Verfassungsreform in der Türkei

Das Präsidialsystem wird kommen

Abgeordnete der Regierungspartei und der Opposition prügeln sich am 11.01.2017 im türkischen Parlament.
Abgeordnete der Regierungspartei und der Opposition prügeln sich am 11.01.2017 im türkischen Parlament. © imago / Depo Photos
Ismail Küpeli im Gespräch mit Nana Brink · 18.01.2017
Trotz zahlreicher Proteste im Parlament und auf der Straße werde der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan letztlich seine Verfassungsreform durchbringen, meint der Politologe Ismail Küpeli. Die Bilder von sich prügelnden Abgeordneten spielten Erdogan zusätzlich in die Hände.
Prügeleien im Parlament, Proteste auf der Straße - die Verfassungsreform in der Türkei stößt bei der Opposition auf großen Widerstand. Dennoch werde Erdogan letztlich sein Präsidialsystem durchsetzen, meint der Politikwissenschaftler Ismail Küpeli. Auch weil Erdogans AKP bei diesem Anlauf die erforderliche Mehrheit nicht allein aufbringen muss, sondern sich mit der nationalistischen MHP einen Partner für das Projekt gesucht habe.
"Die MHP-Abgeordnete stimmen jetzt nicht durchweg für das Präsidialsystem, aber doch genug, dass wir diese Schwelle von 330 Sitzen im Parlament überschreiten, mit der dann im Frühjahr eine Volksabstimmung herbeigeführt werden kann", erklärt Küpeli im Deutschlandradio Kultur.

Auch die Opposition agiert "nicht wirklich gut"

Der Opposition warf der Politikwissenschaftler vor, sie agiere "nicht wirklich gut". Vor allem achte sie nicht darauf, welche Wirkung die Bilder von den tumultartigen Szenen im Parlament auf die Bevölkerung haben: "Wenn wir uns anschauen, wie im Parlament die Abgeordneten miteinander umgehen, dann kann sich natürlich der Staatspräsident Erdogan als Garant für Stabilität, als Garant für Ordnung inszenieren und darauf verweisen, dass die Parteien ja ohnehin im Parlament nichts zustandebekommen." Letztlich spielten solche Szenen Erdogan sogar in die Hände.
Insofern müsse man sich von der Vorstellung einer Türkei verabschieden, die schrittweise Richtung Demokratie reformiert werde, meint Küpeli. Das sei eindeutig vorbei. "Wir müssen uns eher überlegen: wie kann sich Deutschland, wie kann sich die EU gegenüber einer solchen Türkei verhalten, die sich auf diesen Weg begeben hat? Das ist eine sehr schwierige Frage, auf die ich auch nicht wirklich eine Antwort habe."
(uko)

Das Interview im Wortlaut:

Nana Brink: Dass im türkischen Parlament nicht immer in Zimmerlautstärke debattiert wird, das ist ja keine Seltenheit, aber zu Prügeleien wie bei der letzten Sitzung kommt es ja auch nicht alle Tage. Es ging in der ersten Lesung um die Verfassungsänderung zur Einführung eines Präsidialsystems – Präsident Erdogans wichtigstes Projekt. Christian Buttkereit fasst die Stimmung zusammen.
((Einspielung))
Heute nun also die zweite Lesung im türkischen Parlament, und darüber spreche ich jetzt mit dem Bochumer Politikwissenschaftler Ismail Küpeli. Guten Morgen!
Ismail Küpeli: Guten Morgen!
Brink: Was erzählen uns jetzt diese Prügeleien im Parlament. Ist das nur so ein bekannter Ausbruch, oder worum geht es da eigentlich, wie groß ist der Protest?
Küpeli: Der Protest sowohl im Parlament als auch außerhalb auf den Straßen ist durchaus relativ groß. Allerdings müssen wir davon ausgehen, dass der Protest am Ende nicht erfolgreich sein wird, weil die Regierungspartei AKP auch mit den Methoden, die im Beitrag beschrieben wurden, dafür sorgen, dass alle Abgeordneten im Sinne der Staatsführung abstimmen. Und auch bei der rechten Oppositionspartei MHP stimmt eine ganze Reihe von Abgeordneten für das neue Präsidialsystem. Insofern, trotz der ganzen Proteste wird es am Ende ein Ja geben für das Präsidialsystem. Davon ist auszugehen.

Krawall im Parlament nützt letztlich nur Erdogan

Brink: Halten Sie diese Prügeleien für inszeniert?
Küpeli: Nein. Wenn wir uns anschauen, frühere Debatten, bei denen es auch ebenfalls um wichtige Punkte ging, dann kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen den Regierungsparteien und Oppositionsparteien, aber auch zwischen den Oppositionsparteien selbst. Insofern ist das keine Inszenierung, aber es spricht jetzt nicht dafür, dass die Abgeordneten das parlamentarische System allzu ernst nehmen, sondern versuchen, ihre Interessen und die Interessen ihrer Parteiführungen durchaus auch mit Gewalt durchzusetzen.
Brink: Aber spielt das dann nicht auch in die Hände sozusagen von Präsident Erdogan und seiner Absicht, die Verfassung zu ändern?
Küpeli: Natürlich. Wenn wir uns anschauen, wie im Parlament die Abgeordneten miteinander umgehen, dann kann sich natürlich der Staatspräsident Erdogan als Garant für Stabilität, als Garant für Ordnung inszenieren und darauf verweisen, dass die Parteien ja ohnehin im Parlament nichts zustande bekommen, sondern das Ganze auf seine Initiative zurückgeht. Das hat er auch in der Vergangenheit immer wieder gemacht, indem er darauf verwiesen hat, dass das Parlament nicht gut arbeitet, dass das Parlament schlecht agiert und so weiter. Das heißt, solche Szenen spielen durchaus rein in das Projekt von Erdogan, der das Parlament eigentlich geistig entmachten möchte.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan spricht am 14.12.2016 während des 32. Mukhtars Treffen in Ankara, Türkei. 
Regieren per Dekret könnte in der Türkei bald der Normalfall werden. © dpa/picture alliance/Turkish President Press Office
Brink: Aber das weiß man doch eigentlich. Und dann fragt man sich ja, warum fliegen dann trotzdem Topfpflanzen und werden irgendwie Stehpulte demoliert? Ist das das Temperament?
Küpeli: Das Problem ist, dass auch die Oppositionsparteien inzwischen ebenfalls nicht wirklich gut agieren, dass auch dort nicht mehr darauf Rücksicht genommen wird, wie solche Bilder – welche Wirkung solche Bilder haben, sondern man versucht eben, mit allen Mitteln, das Präsidialsystem zu verhindern und schaut eben nicht, wie kommen diese Bilder bei der Bevölkerung an, und wie wird dadurch das parlamentarische System eigentlich entwertet.

Abschaffung der Ministerpräsidenten wäre eher "sekundär"

Brink: Kommen wir nochmal auf diese Punkte eigentlich zu sprechen. Was sind denn für Sie die wirklich Problematischen? Wir haben es ja schon zum Teil angesprochen, also Entmachtung des Parlaments, mangelnde Kontrollfunktionen – sind das die entscheidenden, zentralen Punkte?
Küpeli: Ich glaube, dass der allerentscheidenste Punkt tatsächlich diese Übertragung der Dekrete auf den Staatspräsidenten selbst ist. Es ist ja ohnehin so, dass wir bereits jetzt im Ausnahmezustand diese Macht beim Präsidenten haben praktisch, aber das Regieren per Dekret vorbei am Parlament, dass das normalisiert wird, dass das zum Regelfall wird und nicht mehr zur Ausnahme. Das ist, glaube ich, die zentrale Unterscheidung zwischen dem türkischen Präsidialsystem zu anderen Präsidialsystemen, die wir durchaus kennen. Wenn wir uns anschauen, in den USA, in Frankreich, in denen die Präsidenten ebenfalls sehr viel Macht haben, das lässt sie trotzdem mit der Türkei nicht vergleichen, weil in der Türkei wird demnächst der Staatspräsident allein regieren können ohne parlamentarische Kontrolle. Das ist in anderen Staaten nicht vorstellbar. Das ist, glaube ich, der entscheidende Punkt. Ob jetzt der Ministerpräsident abgeschafft wird, das halte ich da eher für sekundär.
Polizeikräfte am 9. Januar 2017 bei der Festnahme einer Person, während Dutzende Demonstranten vor dem türkischen Parlament in Ankara gegen die geplante Verfassungsänderung protestieren, die dem türkischen Präsidenten Erdogan weitreichende Befugnisse geben würde.
Demonstranten und Polizeikräfte vor dem türkischen Parlament in Ankara© picture alliance / dpa / AP / Burhan Ozbilici
Brink: Nun hat Präsident Erdogan ja schon mal versucht, das durchzusetzen, das ist ja nun gescheitert, und versucht das jetzt auf einem zweiten Weg. Und Sie sagen, es geht durch?
Küpeli: Ich sage, es geht insofern durch, weil bisher war das zentrale Problem, dass die Regierungspartei AKP alleine stand mit diesem Projekt. Alle Oppositionsparteien waren eindeutig gegen das Präsidialsystem, trotz der ganzen Unterschiede. Aber jetzt hat die AKP mit der MHP einen Partner für dieses Projekt finden können, und die MHP-Abgeordneten stimmen jetzt nicht durchweg für das Präsidialsystem, aber doch genug, dass wir diese Schwelle von 33 Sitzen im Parlament überschreiten, mit der dann im Frühjahr eine Volksabstimmung herbeigeführt werden kann. Insofern befürchte ich, dass es dabei bleibt. Wenn wir uns alle Abstimmungen bisher anschauen, also in der ersten Lesung, dann erreichen wir durchweg diese Zahl von 33 deutlich. Insofern denke ich, dass wir im Parlament ein Ja haben werden und auf der Straße die Proteste werden recht repressiv niedergeschlagen. Auch da sehe ich jetzt nicht, dass sich der Teil der Bevölkerung, der gegen das Präsidialsystem ist, sich durchsetzen kann. Das ist sehr schwierig.

Die Demokratisierung ist "eindeutig vorbei"

Brink: Wenn wir jetzt ein bisschen weitergucken, was das wirklich für Auswirkungen hat, auch wenn Sie sagen, der Protest wird irgendwie niedergeschlagen. Wir kennen, oder vielleicht müssen wir sagen, wir kannten ja die Türkei als säkularen, als pluralen Staat. Wird jetzt diese Doktrin von Staatsgründer Atatürk, werden die ja sozusagen ausgehöhlt, werden die obsolet? Sind die vorbei?
Küpeli: Ich glaube, wovon wir uns durchaus verabschieden müssen, ist die Vorstellung einer Türkei, die schrittweise Richtung Demokratie geht, einer Türkei, in der schrittweise Reformen so durchgesetzt werden, dass wir am Ende zu einem positiven Punkt kommen. Das ist vorbei, das ist eindeutig vorbei. Die Schritte, die jetzt erfolgen, die Schritte, die in den nächsten Monaten erfolgen werden, werden die Türkei weiter in einer repressiven, autoritären Richtung schieben. Und auch die Islamisierung der Gesellschaft schreitet ebenfalls voran. Insofern glaube ich jetzt nicht, dass wir in baldiger Zeit auf positive Nachrichten aus der Türkei hoffen können, sondern wir müssen uns eher überlegen, wie kann sich Deutschland, wie kann sich die EU gegenüber einer solchen Türkei verhalten, die sich auf diesen Weg begeben hat. Das ist eine sehr schwierige Frage, auf die ich auch nicht wirklich eine Antwort habe.
Brink: Und Thema für ein nächstes Interview. Vielen Dank! Soweit der Politikwissenschaftler Ismail Küpeli. Danke für das Gespräch!
Küpeli: Gern!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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