Verfeindete Minderheiten im Kosovo

Musik als Brücke in einer geteilten Stadt

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Ein Mann spielt auf einer elektrischen Gitarre, einer Gibson Les Paul © dpa / Oliver Berg
Von Christoph Kersting · 12.06.2017
Ethnische Spannungen prägen immer noch den Alltag im Balkan-Land Kosovo. Doch eine Rock-School und ein Hotel zeigen zumindest im Kleinen, wie eine tolerante und gleichberechtigte Gesellschaft aussehen könnte.
Ein etwas düsterer Probenraum in Mitrovica, Nordkosovo. Instrumente stehen herum, die Wände sind mit Schaumstoff verkleidet, damit nicht allzuviel Musik in die Kneipe im Nebenraum dringt. Ihre drei Hocker haben Ilda, Tringa und Alem im Halbkreis aufgestellt. Noten und Text brauchen die Drei nicht, den Song "Cigarette" haben sie schon oft geprobt.
Geschrieben hat das eingängige Liebeslied Ilda Krama, 17 Jahre, alt, lange schwarze Haare, Jeans und T-Shirt. Tringa Sadiku, ebenfalls 17, begleitet die Freundin als zweite Stimme, der 20jährige Alem Redzepagic spielt Akustikgitarre. Er ist Serbe, die beiden Frauen sind Albanerinnen. Darum schreiben und singen sie ihre Songs in Englisch, ihre einzige gemeinsame Sprache.
Drei junge Leute, die in ihrer Freizeit gemeinsam Musik machen – in dieser Konstellation, an diesem Ort ist das jedoch alles andere als normal. Denn der Probenraum liegt im Norden von Mitrovica und damit im fast ausschließlich von Serben bewohnten Teil der 80.000-Einwohner-Stadt. Nur 300 Meter von hier führt eine Fußgängerbrücke über den Fluss Ibar in den Südteil der Stadt: Dort leben nur Albaner. Mitrovica: eine immer noch geteilte kosovarische Stadt.
Und seit 2011 gibt es dort die Mitrovica Rock School, in der junge Leute gemeinsam Songs schreiben und proben – ungeachtet ihrer Herkunft, erzählt Ilda:
"Ich bin vor einem Jahr erst dazu gestoßen. Die Rockschule hier organisiert jedes Jahr eine Sommerakademie in Skopje, in Mazedonien, da habe ich teilgenommen. Und ehrlich gesagt: Ich wusste gar nicht, dass die Bands gemischt sind, mit Leuten aus Nord- und Süd-Mitrovica. Aber genau das ist das Coole an der Sache, weil wir über die Musik eine Verbindung herstellen zwischen beiden Stadtteilen und ihren Menschen."
Alem bestätigt das, er wohnt im Norden Mitrovicas, spricht nur Serbisch, kein Albanisch.
Auf der Brücke über den Fluss Ibar in der kosovarischen Stadt Mitrovica steht Baugerät und ein Schild, auf dem steht, dass die Sanierung ein EU-Projekt ist.
Sanierung der Brücke über den Fluss Ibar in der kosovarischen Stadt Mitrovica© Christoph Kersting
Die Leute aus dem Süden kämen eigentlich nicht über die Brücke, das seien zwei getrennte Welten, erzählt der 20-Jährige mit Lederweste und Spitzbart. Diese Barrieren zu überwinden, das gelinge am besten mit einem guten Song, findet Alem.
Draußen, unweit der Brücke über den Ibar, auf der serbischen Seite der Stadt, wird gebaut: Die Fußgängerzone soll bis an die Brücke heranreichen, das letzte Teilstück fehlt noch. Über Jahre war die Ibar-Brücke durch serbische Barrikaden gesperrt. KFOR-Truppen sicherten die Flussquerung, die wie kein anderes Bauwerk symbolisch ist für den Konflikt zwischen Serben und Albanern im Land. Schon längst sollte die Brücke freigegeben werden für den Autoverkehr, stattdessen wurde sie im Herbst 2016 im Nordteil wieder abgeriegelt mit einer zwei Meter hohen Mauer – die dann im Februar 2017 auf Druck von Brüssel wieder verschwand.

Mitten in einem Prozess

Eine Autostunde südöstlich von Mitrovica, in der Hauptstadt Pristina, sitzt am nächsten Morgen Edita Tahiri in ihrem Büro und gibt sich redlich Mühe, einigermaßen positiv zu klingen, wenn sie die Lage im Norden des Landes beschreiben soll. Das gehört zu ihrem Job, denn die 60-Jährige ist Ministerin für Dialog, und damit offiziell zuständig für das schwierige Verhältnis zu Serbien und den Ausgleich zwischen Serben und Albanern in ihrer Heimat. Natürlich habe es lange Zeit parallele, von Belgrad gesteuerte Strukturen in Mitrovica und anderen nordkosovarischen Gemeinden gegeben, räumt Ministerin Tahiri ein: eine serbische Polizei etwa oder serbische Rechtsprechung. Doch seit 2013 habe sich das geändert – damals vereinbarten Belgrad und Pristina im Brüsseler Abkommen die Normalisierung ihrer Beziehungen.
"Wir sind heute mitten in einem Prozess, in dem die Republik Kosovo nach und nach die Kontrolle auch über den von Serben bewohnten Norden gewinnt. Die Polizei dort steht inzwischen unter dem Oberkommando des Kosovo. Auch serbisch geführte Unternehmen registrieren sich jetzt offiziell hier im Land und zahlen ihre Steuern. Bürger des Kosovo können jetzt nach Serbien reisen, und Serben, die aus Serbien über die Grenze im Norden kommen, werden jetzt auch kontrolliert – was vor zehn Jahren undenkbar war, weil Belgrad das gar nicht als Staatsgrenze anerkannt hat. Ich sehe Mitrovica heute nicht mehr als geteilte Stadt."
Wie so ein Leben, von dem Edita Tahiri spricht, ansatzweise aussehen könnte, zeigt sich in Gracanica, einer serbischen Enklave am Stadtrand von Pristina. Hier hat der Schweizer Andreas Wormser vor vier Jahren ein Hotel gebaut: 15 Zimmer, moderne Architektur, ein kleines Restaurant. Vom Garten mit Pool geht der Blick ins weite, hügelige Grün.
Blick auf das Hotel Gracanica in der kosovarischen Stadt Pristina, im Vordergrund ein Garten mit Pool
Hotel Gracanica in der kosovarischen Stadt Pristina© Christoph Kersting
Der Sonntagsbrunch, inzwischen eine Institution im Hotel Gracanica. Etwa 30 Gäste haben es sich im Garten oder am Außenpool auf Liegestühlen bequem gemacht und genießen die Frühlingssonne. Unter einem Baum haben auch Ersad und Jimmy mit ihrer Gitarre ein schattiges Plätzchen gefunden. Die beiden jungen Männer sind Roma, wohnen im Nachbarort und spielen an jedem Sonntag im Hotel, erzählt Ersad:
"Die Musik ist eher ein Hobby für uns. In unseren Liedern geht es viel um das Leben der Roma wie es früher war, als wir noch von Ort zu Ort gezogen sind. Wir treten aber selten auf, der Sonntag hier im Hotel ist eigentlich unser einziger regelmäßiger Termin. Roma-Lieder zu singen ist nicht ganz einfach hier im Kosovo. Viele Albaner sagen ja noch immer, die Roma hätten im Kosovo-Krieg mit den Serben kollaboriert, was nicht stimmt. Aber darum ist es nach wie vor schwierig für uns als Roma hier."
Auch Hotel-Chef Andreas Wormser hat heute nicht frei. Er inspiziert eines der schlicht-eleganten Zimmer im ersten Stock, in dem eine kleinere Reparatur ansteht. Das tut der Ein-Meter-90-Mann so unaufgeregt und bedächtig, wie er auch die Grundidee seines Hotelprojekts beschreibt – und würde dabei in seiner lässigen Lederjacke und mit den markanten Gesichtszügen auch als jüngerer Bruder von Clint Eastwood durchgehen.
Der Schweizer Andreas Wormser, der in der kosovarischen Stadt Pristina das Hotel Gracanica gegründet hat
Der Schweizer Andreas Wormser, der in der kosovarischen Stadt Pristina das Hotel Gracanica gegründet hat© Christoph Kersting
"Fast alle Möbel hier sind lokal hergestellt – das Holz kommt allerdings aus Österreich und Slowenien, weil Kosovo zu wenig nutzbare Wälder hat. Es ist ein Schreinermeister aus der Region Prizren, der die ganze Inneneinrichtung gebaut und teils auch entworfen hat. Die Teppiche sind mehrheitlich aus dem Kosovo, jedenfalls aus dem Balkan."

Beim Projektstart den Vogel gezeigt

Der 58-Jährige ist kein gelernter Hotelier: Andreas Wormser kam nach dem Ende des Krieges 1999 als Schweizer Gesandter für Flüchtlingsfragen zum ersten Mal ins Land. Er sollte ausloten, ob die während des Krieges in die Schweiz geflohenen Kosovaren wieder in ihre Heimat zurückgeschickt werden können. Es herrschte zwar offiziell Frieden, doch die Gräuel des Krieges hatten tiefe Gräben hinterlassen zwischen den Volksgruppen: Albanern, Serben und auch Roma. 2004 endete sein Einsatz, doch der Schweizer blieb - auch, als 2004 erneut die Gewalt regierte, Albaner die Häuser von Serben und Roma abfackelten, es wieder Tote gab im Kosovo.
"Die Idee war schon auch, etwas für die Roma zu tun. Ich hatte viel mit Hilfsorganisationen zu tun vorher. Habe mir auch selber überlegt, etwas in diesem Bereich zu machen. Aber ich fand es dann erfolgversprechender etwas zu tun, wo Roma eben keine Hilfsempfänger sind, sondern sich mit Leistung beweisen können, dass sie ganz normale Arbeitsstellen ausfüllen können."
Das Hotel eröffnet er mit zwei alten Freunden: Hisen Gashnjani und Atlan Gidžić. Er stellt die beiden Roma-Männer als Hotel-Manager ein. Heute arbeiten vor allem Roma und Serben, aber auch zwei albanische Frauen im Hotel. Viele hätten ihm einen Vogel gezeigt, als er anfing, seine Idee von einem multiethnischen Hotel wirklich in die Tat umzusetzen – nicht zuletzt seine Frau, die in Deutschland lebt und alle paar Wochen nach Gracanica reist. Gab und gibt es auch ernste Anfeindungen?
Hisen Gashnjani, Manager des Hotels Gracanica im kosovarischen Pristina
Hisen Gashnjani, Manager des Hotels Gracanica im kosovarischen Pristina© Christoph Kersting
"Jetzt schon lange nicht mehr, und auch vorher war es eigentlich nur im Internet, wo wir Hasskommentare bekamen, von Albanern und von Serben. Auch jetzt mag es noch Leute geben, das wurde uns zugetragen, die nicht kommen, weil wir eben ein 'Roma-Hotel' seien. Was die ethnischen Konflikte anbetrifft, ist unser größtes Problem, dass viele Albaner nicht oder nur widerwillig kommen, weil wir eben in einer Enklave sind."
An der Rezeption sitzt an diesem Vormittag Hisen Gashnjani und checkt die Buchungen für den Sommer. Bei 20 Prozent lag die Zimmerbelegung 2016: viel zu wenig, um mit dem Hotelbetrieb Gewinn zu machen, sagt der Hotelmanager.
"Ich war am Anfang ja auch eher skeptisch, was das Projekt hier angeht, aber was Andreas Wormser hier geschaffen hat, das grenzt schon irgendwie an ein Wunder. Er hat hier Jobs für Menschen wie mich geschaffen, hat gezeigt, dass man ein Hotel auch mit zwei Roma-Managern führen kann. Das ist ein ganz wichtiges Signal an alle Menschen im Kosovo, egal ob Albaner, Serben oder Roma, dass so etwas wie hier funktioniert, wenn man es nur will. Genau das ist das Besondere an dem Projekt hier."

Toleranz und Gleichberechtigung im Kleinen

Dass die kosovarische Wirklichkeit davon noch weit entfernt ist, zeigt sich auch in Prizren, dem kulturellen Zentrum im Süden des Landes.
Vater Andrey hat sich auf einer Bank unter einer Kastanie niedergelassen und nippt an einem schwarzen Tee. Von allen Seiten, so scheint es, rufen die Muezzine der Stadt zum Abendgebet, an eine Unterhaltung ist da gerade nicht zu denken. Vater Andrey nimmt's gelassen, nutzt die paar Minuten, um seinen Podrjasnik zu richten, wie serbisch-orthodoxe Geistliche ihren Talar nennen. Der 46-Jährige mit dem langen grauen Bart ist Vizedekan des serbisch-orthodoxen Priesterseminars in Prizren und sitzt im Innenhof des Gebäudekomplexes, mitten im historischen Zentrum von Prizren. Die Anlage wurde mit EU-Mitteln wieder aufgebaut, nachdem sie im März 2004 von einem Mob bis auf die Grundmauern niedergebrannt worden war.
"Im Zentrum von Prizren leben heute gerade einmal 20 Serben, bis Ende der 1990er-Jahre, vor dem Kosovo-Krieg, waren es 9000. Hinzu kommen dann während des Semesters rund 80 Menschen hier im Priesterseminar. Das ist nach wie vor eine besondere Situation hier für uns als Serben: Wir müssen immer wachsam und vorsichtig sein, auch wenn ich sagen kann, dass es seit mehreren Jahren hier keine ernsthaften Probleme mehr gab – dabei lassen wir mal die täglichen verbalen Angriffe auf der Straße außen vor. Brenzlig wird es vor allem am albanischen Unabhängigkeitstag Ende November, dann gehen wir nicht auf die Straße, schließen alle Türen ab und warten, bis alles vorbei ist."
Stadtansicht des kosovarischen Prizren, im Vordergrund eine historische Brücke, dahinter eine Moschee und Wohnhäuser an einem Hügel
Stadtansicht des kosovarischen Prizren© Christoph Kersting
Vater Andrey ist auch Mönch im Weltkulturerbe-Kloster Dečani, das eine Autostunde nordöstlich von Prizren liegt. Dort sei die Situation eine andere als im Priesterseminar, berichtet er. Das Kloster liege an exponierter Stelle und werde rund um die Uhr von italienischen KFOR-Soldaten bewacht – verstärkt, seitdem vor einem Jahr in einem Auto unweit des Klosters Schusswaffen gefunden worden seien.
"Serbe zu sein hier im Kosovo ist nicht gerade einfach, aber noch schwieriger ist es für einen Albaner, der als Serben-Freund gilt. Und das macht unser Leben hier so kompliziert. Meine albanischen Freunde sind sehr offen und herzlich, wenn wir uns nicht in der Öffentlichkeit sehen – wenn wir uns aber auf der Straße begegnen, gehen sie mir aus dem Weg. Wir hoffen, dass das irgendwann einmal anders sein wird. Darum ist es auch so wichtig, dass das Kosovo genauso wie Serbien eine echte Perspektive bekommt, Mitglied der EU zu werden. Ich sehe das als einzige Lösung für uns, weil wir genau diese europäischen Werte hier brauchen: Toleranz und Gemeinschaften, die gleichberechtigt nebeneinander existieren können."
Zumindest im Kleinen scheint das hier und da schon heute zu gelingen: In der Mitrovica-Rock-School etwa oder im Hotel Gracanica. Dessen Chef Andreas Wormser jedenfalls betont vor allem die Fortschritte der vergangenen Jahre:
"Ich habe kürzlich einen Artikel über Nordirland gelesen: Da stehen noch neun Meter hohe Mauern, es gibt noch fünf Tote pro Jahr. Von dem her ist eigentlich Kosovo schon sehr viel weiter."
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