Verdrängte Opfer

Rezensiert von Hubertus Knabe · 19.01.2007
Dass die Sowjetunion in Ostdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg Gefangenenlager unterhielt und zum Teil die Konzentrationslager der Nazis für ihre Zwecke weiterhin nutze, ist zwar bekannt, von der Gesellschaft jedoch weitgehend verdrängt worden. Zu groß war offenbar die Angst vor dem Vorwurf, die nationalsozialistischen Verbrechen relativieren zu wollen.
Wenn in Deutschland der Name Buchenwald fällt, denken die meisten an das nationalsozialistische KZ. Nur wenige assoziieren hingegen das Lager, das die sowjetische Geheimpolizei in denselben Baracken von 1945 bis 1950 unterhielt. Dabei war die statistische Chance, in Buchenwald zu überleben, unter der sowjetischen Verwaltung geringer als unter der nationalsozialistischen.

Die selektive Erinnerung an einen der grausamsten Haftorte auf dem Boden der Bundesrepublik liegt nicht am Mangel an Informationen. Ein neues Buch über die sowjetischen Lager in Deutschland führt eindrücklich vor Augen, wie umfangreich die Literatur dazu inzwischen ist. Allein das beigefügte Literaturverzeichnis umfasst 27 Seiten.

Die Gründe für die ungleiche Wahrnehmung sind augenscheinlich woanders zu suchen. Das Buch selbst gibt dazu eine Reihe von Erklärungen. Unter dem Titel "Instrumentalisierung, Verdrängung, Aufarbeitung" widmen sich 14 Beiträge den sowjetischen Speziallagern in Deutschland in der gesellschaftlichen Wahrnehmung von 1945 bis heute. Sie gehen zurück auf eine Tagung der Gedenkstätte Buchenwald und der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur im Juni 2005. Welche Fragen dort im Mittelpunkt standen, erläutern die Herausgeber in ihrem Vorwort so:

"Wie verlief die widerspruchsvolle Geschichte der Aufarbeitung? [...] Inwieweit sind nicht nur vor und nach 1945 Verfolgte, sondern auch Wissenschaftler und Gedenkstättenmitarbeiter durch langjährige Schwerpunktsetzungen sowie eingeübte Muster des Umgangs mit der Vergangenheit geprägt? Spielen derartige Prägungen eine Rolle bei der Austragung aktueller Konflikte? Welchen Beitrag können Wissenschaftler und Gedenkstättenmitarbeiter leisten, bestehende Konflikte produktiv zu machen und mit ihnen zukunftsorientiert umzugehen?"

Diese Fragen sind in der Tat von Interesse, lenken sie doch den Blick auf diejenigen, die wesentlich dafür verantwortlich sind, welche Geschichtsbilder an die Gesellschaft vermittelt werden: Zeitzeugen, Historiker, Gedenkstättenmitarbeiter. Die Vermutung liegt nahe, dass die ungleiche Wahrnehmung der Geschichte von ihnen zumindest mit verursacht wird.

Im ersten Beitrag untersucht Wolfram von Scheliha, wie sich die Zeitungen in Ost und West bis 1961 mit den sowjetischen Lagern befassten. Anhand von mehr als 3000 Artikeln zeigt er, wie sie damals zum wichtigsten Symbol kommunistischen Unrechts wurden und wie die östliche Presse darauf reagierte. Im zweiten Aufsatz befasst sich Wolfgang Buschfort mit der Rolle der Ostbüros der Parteien, die in den 1950er Jahren die menschenverachtenden Zustände in den Lagern anprangerten. Im dritten Beitrag skizziert Karl Wilhelm Fricke die Wahrnehmung der Lager anhand von Monographien, die die öffentliche Meinung besonders prägten. Weitere Beiträge widmen sich der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Lager, ihrer Wahrnehmung im Film, den nach 1990 entstandenen Ausstellungen sowie den Auseinandersetzungen zwischen Lagerinsassen von vor und nach 1945.

Trotz dieser fast enzyklopädischen Themenbreite und der Unterschiedlichkeit der Autoren erschließen sich die Ursachen für die Vernachlässigung der sowjetischen Lager in Deutschland eher zwischen den Zeilen. Dass es keine Bilder vom Grauen in den Lagern gibt, in denen ein Drittel der über 120.000 Insassen größtenteils verhungerte, macht einen wichtigen Unterschied zu den KZs der Nationalsozialisten aus. Wichtiger aber ist, dass den Opfern nicht dieselbe Empathie wie den NS-Opfern entgegengebracht wird. Der Soziologe Christian Schneider macht dies deutlich, indem er selbstkritisch schildert, was er empfand, als ihm in Buchenwald ehemalige Häftlinge aus der sowjetischen Zeit begegneten:

"Ich spürte so etwas wie ein automatisch hochschießendes Misstrauensmuster: Sind das etwa 'alte Nazis'? Warum sonst sollten sie von den Sowjets hier hereingesteckt worden sein? [...] Als Teil jener legendären Achtundsechziger-Generation bleibt man in seinen 'politischen Reflexen' dem alten Schema der 'welthistorischen Alternative', der Konfrontation von 'Faschismus und Sozialismus' verhaftet, selbst, wenn man auf der Ebene der bewussten Reflexion meint, längst darüber hinaus zu sein."

Tatsächlich prägen diese Reflexe bis heute die Auseinandersetzung mit den sowjetischen Lagern in Deutschland. In dem Band wird deutlich, wie das Thema in der Zeit der Entspannungspolitik als politisch nicht mehr opportun galt. Je mehr im Gefolge der Studentenbewegung die Verbrechen des Nationalsozialismus ins Bewusstsein rückten, desto weniger interessierte man sich für das kommunistische Unrecht. Die Opfer der Lager vor und nach 1945 wurden nicht zusammengerechnet, sondern gegeneinander ausgespielt.

Nach der friedlichen Revolution bot sich die Chance, aus dieser falschen Gegenüberstellung auszubrechen. Mit dem Ende der Teilung Deutschlands und Europas gab es keinen Grund mehr, in den alten Frontlinien zu verharren. Nichts sprach dagegen, die doppelte Vergangenheit der Lager ausgewogen darzustellen.

Historiker und Gedenkstättenmitarbeiter haben diese Chance größtenteils verstreichen lassen. Die Beiträge des Buches machen deutlich, wie aus Furcht vor einer Relativierung der NS-Verbrechen eine Hierarchisierung der Opfer vorgenommen wurde. In den Gedenkstätten in Buchenwald und Sachsenhausen wurde die Auseinandersetzung mit der sowjetischen Lagerzeit an den Rand der ehemaligen Haftorte verbannt. Begriffe wie Konzentrationslager oder Sonderlager durften nur noch für die nationalsozialistische Zeit benutzt werden, obwohl es sich um ein und dieselben Lager handelte. Viele Veröffentlichungen verbreiten den Eindruck, es habe sich bei den Massenverhaftungen um eine Form der Entnazifizierung gehandelt, obgleich es den Befehlen zufolge um die "Säuberung des Hinterlandes" der Roten Armee ging. Während bei den KZs alle Gefangenen – unabhängig vom Grund ihrer Inhaftierung – als unschuldige Opfer galten, begann man bei den sowjetischen Lagern zu differenzieren. Das Entsetzen nach dem Krieg, das die sowjetische Besatzungsmacht die KZs wieder in Betrieb nahm, wurde als westliche "Instrumentalisierung" im Kalten Krieg stigmatisiert.

Eine kritische Auseinandersetzung mit dem heute dominanten Bild der Lager steht noch bevor. Ohne es zu wollen, zeigt der Sammelband, wie in der Konkurrenz historischer Erinnerung die Verbrechen des Kommunismus relativiert werden. Karl Wilhelm Fricke bleibt es vorbehalten, daran zu erinnern, dass dies in der unmittelbaren Nachkriegszeit anders war. Gerade die frische Erfahrung des Nationalsozialismus ließ das neuerliche Unrecht besonders verwerflich erscheinen. Er zitiert Eugen Kogon, Buchenwald-Häftling von 1939 bis 1945, der in seinem Buch "Der SS-Staat" auf die beängstigende Ähnlichkeit der Lager hinwies und schrieb:

"Ich fragte Ende 1947 und Anfang 1948 Kommunisten, mit denen ich jahrelang in Buchenwald gewesen war, und führende Mitglieder der in der Ostzone herrschenden Einheitspartei, ebenfalls politische Gefangene von einst, was sie ‚von einer derartigen Entwicklung‘ eigentlich dächten. Einige meinten, gefährliche politische Gegner müsse man eben einsperren und unschädlich machen; sie gaben offen zu, dass ihre Methode in diesem Punkte sich von der des Nationalsozialismus nicht unterschied."

Petra Haustein, Anne Kaminsky, Volkhard Knigge, Bodo Ritscher (Hg.): Instrumentalisierung, Verdrängung, Aufarbeitung
Die sowjetischen Speziallager in der gesellschaftlichen Wahrnehmung 1945 bis zur Gegenwart

Wallstein Verlag, Göttingen 2006
"Instrumentalisierung, Verdrängung, Aufarbeitung"
"Instrumentalisierung, Verdrängung, Aufarbeitung"© Wallstein Verlag