Verbraucherverhalten

Macht und Ohnmacht der Konsumenten

Von Caspar Dohmen · 12.12.2017
Theoretisch haben Konsumenten großen Einfluss auf Unternehmen und Märkte. Allein in Deutschland kaufen sie jährlich für mehr als 500 Milliarden Euro ein. Aber nutzen Verbraucher diesen Einfluss überhaupt, um Firmen und Konzerne etwa nach Skandalen abzustrafen?
Der Gikomba-Markt in Nairobi, größter Kleidermarkt in Ostafrika. Ein verschachteltes Durcheinander, unzählige Hütten aus Holz, Wellblech und Plastik, voll gehängt mit Kleidern, dazwischen Männer und Frauen an Nähmaschinen.
Dutzende Marktstände nebeneinander mit dem gleichen Sortiment: Schuhe für Kinder, Frauen oder Männer, Kleidung für Babys, Kinder, Jugendliche oder Erwachsene, Handtücher oder Basecaps. Dazwischen drängen sich zigtausende Kunden über die Erdwege. Joseph Muthama ist einer der Händler. Der junge Mann trägt ein Basecap mit dem Schriftzug der Stadt Seattle, obwohl er noch nie einen Fuß auf amerikanischen Boden gesetzt hat. Er beschreibt den harten Konkurrenzkampf auf dem Markt.
Joseph Muthama: "So many people go into these business, so the competition is extremely very high."

Wenn Angebot und Nachfrage aufeinander treffen

Viele würden in das Geschäft einsteigen, der Wettbewerb sei extrem groß. Das Geschehen hier entspricht einem Markt wie aus einem Ökonomie-Lehrbuch, wenn Angebot und Nachfrage aufeinander treffen: Viele Anbieter offerieren das gleiche Gut, es gibt also einen gehörigen Wettbewerb der Händler um die Gunst der Käufer.
"So people are coming around the nation to come and buy from Nairobi."
Die Kunden kämen zum Einkaufen aus dem ganzen Land nach Nairobi, erzählt Muthama. Sie haben eine große Wahlfreiheit, können etwa die Qualität der Waren und deren Preis vergleichen und mit den Händlern um den Preis feilschen. Auch öffentliche Bild über die Macht des Verbrauchers ist stark geprägt von solchen Märkten. Der Wirtschaftsminister der Wirtschaftswunders und spätere Bundeskanzler Ludwig Erhard schrieb in seinem 1957 erschienen Bestseller "Wohlstand für Alle" vom "König Kunden".
Nicht der Staat hat darüber zu entscheiden, wer im Markt obsiegen soll, aber auch nicht eine unternehmerische Organisation wie ein Kartell, sondern ausschließlich der Verbraucher.
Mittlerweile können Verbraucher via Internet sogar weltweit einkaufen, steigert das ihre Macht nicht in das Unermessliche? Tatsächlich ließen Verbraucher in der Vergangenheit immer wieder ihre Muskeln spielen, zunächst in den USA, dem Mutterland des Massenkonsums. Legendär sind etwa die Verbraucherproteste gegen überhöhte Fleischpreise Anfang des 20. Jahrhunderts. Vielerorts schlossen sich Konsumenten in den USA auch zu Vereinigungen zusammen, organisierten professionelle Produkt- und Preisvergleiche, machten Druck auf die Politik. Seit den 1980er Jahren verbreitete sich dann - vor allem von Europa ausgehend – verstärkt die Idee von der sozialen und grünen Gestaltungsmacht der Verbraucher. Oliver Geden von der Stiftung für Wissenschaft und Politik.
Oliver Geden: "Ich glaube in der Bewegung, die wir seit Ende der sechziger Jahre hatten - mit dem schönen Wahlspruch 'Das Private ist politisch' - hatten natürlich die Einzelnen die Möglichkeit, wenn sie in der politischen Arena bestimmte Forderungen nicht durchsetzen konnten, zu sagen, dann packen wir das eben zu Hause an! Es ist im Grunde genommen aus Sicht des politisch interessierten Verbrauchers auch eine Möglichkeit, mit der eigenen Ohnmachtserfahrung im politischen Raum umzugehen."

Moralisierung der Märkte

Einkaufen gehen wir ständig, wählen dagegen nur alle paar Jahre. Regelmäßig appellieren Aktivsten, Kirchenvertreter, Politiker oder Publizisten an Verbraucher, ihre Einkaufsmacht für die richtige oder gegen die falsche Sache einzusetzen. Der Soziologe Nico Stehr spricht von einer "Moralisierung der Märkte" als einer neuen Stufe in der Entwicklung kapitalistischer Märkte:
"Waren und Dienstleistungen haben nicht mehr nur einen ökonomischen Wert, sondern ihnen wird auch - wie zum Beispiel der Solarenergie – ein moralischer Wert zugeschrieben oder, wie man das heute wohl von der Atomenergie sagen kann, abgesprochen."
Konsumenten sind abhängig vom Angebot. Klingt trivial – hat aber erhebliche Konsequenzen. Wenn es kein Elektroauto gibt, kann ich keines kaufen oder bewusst nicht kaufen. Wenn es keine ethisch-ökologische Bank gibt, kann ich mein Geld nur unter dem Kopfkissen deponieren, wenn ich es zu keiner gewöhnlichen Bank bringen will. Wer im gewöhnlichen Supermarkt in den 1980er-Jahren einkaufte, fand dort keine fair gehandelte Ware, die gab es nur in Weltläden – damals noch Dritte Weltläden - und auf Kirchenbasaren, wohin nur wenige Menschen kamen.
Rolf Buser gehört zu denen, die deswegen faire Waren aus dieser Nische in gewöhnliche Supermärkte holten. Anfang der 1990er-Jahre baute Buser die Siegelorganisation Max Havelaar auf, wie das Siegel des fairen Handels in der Schweiz heißt. Im Auftrag von Entwicklungshilfeorganisationen und Hilfswerken verhandelte er damals mit den Einzelhandelsriesen Migros und Coop.

Entwicklungspolitik mit dem Einkaufskorb

"Gut, wir haben da von Entwicklungspolitik mit dem Einkaufskorb gesprochen, aber ein Hauptargument war, wenn ihr den Konsumenten keine Alternative bietet, dann macht ihr euch, macht ihr die Konsumentinnen unfreiwillig zu Komplizen der Ausbeutung und der Armut, unfreiwillig. Und das könnt ihr doch euren Kunden nicht antun. Und das hat mancher Handelsvertreter sogar begriffen."
Der Kunde bekam die Wahlfreiheit und konnte zwischen fair und möglicherweise unfair hergestellten Produkten wählen. Erst kam fairer Kaffee in die Supermarktregale, später Tee, Reis, Kakao, Orangensaft und andere Produkte.
Der Norden Indiens. Auf dem Beifahrersitz eines Motorrads geht es von dem Dorf Rapar durch die flache Landschaft zu einem Feld von Kalji Bhai. Der große, hagere Mann wirkt zufrieden und stolz.
Auf drei Morgen – gut 12.000 Quadratmetern - baut er Baumwolle an. Rohstoff für ungefähr 2400 T-Shirts. Der Bauer kann mit seiner Familie davon leben und ist nicht verschuldet wie viele andere indische Kleinbauern. Denn seine Kooperative verkauft fair gehandelte Biobaumwolle nach Europa.
Jayvantsinh Zala, selbst Kleinbauer und im Vorstand der Kooperative, nennt einen weiteren Grund für das wirtschaftliche Wohlergehen der 500 Mitglieder. Statt bei Monsanto & Co kauften die Bauern ihr Saatgut in der Kooperative, zahlen statt 2000 Rupien nur 20 Rupien je Kilo. Aufgebaut haben sie die Saatgutherstellung mit Geld des fairen Handels. In diesem Fall haben Verbraucher nachweisbar einen positiven Einfluss.
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"Konsumenten sollen nachvollziehen können woher ihre Produkte kommen."

Skandale und die Rolle der Verbraucher

Das Franz-Hitze-Haus – eine katholische Akademie – in Münster. Am ersten Adventswochenende sind 50 Teilnehmer zu einem zweitägigen Seminar gekommen. Es geht um Macht und Ohnmacht von Verbrauchern. Der Volkswirt Friedel Hütz-Adams vom Südwind Institut trifft regelmäßig Kakaobauern in Westafrika.
"Da steht eine Frau auf und sagt, sie könnte dieses ganze Geschwätz über Kinderarbeit in Westafrika nicht mehr hören, mit dem momentanen Preisverfall, den wir bei Kakao haben, wäre für sie klar, dass sie sich während der nächsten Ernte keine erwachsenen Erntehelfer mehr leisten kann. Und um dann überhaupt noch ein Einkommen zu erzielen, würde sie ihre Kinder aus der Schule nehmen müssen."
Selbst wer als Verbraucher ganz bewusst auf gesiegelte Produkte setzt, kauft möglicherweise dann am Ende doch Kakao, der von Kindern geerntet wurde. Denn wenn der Weltmarktpreis für Kakao niedrig ist, haben Bauern bisweilen gar keine andere Wahl, als Kinder zu beschäftigen, auch wenn sie damit gegen Gesetze und die Statuten von Siegeln verstoßen, die Kinderarbeit ausschließen. Das Siegel des fairen Handels garantiert als einziges Label Bauern einen Mindestpreis. Aber der liegt nur bei 2000 Dollar je Tonne Kakao Weltmarktpreis, viel zu wenig findet Hütz-Adams, der den fairen Handel in einem Dilemma sieht.
Friedel Hütz-Adams: "Das Risiko ist nur, wenn die wirklich den Mindestpreis drastisch erhöhen, das sie die Bauern dann ihren Kakao nicht mehr loswerden. Wir haben im Moment keine Mechanismen, die Unternehmen dazu zwingen in ihren Wertschöpfungsketten Menschenrechte einzuhalten."
Ganz so einfach ist es also nicht mit dem Einfluss des Verbrauchers. Trotzdem setzen reihenweise Politiker, Unternehmer und Experten auf die Macht des Verbrauchers statt staatlicher Regulierung. Wichtig wäre es deswegen zu wissen, wie sehr Verbraucher überhaupt bereit sind, gezielt einzukaufen?
Das ist die Nähfabrik, die in Bangladesh eingestürzt ist.
Das ist die Näh-Fabrik, die in Bangladesh eingestürzt ist (Bild: picture alliance / dpa)© picture alliance / dpa
Am 24. April 2013 stürzte der neunstöckige Gebäudekomplex ein. 1135 Menschen starben, mehr als 2400 wurden bei dem Unglück in Bangladesch verletzt. Weltweit verbreiteten sich die Bilder von den Trümmern und Toten. Dann folgten die Berichte von Menschen, die erzählten, dass sie trotz Rissen weiter in dem Gebäude arbeiten mussten, welches eigentlich gar nicht für den Zweck geeignet war. Die Katastrophe katapultierte menschenunwürdige und lebensgefährliche Arbeitsbedingungen in Textilfabriken auf die globale Tagesordnung. Christiane Schnura, Koordinatorin der Kampagne für Saubere Kleidung in Deutschland.
Christiane Schnura: "Damals nach Rana Plaza, als die Welt aufgeschrien hat und gesagt hat 'Nein, so etwas darf es nie mehr wieder geben' - also da bewegt sich dann was, es war vor allem der öffentliche Druck, der Aufschrei der Medien, der Aufschrei der Leute, die gesagt haben 'Nein ich will keine Kleidung kaufen, die mit Blut befleckt ist'."
Die Clean Cloth Campaign – wie sie international heißt – entstand in den 1980er-Jahren in den Niederlanden nach einem Skandal bei einem Zulieferer von C&A. Erst drei Jahrzehnte später rückte mit dem Unglück von Rana Plaza das Thema aus der Nische in den Mainstream. Christiane Schnura ist Expertin bei einem Workshop am Fraunhofer Institut für System- und Innovationsforschung in Karlsruhe. Eingeladen hat die Forscherin Miriam Bodenheimer – sie schildert, wie man sich landläufig die Reaktion von Verbrauchern auf Skandale vorstellt:
"Na ja, es gibt ja so dieses ganz klassische Beispiel, dass Leute sagen, es gibt ein, sagen wir mal ein Trigger-Ereignis, also sozusagen ein großer Skandal zum Beispiel. In der Textilwirtschaft könnte das der Einsturz von Rana Plaza sein. Und dann wird häufig behauptet 'Na ja, das wird dann die Werte der Kunden verändern, was dann wiederum dazu führt, dass die Nachfrage der Kunden sich ändert und dadurch ändert sich dann das Unternehmensverhalten, weil die Unternehmen merken, es gibt eine Nachfrage nach fairerer Mode und nach nachhaltigerer Mode'. Und wir stellen schon so ein bisschen in Frage, ob dieser Zusammenhang wirklich funktioniert.

Der ökonomische Spielraum hat sich ausgeweitet

Unser ökonomischer Spielraum hat sich enorm ausgeweitet. Unsere Urgroßeltern gaben im Schnitt 80 Prozent ihres Einkommens für Grundbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung und Unterkunft aus. Wir geben dafür 30 bis 40 Prozent unseres Einkommens aus. Denn die Reallöhne stiegen in den vergangenen hundert Jahren um den Faktor vier bis fünf, aber davon haben längst nicht alle Menschen etwas:
Christiane Schnura: "Ich meine, es war immer, immer schon so, dass wenn man Vorträge gehalten hat, häufig die Frage kam, ja aber sie müssten doch hier auch gucken wie die Menschen hier leben. Sie fordern, dass wir öko-faire Kleidung kaufen, aber wie soll das gemacht werden mit den Einkommen, die die Menschen hier in Deutschland haben? Das war immer schon ein Argument, aber ich denke, das nimmt zu."
Die Macht, mit dem Einkaufskorb etwas zu verändern, ist eben ziemlich ungleich verteilt. Aber wer die Macht hat, nutzt sie häufig ebenfalls nicht. Jeder kennt die Erfahrung, zu wissen was richtig wäre, und trotzdem anders zu handeln. Das gilt auch für unser Handeln als Konsument.
Miriam Bodenheimer: "Das eine ist, dass der Kunde natürlich ein Problembewusstsein für die negativen Konsequenzen seines Handeln entwickeln muss. Also, er muss merken, dadurch, dass ich dieses unfair hergestellte T-Shirt kaufe, gibt es negative Konsequenzen für andere Menschen. Dann im nächsten Schritt muss er feststellen, ich empfinde da eine persönliche Verantwortung, ich bin der Meinung, dass ich verantwortlich bin, dass genug sozialer und gesellschaftlicher Druck auch auf mich ausgewirkt wird, dass ich da etwas verändern sollte und nicht immer nur die anderen.
Wenn ich mich selber verantwortlich fühle, muss ich als nächstes das Gefühl haben, dass das Ziel, was ich mir vorstelle, irgendwie realisierbar ist, dass es also realistisch ist, dass sich die Bedingungen in den Wertschöpfungsketten irgendwann mal verändern und dass ich dazu beitragen kann, - auch da wieder, wenn das nicht der Fall ist, steige ich aus diesem Verhaltensveränderungsprozess aus und es rechtfertigt mein Nichthandeln."
Auszeichnungen auf den Produkten sollen Verbrauchern bei der Auswahl helfen. Vorbei sind die Zeiten, als Verbraucher beim Einkaufen nur auf Preis, Qualität und Image eines Produkts achten konnten. 1978 hatte mit dem Blauen Engel in Deutschland ein staatliches Gütesiegel Premiere. Nun konnten Verbraucher auf gewisse Umweltstandards eines Produkts achten. Mittlerweile gibt es eine Unmenge von Kennzeichnungen, wobei die allerwenigsten nach gesetzlichen Vorgaben erfolgen, wie beim EU-Biosiegel. Andere werden von Umwelt- und Sozial-Initiativen, der Großteil jedoch von der Wirtschaft selbst geschaffen, wie immer neue "bio"- oder "fair"-Eigenmarken zeigen. Hinzu kommen unzählige Branchenstandards. Was prinzipiell eine gute Idee ist, schafft heute mehr Verwirrung als Orientierung für Verbraucher.
Sandra Dusch Silva: "Viele Konsumentinnen und Konsumenten haben auch nicht die Zeit, sich intensiv mit allen Details zu beschäftigen. Sie fragen uns dann immer, könnt ihr nicht einen Einkaufsführer machen - Nummer 1, Nummer 2, Nummer 3, da kaufe ich und gut ist alles."
Renate Künast im Bundestag am 22.5.2015
Renate Künast, Vorsitzende des Bundestags-Rechtsauschusses, Renate Künast (Grüne)© picture alliance/dpa/Rainer Jensen
So einfach sei es nicht, sagt Sandra Dusch Silva – ebenfalls bei der Kampagne für saubere Kleidung aktiv – trotzdem hat sie sich hingesetzt und einen Einkaufsführer geschrieben: Label-Labyrinth. Die Politik sollte mehr tun, findet sie. Tatsächlich gibt es Vorschläge. So fordert die Grünen-Politikerin Renate Künast etwa für Textilien ein neues EU-Gesetz:

"Eine Transparenzrichtlinie, die heißt, per Mausklick finde ich heraus: Wo kommt es her? Welchen Weg ist es gegangen? Bis zurück auf die Baumwollfelder in Westafrika oder in den USA. Halten die die Arbeitsnormen der International Labor Organisation ein? Gab es da Kinderarbeit, Sklavenarbeit, gab es Vereinigungsfreiheit? Wir müssen für die Unternehmen hier ein Entdeckungsrisiko schaffen, das heißt, eine Umweltgruppe oder eine Menschenrechtsgruppe kann hier sagen, dies Kleid ist da von Elf-, Zwölfjährigen genäht worden."
Aktivisten könnten dann leichter Missstände öffentlich anprangern, Medien darüber berichten und Konsumenten die Missetäter durch Kaufverweigerung abstrafen.
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Die Schaubühne in Berlin. Der Theatermacher Milo Rau führt Anfang November 2017 ein aufwändiges Theaterexperiment durch. Er organisierte ein fiktives Weltparlament mit realen Vertretern aus Politik, Zivilgesellschaft und Gewerkschaften. Drei Tage beraten sie in verschiedenen Runden. Zur Sprache kommen auch die Zustände in der Lieferkette, die etwa bei Textilien vom Baumwollfeld bis zur Näherei rund zehn Schritte umfasst. Neben dem Pflücken der Baumwolle gehören dazu das Spinnen der Fasern und das Weben und Färben der Stoffe.
Zehra Khan: "All actors, from workers to producers, to retailer, to consumer, can be held responsible for the violation of right in the supply chain. Thank you."
Zehra Khan - Gewerkschafterin aus Pakistan – möchte für die Verletzung der Menschenrechte der Arbeitenden entlang der Lieferkette nicht nur Produzenten und Handel zur Rechenschaft ziehen, sondern auch die Konsumenten. Khan spielte nach dem Brand der Textilfabrik Ali Enterprises im September 2012 in Karatschi mit 259 Toten und 45 Verletzten eine wichtige Rolle bei der Organisation der Opfer. Sie kennt sich mit der Lebensrealität der Frauen und Männer in den Nähbetrieben Pakistan aus, egal ob in Fabriken oder an Heimarbeitsplätzen.
Auf ihren Beitrag reagiert unter anderem der Entwicklungspolitiker Uwe Kekeritz.
"Uwe Kekeritz, Bündnis 90 – Die Grünen, Mitglied des Bundestages, ich habe auch ein Problem mit dieser Aussage, dass die Consumer zur Rechenschaft gezogen werden sollen. Es ist hier in Deutschland natürlich bewusst, dass der Konsument und die Konsumentin Verantwortung trägt und diese Verantwortung muss geschult werden, muss weiterentwickelt werden.
Aber es ist auch ein politisches Zeichen, dass sich die Politik hinter den Konsumenten versteckt und sagt, wenn die Konsumentinnen und Konsumenten alles richtig machen, dann braucht es überhaupt keine politischen Entscheidungen mehr. Und das ist genau das, was ich auf keinen Fall haben möchte. Politik muss selbstverantwortlich agieren."
Offensichtlich geriet kein Konzern bislang in existentielle wirtschaftliche Schwierigkeiten, weil er nach einem Skandal von Verbrauchern in großem Stil abgestraft worden wäre. Oft kann man jedoch gar nicht sagen, ob empörte Verbraucher eine Firma boykottiert und damit deren Umsatz- oder Gewinn geschmälert haben. Denn Firmen müssen genaue Zahlen über ihre wirtschaftliche Entwicklung nur veröffentlichen, wenn sie an der Börse notiert sind.
Christiane Schnura: "Wir reden ja hier zum Teil von Familienunternehmen."
Wie etwa dem Textildiscounter KiK.
"Und diese Familienunternehmen brauchen so gut wie gar nichts veröffentlichen. Das heißt – also im Gegensatz zum Beispiel zu einer Aktiengesellschaft -, weiß ich überhaupt nicht, gab es da Umsatzeinbrüche? Also das heißt, ich weiß überhaupt nicht, wie da wirklich die Verbraucherinnen reagieren. Vielleicht interessiert die das gar nicht und die kaufen da trotzdem ein, ich weiß es nicht."

Die Faktenlage ist dünn

Das Karlsruher Fraunhofer Institut berät die Politik, liefert etwa unterschiedliche Szenarien für die Entwicklung gesellschaftlicher Prozesse. Um sinnvoll politisch entscheiden zu können, wäre es wichtig zu wissen, ob Verbraucher auf Skandale jenseits von Absichtserklärungen tatsächlich reagieren. Die Faktenlage ist dünn.
Miriam Bodenheimer: "Soweit wir wissen, gibt es auch noch keine repräsentativen Studien, die wirklich klar darstellen, wie hoch der Prozentsatz der Kunden ist, der ein stark ausgeprägtes Problembewusstsein für diese Themen in der Textilbranche oder auch in der Elektronikbranche hat."
Christiane Schnura registriert auch eine zunehmende Enttäuschung bei Verbrauchern.
"Aber, was ich festgestellt habe, ist, dass das Misstrauen ungeheuer gewachsen ist. Wir erleben hier in vielen Bereichen, ob es in der Politik ist, eben im Bereich auch Lebensmittel und und und, dass die Leute guten Gewissens einkaufen wollen, auch zum Teil mehr Geld bezahlen für ihre Produkte, und dann erfahren sie im Nachhinein: War alles ein Blöff, die Sachen sind doch nicht ökologisch einwandfrei hergestellt, die Tiere haben doch gelitten, ja und da ist im Bereich der Textilien eben auch dieses große Misstrauen.
Ja, da ist zwar jetzt so ein Label drauf und eigentlich heißt es auch, das Label ist vertrauenswürdig, aber ich habe doch so ein Restmisstrauen, weil ich schon so oft enttäuscht worden bin, also aus meiner Sicht nimmt das zu.

Kampagne für saubere Kleidung

Durch Konsumieren die Welt verändern, klingt ziemlich einfach. Wer es jedoch bewusst macht, merkt bald wie schwierig manche Entscheidung sein kann. Ein Land wie Bangladesch oder eine einzelne Firma wie Amazon boykottieren? Das halten die betroffenen Arbeitnehmer und selbst Aktivisten für den falschen Weg. So riet etwa die Kampagne für saubere Kleidung nach dem Unglück von Rana Plaza davon ab, generell Textilien aus Bangladesch zu boykottieren.
Sandra Dusch Silva: "Damit würde man ja nur vergleichbare Strukturen in Vietnam oder in Kambodscha aufbauen. Also, es ist ja nicht so, dass man dadurch irgendwas wirklich nennenswert in Bangladesch verändert und verbessert. Würde man damit was verbessern können, dann würde ich sofort sagen 'Ja, Boykott', aber es ist eine Schwalbenindustrie, es wandert von einem Land, wo es billiger ist, zum nächsten. Und wenn die Konsumentinnen, wenn es hier so einen Boykottaufruf gegen Bangladesch gibt, glaube ich nicht, dass es den Leuten dort vor Ort was bringt und die Leute vor Ort glauben das auch nicht."
Peter Grottian: "Will man den Boykott und will man ihn auch möglicherweise gegen den Willen des Amazon-Arbeiters? Und je nachdem muss ich dann eigentlich entscheiden, ob man das macht oder nicht macht. Wenn ich nur darauf gucke 'Wie sind die Beschäftigten da darauf eingestellt?', dann verkürze ich im Grunde genommen. Eigentlich muss ich den Boykott immer als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe irgendwie sehen - und nicht nur gucken, was ist da im Betrieb los, sondern warum wird das Produkt in vieler Hinsicht angegriffen, warum ist das Mittel des Boykotts möglicherweise angemessen."
Peter Grottian bei einer Pressekonferenz im Januar 2017
Peter Grottian bei einer Pressekonferenz im Januar 2017© imago/Rainer Zensen
Der Sozialwissenschaftler Peter Grottian ist emeritierter Professor der Freien Universität Berlin und unter anderem wissenschaftlicher Berater bei Attac.
"Ich glaube, der wahre Boykott und der wahre zivile Ungehorsam ist eigentlich immer damit verbunden, dass man eben auch Nachteile für sich in Kauf nimmt und es ganz bewusst macht. Das ist ja auch die moralische Überzeugung, in der diese Menschen dann handeln und wo sie, glaube ich, dann auch andere Menschen erheblich dafür gewinnen können, dass sie als Vorreiter weiter in einer solchen zivilgesellschaftlichen Auseinandersetzung für sich als Argument haben: 'Wir finden das Ausmaß des Unrechts so groß, dass wir sogar Nachteile für uns praktizieren und machen es gleichwohl.'"

Trotz Skandale - von einem zum anderen Absatzerfolg

Wie schwer dies vielen Zeitgenossen fällt, zeigt das Beispiel Apple. Trotz der Skandale um menschenunwürdige Arbeitsbedingungen bei dem Hauptlieferanten Foxconn in dessen chinesischen Fabriken und einer Selbstmordserie, eilte der US-amerikanische Konzern von einem zum anderen Absatzerfolg. Wer will schon auf das Statussymbol verzichten? Solange Verbraucher nur meckern, aber den Marken trotzdem treu bleiben, können Konzerne sich mit Lippenbekenntnissen durchmogeln. Für überschätzt hält die Verbrauchermacht auch der Aktivst Thilo Bode, Gründer der Organisation Foodwatch:
"Bei der politischen Mobilisierung stellen wir fest, dass wie bei vielen Problemen, wir dem Verbraucher erst sagen müssen, dass ein Problem besteht und unsere Mission ist sozusagen dem Verbraucher zu erklären, dass er nicht alles oder sogar das Wenigste durch seinen Einkaufskorb regeln kann, sondern das wir ein Fehlfunktionieren des Marktes vorliegen haben, wo man die Regeln ändern muss, also nicht neue Regeln, sondern andere Regeln."
Verbraucher können nur Druck auf Konzerne ausüben, wenn sie deren Produkte kaufen oder bewusst liegen lassen können. Klingt banal, hat aber erhebliche Konsequenzen. Wer genau hinschaut, bemerkt, dass es ziemlich viele Firmen gibt, die keine Waren für den Endverbraucher herstellen, etwa Passagierflugzeuge, Panzer oder Chemikalien. Und in großen Teilen der Wirtschaft sinkt die Wahlfreiheit, weil es nur noch wenige oder sogar einen dominierenden Anbieter gibt.
Bestes Beispiel ist die digitale Wirtschaft. Google besitzt etwa bei Suchmaschinen einen globalen Marktanteil von um die 90 Prozent. Kai Bender, IT-Experte bei der Beratungsfirma Oliver Wyman:
"Und das führt dazu, dass wir schon Situationen haben, in der man so auf neudeutsch sagt: The winner takes it all."
Mit der Verbreitung des Internets hatte sich zunächst der Wettbewerb zwischen Anbietern erhöht: Verbraucher hatten nun bessere Vergleichsmöglichkeiten und konnten rund um die Welt einkaufen. Dies gilt bis heute für viele Waren wie Textilien, Elektrogeräte oder Spielzeug. Aber teilweise nahm in der digitalen Ökonomie die Transparenz zuletzt wieder ab. IT-Experte Claus Herbolzheimer, ebenfalls Partner bei der Unternehmensberatung Oliver Wyman:

"Ich glaube tatsächlich, dass es da eine Informationsasymmetrie gibt. Wahrscheinlich ist den wenigsten bewusst, dass die Preisbildung in einem Onlineshop davon abhängt, von was für einem Gerät ich die Webseite aufrufe, wenn das ein Gerät ist, dass eher einer betuchteren Klientel zugeschrieben wird, dann habe ich da auch einen anderen Preis am Ende des Tages dahinter, zumindest bei manchen Anbietern. Auch die Frage wie häufig ich mich jetzt nach einem Hotel in der Stadt erkundige, selbst wenn ich es nicht buche, wird dazu führen, dass es eine unterschiedliche Preislogik dahinter gibt."
Otto Normalverbraucher füttert digitale Unternehmen ständig weiter mit Daten und gibt ihnen damit mehr Einflussmöglichkeiten auf ihn selbst.
Claus Herbolzheimer: "Da haben wir sehr, sehr viel noch zu tun auf einer gesellschaftlichen Ebene. Das ist nämlich aus meiner Sicht der einzige Bereich, in dem man das wirklich steuern kann. Der Einzelne muss in einem gewissem Kontext entscheiden können, was er freigeben will und wenn man sich heute Studien anschaut, dann ist der Großteil der Bevölkerung fröhlich bereit, alle seine Daten herzugeben, wenn es dafür etwas günstiger gibt. An dem Hebel glaube ich, muss man sehr, sehr intensiv drehen in den nächsten Jahren."

Mehrfach zerschlugen US-Regierungen Unternehmen

Die Machtverschiebung von Verbrauchern zu Konzernen hat jedoch nicht nur etwas mit Technik zu tun, sondern auch mit einer anderen ökonomischen Bewertung von Märkten. Je mehr Anbieter in einem Markt konkurrieren, umso besser geht es der Gesellschaft. Nach dieser Maxime handelten die Regierungen der westlichen Industrieländer lange Zeit und schufen ein starkes Wettbewerbsrecht. Mehrfach zerschlugen US-Regierungen sogar Unternehmen, etwa Anfang des 20. Jahrhunderts das Ölimperium von John D. Rockefeller oder noch in den 1980er-Jahren den Telefonriesen AT&T.
Google-Logo auf dem Firmencampus in Mountain View
Google-Logo auf dem Firmencampus in Mountain View© picture-alliance / dpa / Christoph Dernbach
Auch heute fordert mancher die Zerschlagung von Internetgiganten wie Google. Aber man kann sich schwer vorstellen, dass Regierungen dies heute tun würden. Denn mittlerweile hat sich eine andere Denkweise durchgesetzt - die Konsumentenwohlfahrt. Hier geht es weniger um Wettbewerber als Effizienz. Die Auswirkungen beschreibt der Soziologe Colin Crouch in seinem Buch "Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus".
"Während die Wahlfreiheit der Konsumenten ein demokratisches Konzept ist, bei dem der einzelne Verbraucher selbst entscheidet, was er will, ist die Idee der Konsumentenwohlfahrt ein technokratisches Konzept: Hier entscheiden Richter und Wirtschaftswissenschaftler, was gut für den Verbraucher ist. (…) Die Konsumentenwohlfahrt soll als genereller Effizienzgewinn der gesamten Volkswirtschaft verstanden werden."
Die Theorie kümmere sich aber nicht darum, wie dieser Gewinn unter konkreten Personen verteilt wird. Es reicht ihr, dass ein gesamtwirtschaftlicher Nettogewinn erzielt wird, ganz egal, wo er sich niederschlägt.
Diese geballte wirtschaftliche Macht hat jedoch Folgen – sie schränkt nicht nur die Wahlfreiheit von Konsumenten, sondern selbst von Staaten ein. Einfluss darauf nehmen kann der Einzelner kaum beim Einkaufen, sondern nur die Gemeinschaft.
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