Verbrennung von Juden in Berlin

Der verdrängte und vergessene Mord

10:03 Minuten
Auf einem Scheiterhaufen werden Juden verbrannt.
Wie auf dieser Darstellung wurden auch in Berlin Juden verbrannt. Holzschnitt von Michael Wolgemut. Aus: Hartmann Schedel, Liber Chronicarum, Nürnberg (Anton Koberger) 1493. © akg-images
Von Sebastian Engelbrecht · 15.07.2020
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Im Jahr 1510 wurden in Berlin 41 schuldlose Juden verbrannt. Im Stadtbild erinnert nichts an dieses Justizverbrechen. Die Berliner Jüdin Salomea Genin kämpft seit Jahren vergeblich für einen Gedenkort in der Stadt.
Salomea Genin, geboren 1932 in Berlin, floh im Mai 1939 mit ihrer jüdischen Familie vor den Nationalsozialisten nach Australien. So entging sie der Deportation nach Auschwitz. 1954 kehrte sie nach Berlin zurück. Seit Jahrzehnten kämpft sie dafür, dass in Berlin an ein schreckliches Ereignis der Stadtgeschichte erinnert wird. Das Gedenken daran im Stadtbild bedeutet ihr so viel, als ginge es hier um sie selbst.
"Berlin hat dieses Ereignis völlig vergessen."
Am 6. Februar 1510 begeht der christliche Kesselflicker Paul Fromm in der Kirche des Dorfes Knobloch bei Brandenburg an der Havel einen folgenschweren Diebstahl. Er entwendet eine kupferne Monstranz und eine Messingbüchse mit zwei geweihten Hostien. Unter Folter sagt er aus, er habe die Hostien an Juden aus Spandau, Brandenburg und Stendal verkauft.


Er selbst und seine jüdischen Geschäftspartner hätten eine Reihe von Experimenten mit den geweihten Stücken gemacht, die nach katholischer Lehre der reale Leib Christi sind. Ebenfalls unter Folter sagen die Juden aus, sie seien am Hostienfrevel beteiligt gewesen – was nicht stimmt.

Verurteilt und verbrannt in Berlin

51 Juden aus Brandenburg und Berlin werden angeklagt. 41 von ihnen und der Kesselflicker Fromm werden am 19. Juli 1510 auf dem Neuen Markt zum Tode verurteilt, nicht weit von der Marienkirche im Zentrum Berlins.
"Dann wurde ihnen angeboten, wenn sie bereit sind, zum Christentum überzutreten, dann würden sie nicht am Scheiterhaufen verbrannt werden, sondern mit dem Schwert umgebracht."
38 Juden und Fromm werden auf einem Scheiterhaufen vor den Toren der Stadt verbrannt. Zwei treten zum Christentum über und werden enthauptet, ein jüdischer Augenarzt wird begnadigt. Zudem müssen alle Juden die Mark Brandenburg verlassen.
In ihrem Kampf um die Erinnerung an diesen Mord ist Salomea Genin fast allein. Fast. Hans Berg, Bürgerdeputierter mit Sitz in der Bezirksverordnetenversammlung in Berlin-Mitte, steht an ihrer Seite. In dem Bezirksparlament gehört er zur CDU-Fraktion.
"Seit 2008 bin ich da dran und verfolge diese Sache. Weil das ein ganz frühes Zeichen des Judenhasses war. Hier wurden zum ersten Mal in der Geschichte Berlins – es war ja das ausgehende Mittelalter – fast 40 jüdische Bürger unter einer falschen Beschuldigung vor Gericht gestellt und grausam hingerichtet. Und das war sozusagen ein Vorgriff auf den Holocaust."

2008 lernte Hans Berg in der Gedenktafelkommission des Bezirksparlaments die Jüdin Salomea Genin kennen. Schon damals, vor zwölf Jahren, warb sie für ein Mahnmal, eine Stele an prominenter Stelle für die 1510 ermordeten Juden. Berg fand das überzeugend.
"Gerade diese Sache von 1510, der erste planmäßige Mord an jüdischen Bürgern, muss wieder ins Bewusstsein der Bürger Berlins kommen, damit die wissen: Hier haben wir noch eine Schuld zu begleichen. Hier ist etwas geschehen, was nicht gut war. Und daran soll erinnert werden."
Eine älterer Frau sitzt auf einem Sofa.
Salomea Genin kämpft seit mehr als zehn Jahren für ein angemessenes Gedenken.© Sebastian Engelbrecht

Wenig Verständnis für Gedenkinitiative

Zwölf Jahre lang versuchten Hans Berg und Salomea Genin immer wieder, die zuständigen Gremien des Bezirks Mitte zu überzeugen, dass das verdrängte Ereignis einen Ort im Stadtbild braucht – in der Gedenktafelkommission, im Ausschuss für Bildung und Kultur. Ihr Werben blieb vergeblich, sogar im Jahr 2010, am 500. Jahrestag. Warum bloß? Salomea Genin meint:
"Es gibt mehrere Leute in unserer Stadt, die das abwegig finden, weil es so lange her war, und damit nichts zu tun haben wollen. So würde ich das sehen. Aber sie sagen es nicht."
Sabine Weißler, seit 2011 Bezirksstadträtin für Kultur von den Grünen, hat die Diskussionen über eine Gedenktafel oder eine Stele in der Nähe der Marienkirche im zuständigen Ausschuss miterlebt. Auf die Frage, ob sie das Gedenken von Anfang an unterstützt habe, antwortet sie einsilbig.
"Das ist eine Sache des Ausschusses der Bezirksverordnetenversammlung."
Und auf die Frage, ob sie die Idee einer Gedenktafel oder einer Stele in den vergangenen zwei Jahren befürwortet habe, antwortet Weißler:
"Der Ausschuss hat einen entsprechenden Beschluss gefällt und den setzen wir um."
Tatsächlich beschloss das Bezirksparlament von Mitte am 6. September 2019, dass am 19. Juli dieses Jahres, am 510. Jahrestag des Mordes, eine "Berliner Gedenktafel" in der Nähe der Marienkirche angebracht werden soll. Aber nur scheinbar ist damit eine Lösung gefunden.
"Wir haben am Gerichtsort, der ungefähr zwischen Karl-Liebknecht-Straße und dem Roten Rathaus lag, bisher keinen Hinweis. Und den zu geben und damit auch ein Stück in der Topographie zu besetzen, auch zu erkennen zu geben, wie das organisiert war, dieses mittelalterliche Gerichtswesen bis hin eben dann zu den Folgen – diese Überlegung finde ich interessant."
Sabine Weißler umschifft immer wieder den Satz, sie sei für dieses Gedenken. Sie scheint sich als Vertreterin des Bezirks Mitte nicht wirklich zuständig zu fühlen.
"Es geht nicht nur um Berlin-Mitte oder um das alte Berlin, sondern das stand in einem engen Zusammenhang mit Vorkommnissen in Brandenburg, und die Hinrichtungsstätte befindet sich im heutigen Friedrichshain-Kreuzberg. Wir haben also darum gebeten, uns eine Gedenktafel zu genehmigen und auch daran teilzunehmen und das zu koordinieren – die Zusammenarbeit mit den anderen betroffenen Regionen."

Es wird gebremst und verschleppt

Mit dem Vorschlag, eine "Berliner Gedenktafel" aufzustellen, ist das Thema bei Sabine Weißler erst mal vom Tisch. Denn über die Gedenktafeln entscheidet der Historische Beirat beim Berliner Kultursenator, Klaus Lederer. Und bevor der Beirat entscheidet, prüft eine unabhängige Historische Kommission, ob ein Projekt der Gedenktafel würdig ist.
Erst am 11. März stand der Vorschlag einer Gedenktafel zum Ereignis von 1510 auf der Tagesordnung des Historischen Beirats, ein halbes Jahr nach dem Beschluss des Bezirksparlaments von Mitte. Der Beirat lehnte den Vorschlag ab. Hans Berg sieht hier Verhinderer und Verdränger am Werk.
"Das ist nach meinem Dafürhalten die Historische Kommission, weil die die Sache immer auf die lange Bank geschoben hat. Es sollte im Oktober darüber entschieden werden, es sollte im März darüber entschieden werden, und Frau Weißler sagte im Februar, sie hat eben in Erfahrung gebracht, dass das in diesem Jahr nicht kommt."


Was jahrelang auf Bezirksebene verschleppt wurde, wird nun im Hause des Kultursenators verzögert. Dabei ist Senator Lederer selbst voll des Lobes für Initiatoren wie Hans Berg und Salomea Genin.
"Es gibt in der Regel am Anfang eine sehr beherzte, eine sehr engagierte kleine Gruppe von Menschen, die sich eines solchen Anliegens annimmt, dabei auch immer etwas komisch angeguckt wird, dann sukzessive eine Anerkennung erreicht, zumindest eine temporäre Anerkennung erreicht, die dann mutig bleibt, die dranbleibt, die sich auch nicht entmutigen lässt und die am Ende dann doch einen Tropfen ins Fass bringt, der das Fass zum Überlaufen bringt."
Lederer gibt sich als erinnerungskultureller Avantgardist – aber in den Beiräten und beratenden Kommissionen wird gebremst und verschleppt.
"Ich glaube, es ist in den vergangenen drei Jahren auch nicht verborgen geblieben, dass erinnerungskulturelle Fragen, insbesondere da, wo weiße Flecken existieren oder blinde Flecken, mir persönlich extrem wichtig sind. Ich erlebe tatsächlich aber auch immer wieder, wieviel Durchhaltevermögen, wieviel nachhaltiges Dranbleiben, wieviel Penetranz im positiven Sinne gebraucht wird, um mit solchen Anliegen durchzudringen. Da ist im Übrigen tatsächlich dieses Justizverbrechen von 1510 absolut keine Ausnahme."
Ein Mann sitzt in einem Büro auf einem Sofa.
Zeigt sich verständnisvoll, Berlins Kultursenator Klaus Lederer (Linke). Für einen Gedenkort hat dieses Verständnis aber bisher nicht gereicht.© picture alliance/dpa-Zentralbild/Britta Pedersen

Bezirk und Senator bekommen kein Gedenken hin

Salomea Genin hat in den vergangenen zwölf Jahren viel Energie aufgewandt in ihrem Kampf um die Erinnerung. Trotz alledem und trotz ihres Alters wird sie nicht müde.
"Mein Wunsch wäre, dass eine Stele hergestellt wird, weil das ja viel sichtbarer ist als eine Gedenktafel. Und dass die vor der Marienkirche hingestellt wird am 19. Juli dieses Jahres."
Dazu wird es nicht kommen. Wie schon der 500. Jahrestag des Mordes an den 41 Juden verging, ohne dass eine Gedenktafel aufgestellt wurde, so auch der 510. Bezirk und Senator sind nicht in der Lage, am Ort des Prozesses einen Markstein zu setzen. Da klingen die Worte des Kultursenators zynisch.
"Wir verdanken gerade solchen immer wieder am Ball bleibenden, nachdrücklich am Thema – und zwar zum Teil nicht nur zur Freude der Regierenden – bohrenden und nicht nachlassenden Menschen – denen haben wir viel zu verdanken, was insbesondere die in der Stadtgeschichte lange Zeit verdrängten oder beiseite geschobenen Epochen und Ereignisse betrifft."
Lederer und sein Historischer Beirat favorisieren mittlerweile eine Gedenkstele. Die nächste Sitzung des Gremiums findet am 28. Oktober statt. Vielleicht werde sich das Gremium aber auch erst in seiner Sitzung im Frühjahr 2021 mit dem Thema befassen, schreibt die zuständige Referentin beim Kultursenator.
Einstweilen gilt wie schon seit Jahrhunderten:
"Berlin hat dieses Ereignis völlig vergessen", sagt Salomea Genin.
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