Offener Brief zum Antisemitismus-Begriff

Verengung der Meinungsfreiheit?

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Die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann
Auch die Kriminalisierung des BDS sei ein Schritt, um Kritik an Israels Besatzungspolitik zu unterdrücken, sagt Aleida Assmann. © dpa / picture alliance / Horst Galuschka
Aleida Assmann im Gespräch mit Marietta Schwarz · 28.07.2020
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Mit dem Vorwurf des Antisemitismus werde die Debatte um die israelische Besatzungspolitik erstickt, heißt es in einem offenen Brief. Der Diskursraum werde verengt, kritisiert die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann, die den Brief mitunterzeichnet hat.
In einem offenen Brief haben sich mehr als 60 Wissenschaftler und Kulturschaffende an Bundeskanzlerin Angela Merkel gewandt. Der Anlass sind zwei Sorgen: Zum einen die "drohende Annexion palästinensischer Gebiete durch Israel", zum anderen der "Gebrauch des Antisemitismusbegriffs", der darauf ziele, "legitime Kritik an der israelischen Regierungspolitik" zu unterdrücken. Die Unterzeichner werfen dem Antisemitismusbeauftragten Felix Klein vor, rechtspopulistische israelische Stimmen zu unterstützen und "von realen antisemitischen Gesinnungen und Ausschreitungen" abzulenken, die jüdisches Leben in Deutschland tatsächlich gefährden.
Eine der Unterzeichnerinnen ist die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann. Sie hat im Jahr 2018 mit ihrem Mann den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhalten. Anlass für den offenen Brief ist das Buch "Der neu-deutsche Antisemit" (2018) von Arye Sharuz Shalicar. Darin wirft der Autor dem Historiker Reiner Bernstein "Judenhass" vor. Bernstein hat sich vor dem Berliner Kammergericht gegen den Vorwurf gewehrt, aber seine Klage wurde in diesem Jahr abgewiesen. Assmann hat für diese Entscheidung kein Verständnis: Bernstein sei ein Pazifist, der sich im Friedensprozess zwischen Israel und Palästina und für die Münchener Stolperstein-Initiative engagiere.

"Kritik an Israel" nicht per se antisemitisch

Assmann sieht einen Grund für diese Stimmung in der erweiterten "Arbeitsdefinition von Antisemitismus" der IHRA (International Holocaust Remembrance Alliance). Darin heißt es: "Erscheinungsformen von Antisemitismus können sich auch gegen den Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, richten. Allerdings kann Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden." Die Bundesregierung habe diese 2017 zwar angenommen, so Assmann, allerdings ohne den letzten Satz. "Damit hat sich der Diskursraum verengt."
Im Mai 2019 habe der Bundestag die Resolution gegen die BDS (Boycott, Divestment and Sanctions) verabschiedet, in der die Organisation als antisemitisch bezeichnet wurde. Nachdem sich der Direktor des Jüdischen Museums Berlin, Peter Schäfer, kritisch dazu geäußert hatte, kam es zur Kontroverse und er trat von seinem Amt zurück. Auch dem Philosophen Achille Mbembe, der die Ruhrtriennale eröffnen sollte, wurde Antisemitismus vorgeworfen.

Konstruktive Kritik

Assmann spricht von einer "Verengung von Meinungsfreiheit". Der offene Brief sei als "konstruktive Kritik" gemeint, auch wenn er nicht so ankomme. Für sie sei das Existenzrecht Israels nicht nur selbstverständlich, sondern auch deutsche Staatsräson. Sie fühle sich dem Staat "sehr solidarisch verbunden und möchte ihn in jeder Form unterstützen".
"Ich will betonen, dass wir tatsächlich in diesem Land ein entscheidendes Antisemitismus-Problem haben und dass wir ganz wichtige Dinge auf dem Schirm haben müssen", so Assmann. "Es gibt überall diese Formen der Abwehr, der Leugnung und der offenen Feindschaft, aber das ist ganz bestimmt nicht das, was die Gruppen, die hier gerade ins Visier geraten sind, vorhaben."
(leg)

Die Antisemitismus-Forscherin Monika Schwarz-Friesel von der TU Berlin kann die Kritik nicht nachvollziehen. Derartige Behauptungen seien gefährlich, sagt sie im Interview. Die Unterzeichner des Briefes behaupteten Dinge, die "schlichtweg falsch" und "alternative Fakten" seien.

Redaktioneller Hinweis: Wir haben den Text komplett überarbeitet, um ihn lesbarer zu machen. Inhaltlich haben wir keine Änderungen vorgenommen.
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