Dienstag, 19. März 2024

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High-Court-Urteil zum Brexit
"Die Regierung hat keine Ahnung, was für einen Brexit sie will"

Der Brexit-Urteil werde gewiss vom obersten britischen Gericht bestätigt, sagte Ben Bradshaw, Labour-Abgeordneter im britischen Unterhaus, im Deutschlandfunk. Sollte das Parlament dann erwartungsgemäß gegen einen Brexit entscheiden, dürfte Premierministerin Theresa May Neuwahlen ansetzen.

Ben Bradshaw im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 04.11.2016
    Ben Bradshaw geht an einem Haus vorbei
    Der britische Labour-Politiker Ben Bradshaw, hier im Jahr 2010 als Kulturminister, vor Downing Street No. 10 in London. (imago / Paul Marriott)
    Der britische Labour-Abgeordnete Ben Bradshaw rechnet damit, dass sich nach dem High Court gewiss auch die höchste gerichtliche Instanz Großbritanniens dafür aussprechen werde, dass das Parlament in London über einen Austritt des Landes aus der Europäischen Union mitentscheiden müsse. Bradshaw sagte im Deutschlandfunk, selbst die Abgeordneten, die einen Brexit prinzipiell unterstützten, befürchteten, dass die Regierung keine klare Vorstellung von der genauen Ausgestaltung habe. So sei bisher offen, ob sie sich dafür einsetzen wolle, dass Großbritannien vollwertiges Mitglied des EU-Binnenmarktes bleibe.
    Für den Fall, dass sich das Parlament gegen einen Brexit entscheidet, geht Bradshaw davon aus, dass Premierministerin May Neuwahlen ansetzt, um eine stabile Mehrheit für ihre Austritts-Pläne zu bekommen.

    Das Interview in voller Länge:
    Tobias Armbrüster: Es war ein Paukenschlag gestern am High Court in London, am obersten britischen Zivilgericht. Die Richter dort haben geurteilt: Bevor die britische Regierung die Austrittsgespräche mit der EU beginnt, muss das britische Parlament erst mal sein Votum abgeben. Das ist eine Entscheidung, die seit gestern für eine Menge Unruhe sorgt, vor allem bei Brexit-Befürwortern, und eine Entscheidung, die natürlich Hoffnung schürt bei den Brexit-Gegnern. Einer dieser Brexit-Gegner ist der Labour-Abgeordnete Ben Bradshaw. Er war während des Referendums einer der führenden Köpfe der Remain-Kampagne und ich habe mit ihm vor dieser Sendung gesprochen und ich habe ihn gefragt, ob jetzt möglicherweise noch einmal ganz neu über den Brexit entschieden wird.
    Ben Bradshaw: Ja, wir sind noch nicht so weit. Aber die Entscheidung unseres Hauptgerichts gestern hat schon alles ein bisschen durcheinander gewühlt. Das heißt jetzt, die Regierung appelliert, sie schlägt dagegen in unserem Supreme Court - das ist so wie das Verfassungsgericht, also unser höchstes Gericht - im Dezember. Aber man muss verstehen, dass die Entscheidung des Gerichts gestern sehr klar war darin, dass unsere Regierung nicht das Recht hat, Rechten, die wir als Briten genießen, durch unsere EU-Mitgliedschaft ohne das Parlament zuzustimmen. Und ich kann mir nicht vorstellen: Ich bin kein Lawyer, ich bin nicht Experte, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass unser Supreme Court eine andere Entscheidung trifft. Das heißt, dass die Regierung wahrscheinlich doch die Zustimmung des Parlaments suchen muss, und das ist eine große Frage, ob sie das erreicht, weil viele meiner Kollegen, auch die, die für Brexit Kampagne gemacht haben, haben Angst und Unsicherheit, dass die Regierung keine klare Ahnung hat, was für einen Brexit sie treiben will.
    "Wir wissen überhaupt nicht, was passiert"
    Armbrüster: Aber was würde das denn bedeuten, wenn sich Abgeordnete jetzt noch einmal gegen den Brexit aussprechen, sozusagen gegen den Willen der Bevölkerung? Das ging doch gar nicht.
    Bradshaw: Ich bin nicht sicher, dass die Mehrzahl der Abgeordneten das machen will. Aber wir werden zum Beispiel von der Regierung verlangen, dass sie eine viel klarere Strategie klar machen, was ihre Ziele sind. Wir wissen zum Beispiel immer noch nicht, will die Regierung, dass Großbritannien ein volles Mitglied des EU-Binnenmarktes bleibt. Das will ich, das will die große Mehrzahl von der britischen Industrie und Wirtschaft, aber die Regierung hat keine klare Aussage darüber gemacht. Und zum Beispiel wenn ich als Abgeordneter mit einem Wahlkreis, der überwiegend gegen den Brexit gewählt hat, keine klare Antwort auf diese Frage kriege, dann würde ich nicht für Artikel 50 wählen, und das ist theoretisch möglich, dass eine Mehrzahl des Parlaments das nicht macht. In dem Fall: Wir wissen überhaupt nicht, was passiert. Es kann sein, dass die Regierung und Premierministerin May sich dann entscheidet, Neuwahlen auszurufen, um zu suchen, ob sie eine größere Mehrheit kriegen könnte für einen harten Brexit. Die Regierung scheint dies zu wollen und das wird alles wieder in die Luft werfen und dann würden wir eine Wahlkampagne darüber machen, ob wir einen harten Brexit, einen sanften Brexit oder überhaupt einen Brexit wollen werden.
    Aktuell würde eine Mehrheit gegen den Brexit stimmen
    Armbrüster: Was ist denn Ihr Eindruck? Wie tickt zurzeit die Bevölkerung in Großbritannien? Bereuen viele Briten, dass sie damals im Juni mit Ja für Brexit gestimmt haben? Könnte es ein Erfolg sein, wenn man sie noch einmal, möglicherweise auch mit einer Wahl dazu befragt?
    Bradshaw: Manche bereuen es schon. Es ist noch nicht eine Welle, aber die letzten Meinungsumfragen zeigen, wenn wir heute wieder eine Volksabstimmung haben würden, dass eine klare Mehrheit bleiben wählen würde. Aber Sie müssen sich vorstellen: Die richtigen wirtschaftlichen Auswirkungen dieser Entscheidung haben uns noch nicht getroffen. Klar: Das Pfund ist abgesunken, die Inflation, die Preise zeigen hier, meine Wähler merken, dass alles in den Geschäften teurer wird, Benzin und Energie und so weiter wegen der Unsicherheit. Und immer mehr Firmen, auch deutsche Firmen warnen, wenn sie nicht ganz sicher sein können, dass sie vollen Eintritt in den europäischen Binnenmarkt nach einem Brexit haben, dass sie vielleicht auch aus Großbritannien ziehen werden zu anderen europäischen Ländern. Je mehr die Bevölkerung hier versteht, was die Konsequenzen von Brexit sind, je weniger sind sie enthusiastisch dafür.
    Armbrüster: Sie haben jetzt schon gesagt, Herr Bradshaw, dass Sie gerne mehr Details von der Regierung haben möchten über die genauen Verhandlungsinhalte. Ist das alles nicht etwas zu früh, so wenige Monate nach dieser doch ja sehr weitreichenden Entscheidung, dass man da schon genau wissen will oder wissen könnte, mit welchen Positionen die Regierung in solche Verhandlungen reingeht?
    Bradshaw: Man spricht nicht von den Details der Verhandlungen. Aber die Regierung selbst hat ursprünglich gesagt, sie wollte ein Strategiepapier, wie nennen es ein White Paper vorbringen, bevor Artikel 50 ausgelöst werde, damit wir als Legislative und Repräsentanten der Bevölkerung eine klare Ahnung haben, wofür wir dann wählen. Sie hat es noch nicht gemacht. Ich glaube, dass sie jetzt unter sehr harten Druck kommen wird, ein solches Dokument in die Öffentlichkeit zu bringen, und ich glaube auch, dass dieses Time Table, das Premierministerin May sich gesetzt hat, schon im März Artikel 50 auszulösen, viel zu schnell ist. Wir werden zu den Antworten auf die großen Fragen wie Binnenmarkt und so weiter und so fort keine Ahnung bis dann haben und ich als Abgeordneter könnte das nicht unterstützen.
    Armbrüster: Was glauben Sie denn, wie viele Monate länger brauchen Sie noch oder braucht Theresa May noch, bevor sie Artikel 50 tatsächlich ausruft?
    Bradshaw: Ich bin immer der Meinung gewesen, dass es viel klüger wäre, wenn wir erst nach den französischen und den deutschen Wahlen 2018 das machen, weil in der Wirklichkeit, ich glaube, deutsche Politiker haben es auch gesagt: Weder die Franzosen noch die Deutschen werden ernste Verhandlungen führen wollen mit uns vor den nächsten deutschen Wahlen. Und wenn man das versteht, dann macht es überhaupt keinen Sinn, diese Entscheidung zu treffen und Verhandlungen zu machen, wenn man nicht wirklich Konkretes erreichen kann.
    "Die Labour-Partei ist fast immer einig über Europa gewesen"
    Armbrüster: Herr Bradshaw, Ihre eigene Partei, die Labour-Partei hat ja in dieser ganzen Sache auch nicht immer ein besonders gutes Bild abgegeben. Sie haben da diesen ja doch sehr umstrittenen Vorsitzenden Jeremy Corbyn, mit dem Sie ja auch nicht immer durchaus einig sind. Ist die Labour-Partei denn eigentlich geeinigt genug, um da jetzt noch mal in so einen Streit mit der Regierung einzutreten?
    Bradshaw: Die Labour-Partei ist und ist fast immer einig über Europa gewesen. Es gibt ein paar Abgeordnete, die immer euroskeptischer gewesen sind.
    Armbrüster: Na ja. Jeremy Corbyn war nicht gerade euphorisch, als es um das Brexit-Referendum, um das Nein dazu ging.
    Bradshaw: Jeremy Corbyn gehört zu dieser sehr kleinen Minderheit in der Partei. Aber als Parteivorsitzender ist er jetzt gezwungen, einen besseren Weg zu betreten, von der Mehrheit nicht nur der Partei, wo 90 Prozent unserer Mitglieder Remain gewählt haben und die große Mehrheit unserer Gewerkschaften, ein wichtiger Teil der Partei, auch dafür sind. Es gibt für uns eine politische Möglichkeit hier. Ob wir fähig genug sind und klug genug sind, das zu nutzen, nicht nur für das Gute unserer Nation, aber auch für die Partei, das weiß ich nicht, aber ich hoffe es schon und wir haben sehr gute Leute, die in wichtigen Rollen sind, die jetzt diese Fragen der Regierung setzen, und wir werden versuchen, den Druck immer stark auf die Regierung auszuüben.
    Armbrüster: Sprechen wir noch kurz über die Regierung. Was bedeutet diese Entscheidung des High Court denn eigentlich für die Premierministerin, für Theresa May?
    Bradshaw: Es kommt darauf an, wie sie reagiert. Ich wünsche mir, sie würde nicht jetzt eine ganze Menge Geld verschwenden, gegen diese Entscheidung zu klagen. Es kann sein, wie ich gesagt habe, dass sie einen Weg daraus sucht durch Frühwahlen. Aber ihr Problem als Premierministerin ist, dass ihre eigene Partei und die Minister, die diese Politik für sie ausführen müssen, selber sehr, sehr zerspalten sind in ihren Visionen, wie sie eine neue Beziehung zu Europa haben wollen, und das ist ein Problem, was sich weder von einer Nachklage, noch von Neuwahlen lösen wird.
    Armbrüster: Hier bei uns im Deutschlandfunk war das Ben Bradshaw, der britische Labour-Abgeordnete. Wir haben mit ihm gesprochen über die Entscheidung des High Court gestern in London, dass vor den EU-Austrittsverhandlungen noch das britische Parlament befragt werden muss. Vielen Dank, Herr Bradshaw!
    Bradshaw: Auf Wiedersehen, Tobias!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.