und deswegen gehen wir jetzt diesen anderen Weg."
In den vergangenen Jahrzehnten war der Raum unter den Hochstraßen ein "toter Stadtraum", den man möglichst schnell durchquerte oder in dem man mal sein Auto abstellte, wenn die Parkhäuser der nahen Innenstadt einmal voll waren. Die Hochstraßen erfüllten zwar ihre Funktion, die Autofahrer der Region schnell in die Innenstädte von Mannheim und Ludwigshafen oder ins Chemiewerk gelangen zu lassen. Doch für Fußgänger und Radfahrer, die in der Nähe der Hochstraßen lebten, war der Raum unter den Hochstraßen unwirtlich und abstoßend. Deswegen haben sich bei Bürgerbefragungen und in Bürgerversammlungen in den letzten Jahren die meisten Anwohner dafür ausgesprochen, die jetzt ohnehin maroden Hochstraßen abzureißen und wieder eine erbenerdige Straße zu bauen.
Boulevard statt Tristesse
Im Plan für die Zukunft heißt sie jetzt "Stadtstraße lang". Es geht um einen rund zwei Kilometer langen, ebenerdigen Boulevard, an dessen Rand auch heute wieder eine umfangreiche Neubebauung geplant wird, so der Ludwigshafener Baudezernent Klaus Dillinger:
"Für die 'Stadtstraße lang' rechnen wie in dieser Bebauung mit fast 5000 Arbeitsplätzen, die wir dort unterbringen könnten im Optimalfall. Und mit rund 3500 Bewohnern, die in den Strukturen dort Wohnraum finden könnten."
IT-Firmen und andere Unternehmen der Dienstleistungsbranche sollen sich entlang der neuen "Stadtstraße lang" ansiedeln, sozialer Wohnungsbau oder Wohnraum für die rund 50.000 Studierenden der Region, zu der auch Heidelberg zählt, soll hier entstehen.
300 Millionen für den Abriss
Rund 300 Millionen Euro wird das Mammutprojekt einschließlich des Abrisses der Hochstraßen kosten, das der Bund, das Land Rheinland-Pfalz und die Stadt Ludwigshafen jeweils zu einem Drittel stemmen müssen. Mit dem eigentlichen Abriss der Hochstraßen soll in etwa vier Jahren begonnen werden, sagt Helga Hofmann von der Ludwigshafener Wirtschaftsentwicklungsgesellschaft:
"Es ist bautechnisch eine Riesenherausforderung, schon allein der Rückbau. Schon aufgrund der Enge und der Baukonstruktion. Es muss so zurückgebaut werden, wie es aufgebaut wurde. Es ist eine Spannbeton-Konstruktion, die Stähle sind untereinander verbunden und gespannt. Das heißt, es muss sukzessive zurückgebaut werden."
Helga Hofmann schlägt den Rückweg durch das Gestrüpp unter den Hochstraßen ein. Kaum vorzustellen, dass hier in einigen Jahren wieder ein belebter erbenerdiger Boulevard von Westen her Richtung Rhein verlaufen soll.
Reporter: "Wir sind jetzt einmal über die geplante Straße hinweg gegangen Richtung Norden und schauen jetzt auf den angrenzenden Stadtteil. Das ist ein Quartier, das ist ganz lebendig ..."
Hofmann: "Das ist Hemshof-Nord. Das ist ein wichtiges, altes Quartier in Ludwigshafen und da ist eben die Verbindung mit der Innenstadt."
Reine Geldverschwendung?
Türkische Gemüseläden und russische Cafes, studentische Buchläden und Moscheen: Hemshof-Nord ist das Multi-Kulti-Viertel Ludwigshafens. Eigentlich liegt es ziemlich zentral ein paar hundert Meter nördlich der Innenstadt. Doch bisher müssen die Bewohner von Hemshof-Nord immer das hässliche Areal unter den Hochstraßen passieren, wenn sie in die Innenstadt oder zum Rheinufer wollen. Dennoch können sich noch nicht alle Passanten mit dem geplanten Abriss der Hochstraßen anfreunden:
"Und da sind die Meinungen sehr unterschiedlich."
... sagt die Rentnerin Käte Behringer:
"Die sollen es lassen, wie es ist, finde ich. Die Leute haben sich dran gewöhnt und so wollen sie es weiterhin tun."
"Und nicht hin- und herbauen. Das ist alles unnötiges Geld."
Emir Erkan lebt ebenfalls in Hemshof-Nord. Er glaubt den Ludwigshafener Politikern, die argumentieren, eine Sanierung der Hochstraßen wäre wohl um ein Vielfaches teurer als Abriss und Neubau einer ebenerdigen Straße:
"Manchmal sind solche Objekte günstiger, wenn man sie neu baut, als wenn man sie renoviert. Die haben bestimmt alles gerechnet. Wenn das so billiger ist, dann finde ich es auch gut."
Für seinen Nachbarn Süleman Kani ist nicht vorrangig das Geld der Grund dafür, warum er für den Abriss der Hochstraßen ist. Er hofft, dass Ludwigshafen als Stadt wieder sichtbarer wird, wenn das Straßengewirr über den Hausdächern verschwindet:
"Das ist besser, weil man sieht dann Ludwigshafen wenigstens. Weil die ganzen Leute über die Brücken nach Mannheim fahren, und man sieht dann Ludwigshafen nicht mehr."
Im Schatten Mannheims
Ludwigshafen verschwindet unter den Hochstraßen, die dafür ohne Umwege in die strahlende Nachbarstadt führen. Die Chemiestadt stand schon immer im Schatten der Residenzstadt Mannheim, der großen Schwester mit dem prächtigen Schloss gleich drüber am anderen Rheinufer.
"Man fährt über die Brücke und man weiß gar nicht, dass Ludwigshafen existiert."
Was Süleman Kani heute als ungerecht empfindet, sah schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Philosoph und gebürtige Ludwigshafener Ernst Bloch.
Klaus Kuhfeld leitet das Ernst-Bloch-Zentrum, ein Kultur- und Forschungszentrum am Ludwigshafener Rheinufer in Sichtweite des Mannheimer Schlosses.
"Was diesen knisternden Akkord zwischen Mannheim und Ludwigshafen, wie Bloch gesagt, hat, eben auch symbolisiert."
Um die proletarische Hafenstadt Ludwigshafen von der gediegenen Residenzstadt am anderen Ufer abzusetzen, habe Ernst Bloch seine Heimatstadt auch gerne als "Seestadt" bezeichnet, so Kuhfeld:
"Und das Bild mit der Seestadt ist natürlich wunderbar, weil natürlich liegt Ludwigshafen nicht am Meer, aber mit dem Fluss eben doch. Wenn man den Fluß weiterdenkt, dann ist man eben schnell in Rotterdam. So hat er auch seine Holländer hier erlebt, an der Wende des vorletzten Jahrhunderts, die mit ihren Schiffen von Basel hier hingekommen sind, die ihren Tabak und ihre Gespräche mitgebracht haben. Das hat ihn eben sehr stark geprägt und hat diese Seestadt-Symbolik gebracht."
Seestadt-Symbolik in der 160.000 Einwohner-Stadt, die viele hundert Kilometer von der Nordsee entfernt liegt? Da muss Klaus Dillinger, der Baudezernent der Stadt, ein wenig lächeln. Doch Wasser sei für die Stadt schon bedeutsam, ergänzt er:
"Ludwigshafen heißt ja Stadt am Rhein. Die Geburtsstunde der Stadt war ausgehend vom Rhein. Doch über viele, viele Jahrzehnte kam man überhaupt nicht an den Rhein, zumindest aus der Innenstadt heraus."
Ein Containerlager für das nahe Chemiewerk und graue Gewerbehallen unter Zäunen sorgten dafür, dass das Rheinufer jahrzehntelang nicht mehr zugänglich war. Es gab für die Ludwigshafener kaum eine Chance mehr , sich als Bewohner einer Seestadt zu fühlen, wie einst noch Ernst Bloch.
Die Stadt am Strom
Doch in den letzten Jahren begann in Ludwigshafen ein Prozess, mit dem Ludwigshafen als Stadt am Strom neu erfunden werden soll, so Klaus Dillinger:
"Wir versuchen schon, der Stadt Ludwigshafen ein ganz anderes Gesicht zu geben. Wer Ludwigshafen kennt oder vielleicht nicht so gut kennt, da haben wir ein bestimmtes Image, das vielleicht nicht das Beste ist. Und es hat sich in den letzten Jahren mit der Öffnung zum Rhein hin − Wohngebiete direkt am Rhein, Einkaufen direkt am Rhein − schon gezeigt, das wir einige Trümpfe haben, mit denen wir punkten können. Wo wir auch drauf stolz sein können."
Dazu gehört vor allem auch das "Festival des Deutschen Films", das seit Jahren regelmäßig im Sommer in Zelten und Pavillons am Ludwigshafener Rheinufer stattfindet und Zehntausende anlockt. Wegen der Strandatmosphäre unter alten Bäumen nannte es die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" unlängst das "schönste Sommer-Filmfest Deutschlands". Großer Stolz auch beim Festivalleiter Michael Kötz:
"Das war schön. Wir haben natürlich immer gewusst, dass wir das schönste Festival sind, aber das nützt ja nix. Die anderen müssen es auch wissen. Und die Schönheit kommt vom Ort, die kommt daher, dass er hier diese wunderbaren alten Bäume mit ein paar entflogenen Papageien in den Wipfeln gibt. Die Schönheit kommt vom Rhein mit den vorbeifahrenden Schiffen, das ist einfach atmosphärisch ganz toll. Dass man sich wie im Urlaub fühlt, oder wie Hannelore Hoger gestern sagte: Das ist ja wie in Cannes. Und wir darauf hin sagten: Nur nicht so viel Regen wie dort dieses Jahr!"
Hannelore Hoger vergleicht Ludwigshafen mit Cannes! Baudezernent Klaus Dillinger ist sich darüber im Klaren, dass das nur die Momentaufnahme eines warmen, cineastischen Sommerabends am Rheinufer ist. Doch der Abriss der Hochstraßen ist für ihn der nächste entscheidende Schritt zu einer ästhetischen Aufwertung der Ludwigshafener Innenstadt:
"Und dadurch, dass wir dieses Straßenprojekt zu einem Stadtentwicklungsprojekt gemacht haben − das ist das Entscheidende − werden die Menschen vielleicht auch erst eine Generation später merken, dass es richtig war, den Verkehr nicht mehr wie vor 30, 40 Jahren dem Städtebau unterzuordnen. Das könnte ein Beispiel sein, vielleicht nicht nur in unserer Region, wo man vor ähnliche Aufgaben gestellt ist."
Von der Innenstadt her gibt es jetzt wieder Möglichkeiten, zum Rheinufer zu gelangen. Ein rund ein Kilometer langes, bisher gewerblich genutztes Uferstück wurde wieder öffentlich zugänglich gemacht und begrünt.
Der Abriss der Hochstraßen wird dann auch den Bürgern aus den nördlichen Stadtteilen in der Nähe des großen Chemiewerkes den Weg zum Rheinufer ebnen, hofft Klaus Dillinger. Er erklärt das anhand von großen Plänen, die in einem Bürgerinformationsbüro zum Stadtumbau hängen:
"Das betrifft ja vor allem Fußgänger und Radfahrer. Ja, wir kommen mit dieser Lösung dem Rhein näher, wobei man jetzt an diesen Plänen sieht: Es ist noch einiges an Detailarbeit zu leisten. Aber alle anderen Entwürfe, die wieder Hochstraßen und Brückenauffahrten vor allem in einer prägnanteren Form gezeigt haben, da wäre es fast unmöglich gewesen. Und hier sieht man, dass man die Chance hat, den Endpunkt der heutigen Rheinpromenade an der Rheingalerie zu erreichen. Es sind da auch schon Fußgängerwege und Ähnliches eingezeichnet. Da ist aber noch viel Detailarbeit nötig, um das zu optimieren."
Boulevard statt Parkplatz
Helga Hofmann beendet ihre Expedition in die unwirtliche Stadtlandschaft unter den Hochstraßen von Ludwighafen auf dem Parkplatz direkt am Rathaus. Auch er liegt teilweise noch unter einer Betonpiste, die sich direkt an den unteren Etagen des Rathausturms vorbei windet. Bevor sie sich verabschiedet, zeigt mir Helga Hofmann, wo ich noch auf eigene Faust ungefährdet weitergehen kann:
"Wenn Sie da an der Straße entlanggehen, werden Sie ja noch einige Eindrücke bekommen. Da sehen Sie auch diese momentan leeren Parkflächen, wo nur Autos stehen, die aber jetzt leer sind. In den vergangenen 25 Jahren hat sich da nie jemand für die Flächen interessiert − an einer Hochstraße."
Das ist die Hoffnung der Ludwigshafener: Wenn irgendwann der ebenerdige Boulevard an der Stelle in Betrieb genommen wird, wo jetzt die Hochstraßen verlaufen, dann wird dies der jetzt abgehängten Region zwischen nördlicher Innenstadt und dem angrenzenden Stadtteil Hemshof-Nord einen regelrechten Schub geben. Links und rechts der neuen Straße entstehen mehrstöckige Wohn- und Geschäftshäuser, Cafés und vielleicht auch Kinos. Autofahrer, Fußgänger und Radfahrer bewegen sich hier wieder auf Augenhöhe. Noch ist dies eine Vision: Ob sie Wirklichkeit wird, wird am neuen Ludwigshafener Innenstadt-Boulevard zu besichtigen sein − etwa ab 2026. Gut Ding will eben Weile haben!
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