Verblassendes Menetekel

Von Florian Hildebrand · 26.04.2006
Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl vor 20 Jahren gilt als das Menetekel der Moderne. Mit dieser Katastrophe schien der Machbarkeitswahn, dem die Menschen mit ihrer Technik verfallen waren, eine Grenze gefunden zu haben. Doch für die internationale Wissenschaft ist die Atomkraft noch längst nicht erledigt.
"Ein paar Sekunden, nachdem der Notabschaltknopf gedrückt worden war, gab es einen Riesenschlag, einen schmetternden Knall, als ob es ein Druckkessel zerreißt, und wir hörten die ganze Konstruktion der Turbinenhalle einstürzen.
Etwas Ungeheuerliches war passiert. Die gesamte Halle war zerstört, und der Reaktor leuchtete in einem dunklen Rot."

Tagesschau: "Guten Abend, meine Damen und Herren, in dem sowjetischen Kernkraftwerk Tschernobyl ist es offenbar zu dem gefürchteten GAU gekommen, dem größten anzunehmenden Unfall. Auch drei Tage nach dem Ausbruch ist der Nuklearbrand noch immer nicht unter Kontrolle."

"Die Wettersituation hat sich jetzt ein bisschen verändert. Die Windrichtung hat sich gedreht, und wir bekommen jetzt nach Süddeutschland ganz schwach eine Ostkomponente, das heißt die Luft kommt direkt aus dem nördlichen Schwarzmeerraum in den nächsten Tagen zu uns."

Tagesschau: "Die Bundesregierung in Bonn erklärte, für die Menschen hierzulande bestehe keine gesundheitliche Gefährdung durch erhöhte radioaktive Strahlung."

Deutscher Wetterdienst: "Außer Wetterdaten gehen hier auch laufend die Radioaktivitätsmessungen ein. Allerdings wurde am Nachmittag den Offenbacher Meteorologen vom Bundesinnenminister untersagt, die Werte bekannt zu geben."

Radioreportage: "München heute Abend: die Jodkonzentration und die Gammadosisleistung, sprich die Radioaktivität hat das fünf- bis sechsfache des Normalwertes erreicht. Nirgendwo steigen derzeit die Werte wie in München, erklärte das bayerische Umweltministerium von wenigen Minuten."

Josef Vogl, bayerisches Umweltministerium: "Die Kontaminationen bewegen sich bis zu 30-40.000 Bq/qm, es wird sowohl Jod wie Cäsium gemessen."

Radioreportage: "Die Kinder auf Spielplätzen waren stärkerer Strahlung ausgesetzt als Ingenieure in Kernkraftwerken. Bis zu 400.000 Bq wurden in Süddeutschland am Boden gemessen, ab 37.000 Bq muss in Labors Schutzkleidung getragen werden."

Dokumentarfilmer Aleksander Titchkow: "Als wir den Reaktor zum ersten Mal sahen, konnten wir den Blick nicht abwenden. Es erschien uns, als starre uns ein bedrohliches, intelligentes Lebewesen an. Ein Lebewesen, das tötet, ohne sich zu bewegen."

Wolfgang Köhnlein, Professor für Strahlenbioloige an der Universität Münster war bis Ende letzten Jahres Mitglied der UNSCEAR, der UNO-Strahlenschutzkommission. Als junger Wissenschaftler hatte er seine Doktorarbeit im ehemaligen Kernforschungszentrum Karlsruhe geschrieben. Zum überzeugten Kernkraftbefürworter war er 1973 geworden. Damals erpresste die Organisation Erdöl exportierender Länder OPEC den Westen mit hohen Preisen. Zum ersten Mal führte die OPEC auf diese Weise den betroffenen Ländern vor Augen, wie sehr Wirtschaft und Wohlstand an den arabischen Ölquellen hing und noch heute hängt. Da bot sich, dachte Köhnlein, die Kernenergie doch als gute Alternative an.

Doch im März 1979 fiel im amerikanischen Atomkraftwerk Harrisburg ein Kühlsystem aus; ein Teil der Brennelemente schmolz und zerstörte den Reaktor. Radioaktivität in hohen Dosen gelangte in die Umwelt; unverhältnismäßig viele Menschen bekamen Krebs und Schilddrüsenerkrankungen. Jetzt beginnt Köhnlein zu zweifeln. Von den Zehntausenden Hiroshimabomben-Opfern weiß er, was radioaktive Strahlen mit Menschen anrichten können. Und er erinnert sich an 1957. Damals war in einem der ältesten Kernkraftwerke überhaupt, im englischen Windscale ein Brand ausgebrochen. Eine massiv radioaktive Wolke hatte den Schornstein verlassen und sich über die Umgebung verteilt.

Was für eine tödliche, unbeherrschbare Gefahr, denkt Köhnlein, züchtet sich die Menschheit da heran. Als hätte es noch eines Beweises bedurft, ist es schließlich Tschernobyl, das ihn restlos überzeugt:

"Die Ereignisse, die sich in der Nacht am 26. April abspielten, wurden von den dort Dienst habenden Leuten gar nicht realisiert. Sie haben das nicht nach oben weitergemeldet, da nicht sein kann, was nicht sein darf; und die in Moskau haben das erst gar nicht zur Kenntnis genommen. Erst nach zwei, drei Tagen begannen die Evakuierungen von Pripjat, von der Stadt, die am Pripjat liegt, und das war schon eine ganz schlimme Zeit für die, die dort den ersten Mai gefeiert haben in der freien Natur und die Strahlung abbekommen haben, die über sie hinweg zog und die am Boden schon war, da sind viele Menschen mit hohen Dosen belastet worden."

Noch nie war in friedlichen Zeiten so viel Radioaktivität in die Umwelt geraten wie in den Tagen nach dem 26.April 1986:

"Wenn man sich das so überlegt, wie viel Radioaktivität an die Umwelt gekommen sind, das sind 1000 Hiroshimabomben mindestens, wenn nicht noch mehr. Die Radioaktivität der Hiroshimabombe war ja schon beachtlich, das hier war tausend Mal mehr."

Unmittelbar getroffen hat es in Tschernobyl die 800.000 Liquidatoren, also jene Feuerwehrleute und Armeeangehörige, die den zerstörten Block vier aufzuräumen hatten:

"Davon sind 200.000 oder 250.000 krank oder schon nicht mehr am Leben."

Wenigstens 15.000 Liquidatoren sollen inzwischen an der Strahlenkrankheit gestorben sein. Eindeutige Zahlen gibt es aber nicht. Die Internationale Atomenergieorganisation und die Weltgesundheitsorganisation WHO sprechen von sehr viel weniger Toten. Die Zahlen sind inzwischen zum Argument im Streit um Wohl und Wehe der Kernenergie geworden.

Die Liquidatoren, die die Explosionsreste des Reaktors beseitigt hatten, waren radioaktiven Dosen von über einem Sievert ausgesetzt. Drei Sievert gelten als tödlich.
"Da ist es so, dass als erstes Symptom die Haare ausfallen, dass man teilweise auch Verbrennungsmerkmale hat an der Haut. Die haben ja mit bloßen Händen die Brocken angefasst, da haben sie irre hohe Dosen an den Pfoten abbekommen, dass sie also Verbrennungsmerkmale haben und nachdem die Haare ausfallen, ist immer ein Zeichen dafür, dass sie erhebliche Dosen abbekommen haben. Ein erstes Zeichen ist auch, dass es den Leuten auch schlecht wird, dass sie Durchfall bekommen und dass sich die Krankheit immer weiter entwickelt, dass das Immunsystem belastet wird, und es kommen Infektionserkrankungen hinzu, und das Ganze verschlimmert sich."

Möglicherweise bis zu einem qualvollen Tod. Wer nicht innerhalb der ersten Monate an der Strahlenkrankheit stirbt, trägt eine Zeitbombe im Leib:

"Die andere Seite ist, dass die Zellen und die DNS in den Zellen so stark verändert und geschädigt wird, dass wenn die akute Krankheit abklingt, immer noch Schäden weiter gegeben werden an Tochterzellen und dass das zu einer Krebserkrankung nach 10, 15 Jahren führen kann."

In einer eigenen Stiftung hilft Wolfgang Köhnlein den vielen kranken Überlebenden von Tschernobyl, und mit ihm Edmund Langfelder, Professor für Strahlenbiologie an der Universität München. Beide sind seit der Öffnung des Eisernen Vorhangs immer wieder ins Tschernobyl-Gebiet gefahren, um medizinische Unterstützung zu leisten:

Lengfelder: "Wir haben in der Region um Tschernobyl gesehen, allein in Weißrussland gibt es bisher etwa 12 bis 13.000 Krebsfälle der Schilddrüse, aber 100.000 von nicht bösartigen Schilddrüsenerkrankungen, weil durch Zellwucherung oder -untergang viel mehr Leute betroffen sind."

Köhnlein: "Nun stellt man fest, dass bei den Kindern, die von Müttern geboren werden, die als junge Menschen der Strahlenbelastung ausgesetzt waren, die damals vier, fünf, sechs Jahre alt waren, die sind jetzt 24, 25 usw. sind, kriegen eigene Kinder, dass da die Zahl der missgebildeten Kinder weit aus größer ist als in der Population der nicht Strahlen belasteten. Das sind erschreckende Ergebnisse, die da mitgeteilt werden. Es steigt die Zahl der Brustkrebserkrankungen bei Frauen, und die Magenkrebserkrankungen scheinen auch höher zu sein."

Erst als die Grenzen zwischen Ost und West geöffnet wurden, kam ans Licht der Öffentlichkeit, was mit dem Reaktor von Tschernobyl in der Nacht zum 26. April eigentlich geschehen war.

Der GAU, der größte anzunehmende Unfall begann als Experiment. Die Bedienungsmannschaft wollte einen Unfall simulieren, bei dem der Reaktorkern Kühlmittel verliert und gleichzeitig die Stromversorgung ausfällt. Dazu mussten sie die Sicherheitssysteme abstellen. Die Ingenieure glaubten, den Kern trotzdem so lange kühlen zu können, bis der Reaktor abgeschaltet war.

Was die Kernschmelze schließlich auslöste, war eine mehr als fatale Kombination aus technischen Mängeln, einem geradezu haarsträubend zusammengestellten Versuchsprogramm und menschlicher Unzulänglichkeit.

Jedenfalls drosseln die Ingenieure den Reaktor erst ein Mal auf ein Leistungsminimum herunter. Dann wechselt die Schicht. Die Ablösung, nur unzureichend informiert, was vorher geschehen ist, beginnt das Experiment. Hilflos muss die Mannschaft kurze Zeit später zusehen, wie die Leistung des Reaktors in rasendem Tempo zunimmt und schließlich überkritisch wird. Immer noch hofft sie, dass die sich förmlich überschlagende Kettenreaktion wieder beruhigt. Doch der Reaktor jagt weiter in die Höhe, Druckrohre bersten, der Kern explodiert, die Kernstäbe fangen an zu brennen. Der Sicherheitsdeckel aus schwerem Beton hebt sich unter dem enormen Druck und es entweicht eine radioaktive Wolke, wie sie die Welt nach Hiroshima noch nicht erlebt hat.

An diesem 26. April zeigte die Kernenergie der Öffentlichkeit ihre mörderische Fratze. Da war ein nukleares Feuer entfacht worden, das zwar Energie in gigantischen Mengen liefern kann, aber andererseits auch nicht zu beherrschen ist. Kernenergie, so musste es den meisten vorkommen, ist eine Zeitbombe.

Willy Brandt: "Wir halten die Nutzung der Kernenergie nur für eine Übergangszeit für verantwortbar und wir werden die Voraussetzungen dafür schaffen, auf die Kernenergie auf Uranbasis auf Dauer verzichten zu können."

Heute, 20 Jahre später, denken Energiepolitiker besorgt an die Importabhängigkeit von Öl und Gas, sie denken an den wachsenden Strombedarf und sie denken an das Treibhausgas Kohlendioxid, das die Erdatmosphäre aufheizt. Mit der Kernenergie der fortgeschrittenen Generation könnte man, so glauben sie, alle diese Probleme elegant lösen.

So unterschiedliche Staaten wie die USA, Russland, China und die Europäische Union arbeiten zusammen, um neue, modernere Kernkraftwerke zu entwerfen.

Zu verbessern gibt es einiges - zum Beispiel an der Sicherheitstechnik, am Nutzungsgrad der Brennelemente und so weiter. Dritte Generation nennen die Fachleute die Bautypen, an denen sie jetzt konstruieren. Der Name: Europäischer Druckwasserreaktor EPR, European pressurized water reactor:

Birkhofer: "Das ist ja eine Entwicklung, an der wir oder die Deutschen sehr stark mitgewirkt haben. Es ist eine Entwicklung, wo wir die Erfahrungen aus 40 bis 50 französischen Anlagen berücksichtigt haben und die Erfahrungen, die sich aus dem Betrieb der deutschen Anlagen ergeben haben. Des weiteren haben wir damals gesagt: Man muss die Sicherheit insoweit verbessern, dass man auch im allerschlimmsten Fall, wenn alle Sicherheitseinrichtungen versagen würden und es zu einer Überlast kommen würde, mithin zu einem Reaktorschmelzen, dass dann die Radioaktivität im Reaktorgebäude zurückgehalten wird, sodass keine Evakuierungen nötig sind."

Am Europäischen Druckwasserreaktor ist vor allem dies neu: Er hat einen so genannten Kernfänger, core catcher. Joachim Knebel arbeitet im KfK Forschungszentrum Karlsruhe an neuen Sicherheitstechniken für Atomkraftwerke. Er erklärt, was unter Kernfänger zu verstehen ist:

Knebel: "Auch wenn die Eintrittswahrscheinlichkeit für einen schweren Störfall auf ein Minimum reduziert ist, ist der EPR trotzdem so ausgelegt, dass ein gasdichtes Containment eine eventuell freiwerdende Radioaktivität auf die Anlage begrenzt und in die Anlage einschließt. Dieses Beton-Containment widersteht sehr hohen Drücken und sehr hohen Temperaturen, wie sie im Fall einer sehr unwahrscheinlichen Kernschmelze eintreten können. Unterstellen wir einmal, dass eine solche Kernschmelze eintritt, das heißt der Reaktordruckbehälter versagt, dann wird die Schmelze durch Wasser geflutet, von oben und unten sicher gekühlt und die Wärme durch verschiedene Systeme an die Umgebung abgeführt. Es ist also sichergestellt, dass selbst für den Fall einer Kernschmelze keine Radioaktivität nach außen dringt. Das ist die wesentliche neue Randbedingung für EPR. Das äußere Containment, das den Reaktor umschließt, das ist eine sechs Meter dicke Fundamentplatte aus Stahlbeton. Der Reaktor von oben wird durch zwei Hüllen aus vorgespanntem Beton abgeschlossen, jede Hülle ist 1,3 Meter stark, das heißt wir haben insgesamt 2,6 Meter Stahlbeton, was den Reaktor von oben schützt. Somit, denke ich, ist der Reaktor äußerst gut gegen Einwirkungen von außen geschützt ist."

Und zwar vor allem gegen Flugzeugabstürze und terroristische Bombenanschläge.

Knebel: "Die erste Anlage eines EPRs wird in Finnland zurzeit gebaut, die Inbetriebnahme ist für das Jahr 2009 geplant. Wenn ich nach Frankreich schaue, ist dort ein zweiter Reaktor geplant am Standort Flamanville. Die EDF wird ihn dort am Ärmelkanal bauen. Die Bauarbeiten sollen im Jahr 2007 beginnen und dann fünf Jahre dauern. Wenn ich in die nähere Zukunft schaue, ist geplant, dass von den 58 Reaktoren in Frankreich bis 2020 19 durch den EPR ersetzt werden sollen."

Zur dritten Generation gehören verschiedene Typen von Reaktoren. Einen davon gibt es bereits, und zwar seit vielen Jahren, als Prototyp. Es ist der Hochtemperaturreaktor in Hamm/Uentrop, der seit 1989 unbenutzt vor sich hin rottet.

Seine Vorteile: er gilt als sicher im Vergleich zu den bestehenden Druck- und Siedewasserreaktoren; er kann in kleineren Einheiten gebaut werden als es heutige Anlagen sind. Und: die hohen Temperaturen könnten für industrielle Zwecke genutzt werden. In den größeren Städten Südafrikas sollen schon in den nächsten Jahren die ersten Hochtemperaturreaktoren entstehen.
Rückblick.

Mit der ersten Generation bewiesen die Kraftwerksbauer den Stromproduzenten, dass Atomreaktoren wirtschaftlich sein können. Die zweite Generation ist die jener Kraftwerke, die derzeit am Netz ist; diese Reaktoren sind vor 30 Jahren entwickelt worden. Sie bringen es bereits auf gewaltige 1400 Megawatt elektrische Leistung und haben eine im Vergleich zu Windscale bessere Sicherheitskultur. An der dritten Generation wird gebaut, etwa am Europäischen Druckwasserreaktor. Aber die Wissenschaftler denken schon an eine übernächste, vierte Generation. Was sie damit erreichen wollen, sagt Joachim Knebel vom Forschungszentrum Karlsruhe:

"Die Ziele dieser neuen Reaktoren sind, eine erhöhte Sicherheit bereitzustellen, den produzierten Abfall zu minimieren, auch widerstandsfähig gegen Proliferation, der Weiterverbreitung von Spaltmaterial zu sein, und dann wirtschaftlich zu sein. Das heißt, diese Generation-4-Reaktoren sollen die Kriterien Nachhaltigkeit, Wirtschaftlichkeit, Sicherheit, Zuverlässigkeit und dann natürlich auch Proliferationsbarrieren und physikalischer Selbstschutz der Anlagen erfüllen."

Fachleute aus zehn Ländern haben sich unter der Leitung der Vereinigten Staaten zu einem Team zusammengeschlossen. Bis 2025 wollen sie solche Kernkraftwerke der vierten Generation konstruieren. Deutschland ist daran über die europaweite Organisation Euratom beteiligt.

Knebel: "Ein wesentlicher Punkt bei der Entwicklung der vierten Generation ist, dass sie sich mit dem geschlossenen Brennstoffkreislauf befassen. Das heißt, es wird angestrebt, dass die Kernkraftwerke nicht immer mehr hoch radioaktiven Abfall produzieren, sondern den schon während ihres Betriebs wieder verbrennen."

Mit dem geschlossenen Brennstoffkreislauf soll erstens nicht mehr so viel atomarer Abfall entstehen und zweitens der Brennstoff besser verwertet werden. Das ist allerdings auch dringend nötig, denn die bisherigen Reaktortypen nutzen das Uran gerade ein Mal zu zwei Prozent, also verschwenderisch gering aus.

Wie weit sind die Fachleute mit der vierten Generation? Konstruieren an ihnen bereits die Ingenieure oder wird immer noch daran geforscht?

Knebel: "In der Generation 4 sind ja in einem Auswahlausschuss sechs Reaktorkonzepte näher ausgewählt worden, die unterschiedliche Kühlmittel verwenden. Je nach dem, welchen Reaktortyp Sie betrachten, ist die Forschung schon verschieden weit vorangeschritten. Wir haben schon Demonstrationsreaktoren von einigen Typen. In Frankreich gibt es den Super Phenix-Reaktor. Die Forschung hat, wenn ich ins Detail schaue, wenn ich das betrachte, dann ist noch erheblicher Forschungsbedarf vor allem in Hinblick auf Brennstoffentwicklung, auf die Materialentwicklung. Auch wenn ich beim Hochtemperaturreaktor zu hohen Einsatztemperaturen gehe, muss ich noch viel Arbeit in die Entwicklung von hochtemperaturbeständige Stähle stecken."

In den internationalen Forschergruppen ist Deutschland nur spärlich vertreten. Das Bundesforschungsministerium hatte einst zwei wissenschaftliche Zentren eingerichtet, in denen die heutigen Atomreaktoren entwickelt und getestet worden sind. Das sind das Forschungszentrum Jülich und das ehemalige Kernforschungszentrum Karlsruhe. Dort wird inzwischen auf vielen anderen Gebieten gearbeitet. Ob auch noch über künftige Reaktor-Generationen nachgedacht wird, kann Joachim Knebel aus eigener Erfahrung beurteilen:

"Das ist ganz einfach zu beantworten: gar nicht. Die Koalitionsvereinbarung aus dem Jahr 2002 sieht ja vor, aus der Kernenergie aussteigen, und in diesem Rahmen wurde dann auch festgelegt, dass die staatliche Forschung zur Entwicklung nuklearer Techniken zur Stromerzeugung beendet wird. Das heißt in die zurzeit geltenden forschungspolitischen Rahmenbedingungen übersetzt, dass wir am Forschungszentrum Karlsruhe mit der Grundfinanzierung keine Arbeiten zu neuen Reaktoren durchführen dürfen, weder zum EPR noch zu Generation-4-Reaktoren. Das bringt uns in eine sehr schwierige Situation, weil wir eben die gesamten neueren Entwicklungen international, sei es im Hinblick auf Sicherheit, sei es im Hinblick auf neue Technologien, da haben wir keinen Einfluss mehr darauf, da kriegen wir auch kein Feedback mehr. Wir können nicht mehr mit öffentlichern Geldern an internationalen Projekten teilnehmen und unseren dringend notwendigen kerntechnischen Nachwuchs ausbilden."

Es zeigt sich fern am Horizont auch schon eine fünfte Generation, nur nennt sie niemand so. Seit Jahrzehnten versuchen Wissenschaftler in einer weltweiten Kooperation zwischen Russland, den USA, Japan, China, Kanada und der Europäischen Union, die Kraft der Sonne in einem Reaktor nachzuahmen.

Dabei werden im Prinzip Atomkerne miteinander verschmolzen. Es geht also nicht um Kernspaltung, sondern um Kern-Fusion. Technisch ist so etwas höchst anspruchsvoll. Im französischen Cadarache soll innerhalb der nächsten zehn Jahre ein erster Versuchsreaktor namens ITER entstehen.

Die Fusionstechnologie gilt als attraktiv; der radioaktive Abfall soll weit weniger strahlen als der bisheriger Reaktoren. Und: so etwas wie eine Kernschmelze kann es schon physikalisch nicht geben. Nur müssen die Stromproduzenten noch ein halbes Jahrhundert warten, bis sie die Pläne für die ersten kommerziell nutzbaren Fusionskraftwerke bekommen.

Brauchen wir überhaupt Kernkraftwerke?

Die Frage ist nicht leicht zu beantworten. Ein wichtiger Aspekt ist die Entwicklung des Strombedarfs. Eine unabhängige Prognose von Claudia Kemfert, Energieexpertin am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung DIW in Berlin:

"Die Internationale Energie-Agentur geht davon aus, dass es hier zu Steigerungen von 30 Prozent kommen wird. Obwohl wir hier davon ausgehen müssen, dass wir erhebliche Einsparpotentiale, Energiesparpotentiale und auch Energieeffizienzpotentiale ausschöpfen können. Wir, das DIW, gehen eher davon aus, dass wir hier Steigerungen bis 20 Prozent in den nächsten Jahren bis 2020 erwarten werden, weil wir auch erhebliche Energiesparpotentiale ausschöpfen können."

20 Prozent mehr Strom, das, sagt Alfred Voss, Energiewirtschaftler an der Universität Stuttgart, das schafft nur die Kernenergie:

"Wenn man sich an den Zielen der Energieversorgung orientiert, dass Strom zu wettbewerbsfähigen Preisen, umweltverträglich und das heißt mit geringen CO2-Emissionen und versorgungssicher und zuverlässig bereitstellen will, dann spricht heute viel dafür, dass man diese Ziele nicht erreichen kann, wenn wir wie geplant aus der Kernenergie aussteigen. Die jetzt betriebenen Kernkraftwerke sind die billigste Option, um für die Industrie und den Verbraucher Strom zu geringen Kosten bereitzustellen, und sie sind die billigste Option, um CO2-Emissionen nicht entstehen zu lassen."

Im Prinzip kämen dafür auch neue Kohle- und Gaskraftwerke in Frage.

Diese Öfen müssten dann allerdings Filter an den Abgaskaminen haben, die das Treibhausgas Kohlendioxid fast komplett herausziehen.

"Ich würde Ihnen ein Stück weit widersprechen, weil es diese Techniken in einem technisch verwertbaren Ausmaß noch nicht gibt. Die Abtrennung von CO2 und die Entsorgung von CO2 ist noch eine Forschungs- und Entwicklungsaufgabe. Was wir heute wissen, ist, dass die CO2 Abtrennung und die anschließende Entsorgung entweder in ausgenutzten Erdgasfeldern oder Erdöllagerstätten in jedem Fall zu höheren Kosten der Stromerzeugung führen wird. Heutige Abschätzungen gehen davon aus, dass die Kosten der Stromerzeugung aus Steinkohle- oder Braunkohlekraftwerke sich um 50 bis 100 Prozent erhöhen."

Gaskraftwerke pusten allerdings sehr viel weniger Kohlendioxid in die Luft als Kohlekraftwerke.

Grundsätzlich könnten auch erneuerbare Energien den zusätzlichen Strombedarf decken, also etwa Solarenergie, Erdwärme oder Windkraft. Energiewirtschaftler Alfred Voss ist davon aber nicht überzeugt:

"Alle diese Optionen wie auch Stromerzeugungstechniken auf der Basis erneuerbarer Energiesysteme wie Windenergie, die nicht grundlastgeeignet sind, sind heute noch dadurch gekennzeichnet, dass ihre Erzeugungskosten um Faktor drei bis fünf mindestens höher als der Strom aus konventionellen Kraftwerken."

Dagegen spricht: die heutigen Kernkraftwerke laufen schon Jahrzehnte und sind längst abgeschrieben. Ihre Kosten haben sie mehr als ein Mal erwirtschaftet. Für die Energieproduzenten sind sie wie Gelddruckmaschinen. Hinzu kommt: der Steuerzahler hat die Atomenergie einst mit Dutzenden Milliarden Mark finanziert. In die alternativen Energien hat der Staat noch lange nicht so viel Zeit und Geld investiert. Wenn weiter Forschung und Bau alternativer Energiequellen staatlich unterstützt werden, verbessert sich die Bilanz für sie von Jahr zu Jahr.

Mit Blick auf Tschernobyl sagen die Kernenergie-Befürworter: der GAU, der größte Anzunehmende Unfall kann in den westlichen Reaktoren nicht geschehen.
In der Tat sind die heutigen Kernkraftwerke wesentlich sicherer als der von Tschernobyl - schon von der Konstruktion her. Mit dem Europäischen Druckwasserreaktor, einem Reaktor der dritten Generation, soll die Sicherheit noch perfekter werden. Wenn, sagt Joachim Knebel vom KfK Forschungszentrum Karlsruhe, ja wenn…

"... wenn die Betriebsmannschaft sich ans Handbuch und die vorgesehenen Betriebsabläufe hält."

Im Kontrollraum des Kernkraftwerks Tschernobyl hat sie sich nicht daran gehalten.
Beim Menschen endet alle Technik, meint auch der Strahlenbiologe Wolfgang Köhnlein:

"Wir gehen mit einer Technik um, die eigentlich so konstruiert sein müsste, dass sie unfehlbar ist, dass sie keine Fehler macht. Wer konstruiert diese Technik? Ein Mensch. Können Menschen etwas Unfehlbares konstruieren, die doch nicht unfehlbar sind und Fehler machen? Das hat bei mir die Überlegung ausgelöst, dass das eigentlich unmöglich ist. Wir kennen keine Technologien, die unfehlbar sind, die keine Fehler machen und keine Fehler machen, obwohl Menschen Fehler machen, konstruieren. Deswegen sollen wir davon die Finger lassen."

Demnach bleibt immer ein Restrisiko. Und es bleibt radioaktiver Müll. Selbst die fortschrittlichsten Kernkraftwerke der dritten und vierten Generation können Strom nicht ohne strahlende Hinterlassenschaften produzieren. Ausgediente Brennelemente, Spaltprodukte und schließlich auch der Abraum demontierter Reaktoren müssen in jedem Fall mindestens für mehrere Jahrhunderte sicher eingeschlossen werden. Wo das in Deutschland geschehen soll, ist auch nach 25-jährigen juristischen Auseinandersetzungen und streitenden Fachleuten nicht entschieden.

Besser als die Salzstöcke in Niedersachsen ist der Bayerische Wald mit seinem Urgestein geeignet. Entsprechende Absichten der Energieversorger hatte aber schon vor langem der damalige Ministerpräsident Franz-Josef Strauss zu verhindern gewusst.

Gesetzt, die Kernenergie soll wegfallen, muss der so genannte Energiemix anders aufgeteilt werden. Der Strom stammt heute in Deutschland zum größten Teil aus Kernreaktoren, Gas- und Kohlekraftwerken. Rund ein Zehntel liefern Wasser und Wind. Mit insgesamt 30 Prozent sind Atomkraftwerken an diesem Energiemix beteiligt. Wenn die abgeschaltet werden, müssen andere Kraftwerke deren Anteil übernehmen. Und das immer unter der Maßgabe, dass gleichzeitig die Kohlendioxid-Emissionen weiter sinken.

Für einen derartigen Umstieg bleibt wenig Zeit. Denn voraussichtlich schon 2021 soll das letzte Kernkraftwerk vom Netz gehen. Energieexpertin Claudia Kemfert:

"Bis zum Jahre 2021 halte ich es für sehr optimistisch, um nicht zu sagen fast unrealistisch, dass wir es tatsächlich schaffen, einen Energiemix zu haben, der nachhaltig ist, das heißt möglichst wenig CO2-Emissionen verursacht, sicher ist und auch noch umweltfreundlich ist. Ich denke, es wäre sinnvoll, die Laufzeiten der Kernkraftwerke um 10 bis 15 Jahre zu verlängern. Da hätte man mehr Zeit, um die erneuerbaren Energien sehr stark auszubauen und auf der anderen Seite zu erforschen, ob die umweltfreundliche Kohletechnologie möglich ist und auch wirtschaftlich ist."

Es ist schon paradox: Kernkraftwerke müssen weiter laufen, damit die Energiewirtschaft aus der Atomenergie aussteigen kann. Aber anders ist eine Energiewende nicht auf den Weg zu bringen. Gewöhnlich dauert es Jahrzehnte, bis Elektrizität aus ganz neuen Kraftwerksarten kommt als bisher. Die Verbraucher müssen dazu auch höhere Strompreise in Kauf nehmen.

Die andere Variante wäre, weiterhin auf Strom aus dem Atom zu setzen. Sprich die Laufzeiten der Kernkraftwerke zu verlängern und später neue Anlagen zu errichten. Immer in der Hoffnung, eine Katastrophe wie die von Tschernobyl möge sich nicht wiederholen.
Blick in den Kontrollraum der Reaktoranlage in Tschernobyl
Blick in den Kontrollraum der Reaktoranlage in Tschernobyl© AP
Igor Kostin fotografierte den völlig zerstörten Reaktor 2 des Atomkraftwerks Tschernobyl aus einem Helikopter heraus wenige Stunden nach der Explosion.
Igor Kostin fotografierte den völlig zerstörten Reaktor 2 des Atomkraftwerks Tschernobyl aus einem Helikopter heraus wenige Stunden nach der Explosion.© AP Archiv
Ein Schild warnt in einem Wald in der Nähe von Tschernobyl vor dem Genuss von gesammelten Beeren und Pilzen.
Ein Schild warnt in einem Wald in der Nähe von Tschernobyl vor dem Genuss von gesammelten Beeren und Pilzen.© AP