Verfahren in Abwesenheit des Angeklagten ist "fragwürdig"

Leonie von Braun im Gespräch mit André Hatting · 21.06.2011
Nachdem der ehemalige tunesische Diktator Ben Ali in Abwesenheit zu 35 Jahren Haft verurteilt worden ist, äußert die Juristin Leonie von Braun Zweifel daran, ob der Prozess als "rechtsstaatliches Verfahren" eingestuft werden kann.
André Hatting: 35 Jahre Gefängnis für Ben Ali, und das ist erst der Auftakt, er muss ja auch noch vor ein Militärtribunal. Am Telefon ist jetzt Leonie von Braun, sie ist Expertin für internationale Strafgerichtsbarkeit bei Amnesty International. Guten Morgen, Frau von Braun!

Leonie von Braun: Guten Morgen!

Hatting: Es ging ja gestern alles sehr schnell – sieht so ein fairer Prozess aus?

von Braun: Da kommen durchaus Zweifel auf. Es ist zu begrüßen, dass es überhaupt zu diesem Verfahren gekommen ist, da dem früheren tunesischen Staatspräsidenten ja tatsächlich massive Korruptionsvergehen vorgeworfen wurden und werden, allerdings sind die Rechte des Angeklagten auch bei früheren Diktatoren zu beachten, und die Schnelligkeit dieses Abschlusses wirft ernsthafte Fragen auf in dieser Hinsicht.

Hatting: Also doch ein Fall von Siegerjustiz, wie Kritiker behaupten?

von Braun: Das kann ich aus meiner Position jetzt noch nicht beurteilen, da ich noch nicht – auch aufgrund der Schnelligkeit des Urteils – über Einzelheiten zu dem Verfahren verfüge. Allerdings ist vor allem die Tatsache, dass das Verfahren in Abwesenheit durchgeführt wurde, bereits sehr fragwürdig, denn in Abwesenheit hat ein Angeklagter nicht die erforderlichen Möglichkeiten, sich zu verteidigen.

Hatting: Trägt dieser Prozess trotzdem zur Demokratisierung Tunesiens bei?

von Braun: Das muss man abwarten. Es ist grundsätzlich wichtig, dass diejenigen, die für schwere Vergehen wie Folter und Mord, was ja hoffentlich auch noch kommen wird, sowie Korruption verantwortlich sind, dass diejenigen auch durch ein rechtsstaatliches Verfahren verurteilt werden, wenn die Schuld erwiesen ist. Und wenn ein solches Verfahren durchgeführt wird, dann ist da tatsächlich ein Erfolg zu erwarten für die Demokratisierung. Das zeigen unsere Erfahrungen in anderen Ländern wie zum Beispiel in Sierra Leone, aber auch in den Balkanstaaten.

Hatting: Sie haben es angesprochen, Ben Ali ist im Exil in Saudi-Arabien, und es wäre sinnvoll, ihn vor das Gericht nach Tunesien zu holen. Aber das ist ja nun mehr als unwahrscheinlich. Wie sinnvoll wäre es, ihn denn vor ein internationales Strafgericht zu holen, mit Auslieferung?

von Braun: Derzeit, das wäre sicherlich in vieler Hinsicht sinnvoll, denn bei derartigen Verfahren ist eine hohe Politisierung oft zu erwarten und es können auch negative Folgen für den friedlichen …, die Stabilisierung und die Entwicklung vor Ort sich entwickeln. Allerdings sind hier die Anklagepunkte meines Erachtens noch nicht im Bereich des Völkerstrafrechts anzusiedeln, das müsste man im Einzelfall prüfen. Sollte es ein völkerstrafrechtlicher Anklageschwerpunkt werden können, dann wäre natürlich auch ein Gericht wie der Internationale Strafgerichtshof ein mögliches Forum.

Hatting: Es gibt ja seit einem Jahr den Haftbefehl gegen Sudans Präsident Al-Baschir, ihm wird das Massaker in Darfur zur Last gelegt. Die Afrikanische Union sagt aber, wir missachten den Haftbefehl einfach. Was ist der dann noch wert?

von Braun: Der Haftbefehl …, beide Haftbefehle sind sehr viel wert. Es ist meines Erachtens zwar derzeit fast unmöglich, Baschir vor Gericht zu bekommen, der Hauptgrund liegt jedoch darin, dass die internationale Gemeinschaft nicht den erforderlichen Druck auf das Regime ausübt und es auch etliche Staaten gibt, die durchaus bereit sind, Baschir noch zu empfangen und einzuladen. Derzeit ist eine Reise nach China im Gespräch, obwohl der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen dieses Verfahren an den Strafgerichtshof überwiesen hat.

Amnesty International und andere NGOs setzen sich seit vielen Jahren dafür ein, dass Baschir endlich ausgeliefert wird. Es ist zwar im Moment noch wenig in Aussicht, dass es passieren wird, aber die Geschichte zeigt uns bei anderen mächtigen Männern, dass es durchaus dann plötzliche Wendungen geben kann, wie zum Beispiel in den Fällen Charles Taylor und Milosevic.

Hatting: Der Fall Al-Baschir ist noch in anderer Hinsicht interessant: Es ist das erste Mal, dass der Internationale Strafgerichtshof einen Haftbefehl gegen ein noch amtierendes Staatsoberhaupt erlassen hat. Könnte das Schule machen? Ich denke an Saleh in Jemen oder an Assad in Syrien.

von Braun: Das ist natürlich so, dass es einfach rechtlich möglich ist mittlerweile. Das Völkerstrafrecht hat sich insofern entwickelt. Der Internationale Strafgerichtshof sieht das vor, dass diese Möglichkeit eindeutig besteht, dass Immunität für die schwersten Menschenrechtsverletzungen wie Verbrechen gegen Menschlichkeit und Völkermord einfach nicht mehr als Schutz, als Vorwand herangezogen werden kann. Und das heißt, es kann einfach in Zukunft für jeden amtierenden Präsidenten, jeden Diktator, keiner kann sich in der Hinsicht mehr sicher fühlen. Aber das ist ja auch gut so.

Hatting: Warum wird das im Falle Saleh und Assads nicht gemacht?

von Braun: Amnesty International hat auf diesen Widerspruch in seinen letzten Pressemitteilungen eindeutig hingewiesen, es ist tatsächlich zum Verzweifeln, denn im Fall Libyen wurde vom Sicherheitsrat der Fall an den Internationalen Strafgerichtshof verwiesen, bei Syrien wird gezaudert. Es wird nicht entsprechend gehandelt, obwohl vor den Augen der Weltöffentlichkeit massive Verbrechen begangen werden an der Zivilbevölkerung. Flüchtlingsströme entstehen. Es ist meines Erachtens leider ein politisches Kalkül momentan der Weltgemeinschaft, und das wird auf dem Rücken der Opfer ausgetragen.

Hatting: Können Sie dieses Kalkül näher erläutern, was meinen Sie damit?

von Braun: Also, ich könnte mir einfach vorstellen, dass offensichtlich die internationale Gemeinschaft an Assad als Faktor im Nahostkonflikt, als Ansprechpartner weiterhin festhalten möchte und noch nicht bereit ist, ihn aufzugeben. Und das bedeutet, dass er letztendlich weiter schalten und walten kann und eben ihm nicht ein Riegel vorgeschoben wird.

Hatting: Das war Leonie von Braun, sie ist Expertin für internationale Strafgerichtsbarkeit bei Amnesty International. Frau von Braun, ich danke Ihnen fürs Gespräch!

von Braun: Vielen Dank!