Verflucht und abgeschoben

Von Jörg Poppendieck · 09.05.2012
Behinderung ist in weiten Teilen Afrikas ein Makel, der zum Ausschluss aus der Gemeinschaft führt. Deshalb werden behinderte Kinder oft nach der Geburt versteckt. Hilfsorganisationen versuchen, dem entgegenzuwirken, wie ein Besuch in einer Einrichtung in Südafrika verdeutlicht.
Im Kinderheim Sibongile gibt es gleich Mittagsessen. Während die Leiterin Nomasango Süßkartoffeln schält, kümmern sich die Pflegerinnen um behinderte Kinder aus Khayelitsha, die hier betreut werden. Khayelitsha ist ein Township am Rande von Kapstadt. Mehr als eine Million Menschen leben hier, dicht gedrängt. Hütten aus Blech, Holz und Pappe bestimmen das Bild. Khayelitsha ist geprägt von Armut und Gewalt, erzählt Nomasango.

"Ich habe das Kinderheim aufgrund meiner eigenen Erfahrungen aufgemacht. Die Menschen hier glauben, dass Behinderung ein Fluch ist. Denen versuche ich mit meiner Arbeit die Augen zu öffnen. Ich will ihnen klar machen, dass es ganz normale Kinder sind, auch wenn sie eine Behinderung haben. Wer hier ein behindertes Kind zur Welt bringt, ist ganz auf sich allein gestellt. Niemand wird ihn unterstützen. Die Familie und die Gesellschaft distanzieren sich plötzlich von einem."

Das Heim und die Kindertagesstätte für behinderte Kinder hat Nomasango nach dem Namen ihrer mittlerweile verstorbenen behinderten Tochter benannt - Sibongile, das heißt auf deutsch "Danke". Der Anfang war für Nomasango schwierig. Zunächst hat sie in einem umgebauten Überseecontainer die Kinder betreut. Der war eng und stickig.

Mittlerweile gibt es zwei Häuser für jeweils 12 Kinder mit Schlafzimmern und speziell ausgestatteten Badezimmern. Rund um die Uhr werden dort die Kinder betreut. Egal ob in Südafrika, Simbabwe oder Malawi, ob in der Stadt oder auf dem Land - behinderte Kinder werden in Afrika von ihren Eltern versteckt. Gibt es Kinder, die in dunklen Townshiphütten vor sich hinvegetieren, ohne Pflege oder physische Hilfe.

"Sie schließen ihre Kinder zu Hause ein und tun so, als ob es sie nicht gäbe. Sie gehen zur Arbeit und überlassen die Kinder sich selbst. Auch übers Wochenende fahren sie weg, ohne sich zu kümmern. Das Ganze geht so lange, bis das Kind entweder sehr krank wird und die Eltern zum Arzt gehen. Manchmal alarmieren auch die Nachbarn Sozialarbeiter, die dann einschreiten"

Ein normaler Mensch kann kein behindertes Kind zu Welt bringen - das ist das, was viele Leute in Khayelitsha glauben, berichtet Nomasango, die Heimleiterin. Passiert es doch, wird es als Strafe oder Fluch der Ahnen verstanden für falsches Verhalten. Verstorbene, so der Glaube, können nach ihrem Tod zurückkehren und ihre Familienmitglieder beraten oder aber verfluchen.

Andrew Madella schließt die Gittertür zu seinem Haus auf. Das dauert etwas, weil der 56-Jährige erst eine seiner beiden Krücken an die Wand lehnen muss. Er braucht eine freie Hand für den Schlüssel. Andrew Madella kann aufgrund seiner Behinderung nicht richtig laufen und ist seit seiner Kindheit auf Krücken angewiesen.

Madella ist Generalsekretär des südafrikanischen Behindertenverbands. Besuch empfängt er zu Hause, in seinem Wohnzimmer, auf einer braunen Couch. Er erzählt, dass sich seit dem Ende der Apartheid in Südafrika viel getan hat. Vor zwei Jahren wurde eigens ein neues Ministerium geschaffen: das Ministerium für Frauen, Kinder und Menschen mit Behinderungen. Das soll sich unter anderem darum kümmern, den Mythos aus der Welt zu schaffen, dass eine Behinderung ein Fluch ist.

"Wir wollen, dass die Mitarbeiter vor Ort aktiv werden, in die Townships gehen und den Kontakt mit der Bevölkerung aufnehmen. Gar nicht so sehr mit den Behinderten. Aber das passiert einfach nicht. Es geht doch darum, dass die Menschen aufgeklärt werden müssen über diese Mythen, die da im Umlauf sind. Außerdem müssen sie dafür sorgen, dass wir nicht mehr sozial ausgegrenzt werden"

Auf dem Papier steht Südafrika gut da, wenn es um die Rechte von Behinderten geht: Die Verfassung verbietet die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen, es gibt zahlreiche Gesetze zu ihrem Schutz und Südafrika hat die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen unterzeichnet. In der steht zum Beispiel, dass Schüler oder Studenten mit Behinderungen an regulären Schulen oder Unis unterrichtet werden müssen. Aber Theorie ist nicht Praxis: Es mangelt an der Umsetzung.

"Die meisten Ministerien und auch die Regierung betrachten das Ganze als einen Hinweis. Es ist schön zu haben, aber es muss nicht umgesetzt werden. Es gibt ja keine Konsequenzen für den Fall, dass nichts passiert. Es gibt gute Pläne und Gesetze, die uns Menschen mit Behinderungen betreffen, aber die werden einfach nicht umgesetzt."

Deshalb gibt es in Südafrika auch keinen staatlichen Kampagnen, die darüber aufklären, dass eine Behinderung kein Fluch ist. Zudem bleiben viele behinderte Kinder zu Hause. Schulen und Kindergärten sind nicht barrierefrei und es fehlt an geeignetem Personal. Das Ministerium für Frauen, Kinder und Menschen mit Behinderungen - eines von mehr als 40 Ministerien im Land - hat nicht die nötige Macht und vor allem nicht das nötige Budget, um etwas an dieser Situation zu verändern. Zum Vergleich: das Ministerium für Kommunikation hat ein jährliches Budget von rund 140 Millionen Euro. Das Ministerium für Frauen, Kinder und Menschen mit Behinderungen kann dagegen nur rund 50 Millionen im Jahr ausgeben.

"Egal wen du fragst, alle Ministerien werden dir sagen 'Wir würden sehr gern helfen und unsere Gebäude barrierefrei gestalten, aber dafür uns fehlt das Geld.' Das ist die Standardausrede, die wir zu hören bekommen. Alle sagen dir, dass sie sparen müssen und ihr Budget gekürzt wurde"

Im Kinderheim Sibongile wird in der Küche gespült, während der Deutsche Marco Spallke mit einem der Kinder spielt.

"Mein Name – Mein Name – ist – ist Kumani"."

Marco Spallke kniet vor dem Stuhl des 4jährigen Kumani. Das Kind tut sich schwer mit der deutschen Sprache. Kumani spricht eigentlich Xhosa, eine der elf offiziellen Amtssprachen in Südafrika und: Kumani ist körperlich und geistig behindert. Im Kinderheim Sibongile bekommt er die Pflege und Aufmerksamkeit, die er braucht. Rund um die Uhr kümmern sich mehrere Frauen um das Wohl der Kinder aus Khayeltisha. Ihre Arbeit ist anstrengend, erzählt Marco Spalke. Er ist einer der beiden Leiter des Heims. Dazu kommt, dass der Irrglaube so groß ist, berichtet Spallke, dass selbst die, die mit behinderten Kindern arbeiten, von der Gesellschaft ausgegrenzt werden, aus Angst, der Fluch könnte überspringen.

""Wenn diese Frauen mit den Kindern arbeiten, wird auch oft auf sie runtergeschaut, dass sie sich überhaupt mit diesen Kinder abgeben. Die Frauen geben teilweise nicht nur ihre Familie auf, um hier zu arbeiten, sondern auch Freunde, die sich von ihnen abwenden, weil sie halt sehen, dass sie mit diesen Kindern arbeiten."

Von der Gesellschaft werden die Kinder ausgegrenzt und von der Regierung vernachlässigt, fasst Marco Spallke seine Sicht auf die Dinge zusammen. Regelmäßig spricht er bei Behörden vor, in der Hoffnung auf eine staatliche Förderung. Die Regierung jedoch lässt uns zappeln und fordert immer neue Anträge und Bestätigungen, erzählt er. Sibongile finanziert sich daher weiterhin allein über Spendengelder. Das nächste Projekt, das er zusammen mit seiner Kollegin Nomasango angehen will, sind Weiterbildungskurse für die Eltern behinderter Kinder. Die beiden hoffen, dass weniger Kinder ausgesetzt oder im Krankenhaus zurückgelassen werden, wenn die Eltern mehr über die Gründe von Behinderungen wissen und wie man damit umgeht.

"Sibongile war so was wie eine Ablagestation. Wenn die Leute mit ihren behinderten Kindern zu Hause nicht mehr klar gekommen sind, dann haben sie sie zu Sibongile gebracht. Damit waren sie aus den Augen und aus dem Sinn. Wir möchten aber die Menschen ermutigen, sich um ihre Kinder zu Hause zu kümmern und nicht einfach nur wegzugeben. Durch dieses Tageszentrum wollen die Eltern ermutigen ihre Kinder zu fördern. In der Zukunft wollen wir auch Trainings durchführen, damit sie ihre Kinder selber pflegen können."

Anthony ist auf dem Weg zum Basketballtraining. Im Rollstuhl. Der 24jährige fährt auf dem Bürgersteig einer vielbefahrenen Straße in Mitchells Plain, ein Vorort von Kapstadt.

Sein halbstündiger Weg zum Training führt ihn vorbei an einfachen, kleinen Häusern und Apartmentblocks, die bei ihrem Bau vor mehr als 10 Jahren beige waren. Heute sind sie grau, schwarz und voller Graffities. Gangs haben mit der Sprühdose ihr Revier markiert. Mitchells Plain, das Zuhause von Anthony, ist fest in der Hand rivalisierender Jugendgangs.

In einem Einkaufszentrum trifft sich Anthony mit den anderen Mitgliedern seiner Mannschaft. Greater Bulls, so heißt sein Team. In wenigen Wochen geht die Wintersaison los. Weil sie aus organisatorischen Gründen nicht in ihrer Halle trainieren können, üben sie Passspiel und Bewegungsabläufe auf dem Parkplatz des Einkaufszentrums.

""Unser Fokus als Verein liegt nicht allein auf Basketball. Wir bieten auch andere Sportarten an, Tischtennis zum Beispiel oder Rollstuhlrennen. Wir versuchen möglichst viele Interessen abzudecken. Es gibt so viele unterschiedliche Behinderungen. Wenn jemand nach Blindenfußball fragt, versuchen wir auch das zu ermöglichen."

Dribbeln und immer wieder Passen. Das ist es, was Anthony und seine Teamkollegen Chichi, Taswill und Abdulla heute üben. Manchmal müssen sie mit ihren Rollstühlen beiseite fahren, weil ein Auto vorbei will, oder parken möchte.

Charles ist derweil mit seinem Rollstuhl unter das schattenspendende Dach der Mall gefahren. Von hier aus hat er immer noch einen guten Blick auf seine Jungs. Charles ist der Trainer der Greater Bulls. Dem 52jährigen geht es so, wie eigentlich allen in seinem Team: Er ist ohne Arbeit und lebt von staatlicher Unterstützung. 110 Euro im Monat. Das ist nicht viel, sagt Charles, aber bei weitem nicht das größte Problem. Das sieht er in den fehlenden Transportmöglichkeiten für Menschen mit Behinderungen.

"Wir als Verein machen uns für die Rechte von Behinderten stark. In Südafrika werden Menschen mit Behinderungen immer noch sehr oft diskriminiert. In der Arbeitswelt zum Beispiel. Es gibt kaum Möglichkeiten, irgendwo einen Job zu finden. Dabei sind alle Firmen vom Gesetz her dazu verpflichtet, uns aufzunehmen. Es gibt eine Zwei-Prozent-Regelung, aber an die hält sich niemand."

Nach einer Stunde ist das Vorbereitungstraining für die kommende Wintersaison vorbei. Es geht zurück nach Hause. Die meisten Teammitglieder leben in einem sogenannten Gesundheitszentrum, eine Unterkunft für körperlich oder geistig Behinderte, so auch Taswill. Die eine Stunde Training hat ihn gefordert. Von seiner Stirn tropft Schweiß und sein grünes T-Shirt klebt an seinem Körper. Der 19-Jährige spielt seit mittlerweile fünf Jahren Rollstuhlbasketball bei den Greater Bulls.

"Ich kann mich noch daran erinnern, dass ich als Kind geglaubt habe, dass wir alle behindert geboren werden. Die Menschen hier verstecken ihre Kinder, vor Freunden und Verwandten. Wir wurden einfach weggeschlossen. Deshalb wissen die Menschen hier auch so wenig über Behinderungen. Wir sind deshalb gefordert. Wir müssen raus und sie aufklären. Ich werde zum Beispiel bald an einem Rollstuhlrennen teilnehmen. Ich will so zeigen, dass wir ein aktiver Teil der Gesellschaft sind."

Es ist noch ein langer Weg für Taswill und sein Rollstuhlteam und auch für Nomasango, der Leiterin des Kinderheims im Township Khayelitsha.

Südafrika steht vor großen Herausforderungen. Die Arbeitslosigkeit im Land liegt bei 25 Prozent, zwölf Millionen Menschen warten darauf, ihre Hütten und Notunterkünfte verlassen zu können und in ein Haus aus Stein zu ziehen. Dazu kommt das Aidsproblem. Vom Staat erwartet Nomasango nichts mehr. Sie hat mehrfach versucht, zusätzliche staatliche Unterstützung für ihr Heim zu beantragen. Ohne Erfolg. Die Lage der Behinderten im Land genießt in ihren Augen daher nur auf dem Papier Priorität.

"Sibongile liegt mitten in einem Wohngebiet. Das habe ich mit Absicht so gemacht. Unsere Nachbarn sollen sich mit dem Thema auseinandersetzen. Behinderte sind normale Menschen und sie sollten geliebt werden. Das will ich ihnen beibringen. Ein behindertes Kind setzt man doch nicht einfach aus und überlässt es sich selbst. Meine Tochter war 15 Jahre alt, als sie gestorben ist. Und in diesen 15 Jahren habe ich nicht eine Sekunde darüber nachgedacht, aufzugeben und sie auszusetzen."
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