Venezuela bald Diktatur?

Reiches Land ohne Mehl, Medizin und Toilettenpapier

Ein leeres Regal in einem Supermarkt in Venezuela.
Ein leeres Regal in einem Supermarkt in Venezuela. © AFP / Leo Ramirez
Von Burkhard Birke · 28.08.2017
Es fehlt an allem außer Frust in Venezuela: zu wenig Medikamente, Grundnahrungsmittel, Toilettenpapier und sogar Geldscheine. Nur Benzin ist reichlich da - und günstiger als Wasser. Dazu herrscht Hyperinflation. Der Sozialist Maduro regiert seit 2013. Aber wie lange noch?
Einst war es ein Aushängeschild für medizinischen Fortschritt in Venezuela: Jetzt ist das "Hospital de Ninos J.M. de los Rios" zum Paradebeispiel für Krise und Zerfall geworden.
Die Bettenzahl ist auf ein Drittel der ursprünglichen Kapazität geschrumpft, erzählt einer der dort tätigen Ärzte, auch wenn ihn die Kritik den Job kosten könnte. Aber die Angst ist der Verzweiflung gewichen. Wie bei vielen Venezolanern. Wie ein Wasserfall sprudelt es aus ihm heraus. Es mangelt förmlich an allem, sagt er
"Der Personalmangel sowohl bei Ärzten als auch bei Pflegern ist ein Riesenproblem genau wie die Ausstattung. Unser medizinisches Gerät, alles, was wir für die Behandlung benötigen, sollte regelmäßig, in ausreichender Menge und guter Qualität bereitgestellt werden: Aber weder hier noch in irgendeinem Krankenhaus Venezuelas ist das der Fall."
In einem Krankenhausraum stapeln sich die ungenutzten Betten und Brutkästen.
Es fehlen Ersatzteile, Personal und Medikamente in den Krankenhäusern von Venezuela. Hier stauben Brutkästen und Betten in Lagerräumen ein.© Deutschlandradio / Burkhard Birke
Auf den Toiletten gibt es nur selten Klopapier oder Seife, Desinfektionsmittel stehen selbst Ärzten nicht immer zur Verfügung, teilweise müssen die Patienten ihr eigenes Essen mitbringen.

Mütter- und Kleinkindsterblichkeit steigt

Ganze Räume sind gefüllt mit ungenutzten Brutkästen, Betten, medizinischen Geräten. Der gerade laufende Umbau, der zweite binnen vier Jahre nach Austritt von Abwasser durch die Wände, ist da nur Teil der Erklärung.
Auf der Notaufnahme finden maximal acht Patienten Platz – früher waren es doppelt so viele. Nur zwei Brutkästen auf der Neugeborenen Station funktionieren, einer in einem Raum ohne Klimatisierung. Einst konnten hier 18 Frühgeborene behandelt werden.
Offizielle Statistiken zu den Folgen der Missstände gibt es nur spärlich. Immerhin veröffentlichte das Gesundheitsministerium für 2016 die Zahl von 11.466 verstorbenen Kleinkindern unter einem Jahr in Venezuela: Ein Anstieg um fast ein Drittel. Die Müttersterblichkeit stieg sogar um zwei Drittel. Genaue Vergleichszahlen werden nicht geliefert.

Das Hospital de Ninos in Caracas ist das einzige im Land, das Dialyse für Kinder mit weniger als 20 Kilo Körpergewicht anbietet.
"Viele Kinder werden allerdings bei der Dialyse durch einen resistenten Keim infiziert. Das wurde in Untersuchungen nachgewiesen. Zuletzt sind vier Kinder daran gestorben."
Zwar wurden die Dialysegeräte unlängst endlich Mal wieder gereinigt, so der Arzt weiter, aber die Desinfektion der Tanks fand nicht statt.
Entweder an Nierenversagen oder an tödlichen Keimen sterben?

Ölpreisverfall schadet dem Gratis-Gesundheitssystem

Zahlreiche kleine und auch große Patienten in anderen Krankenhäusern sterben an Medikamentenmangel oder Unterernährung.
"Etwa 60 Prozent der Lebensmittel fehlen und die Medikamente für Patienten mit chronischen Erkrankungen teilweise zu 90 Prozent. Präparate für Nierenkranke, Personen mit Bluthochdruck oder Herzerkrankungen sind so gut wie gar nicht aufzutreiben."
Das schätzt der Soziologe Trino Márquez von der Universidad Central.

Grundsätzlich ist die Gesundheitsversorgung in Venezuela gratis. Ein gigantischer Fortschritt im Verhältnis zu den Nachbarländern. Zu verdanken haben das die Venezulaner vor allem ihrem Ölreichtum. Aber die dramatische Devisenknappheit im Zuge des Ölpreisverfalls hat gerade im Gesundheitssektor verheerende Spuren hinterlassen.

Krankheiten wie Diphterie, die man vor 24 Jahren ausgerottet hatte, tauchen plötzlich wieder auf. 324 Fälle wurden letztes Jahr registriert. Auch Malaria grassiert in einigen Gebieten Venezuelas wieder enorm.

Sozialisten glauben nicht an humanitäre Krise

Die Demonstranten tragen rote T-Shirts bei einer Demonstration für Präsident Maduro.
Die Chavisten halten weiterhin zum sozialistischen Präsidenten Maduro.© Deutschlandradio / Burkhard Birke
All diese Symptome des Verfalls wollen Verteidiger der bolivarischen Revolution allerdings nicht wahrhaben. Elisabeth García gehört dem obersten Frauengremium im Land an.
"Ich verstehe nicht, weshalb immer wieder behauptet wird, es gäbe eine humanitäre Krise in Venezuela. Das ist die Meinung, die gerne im Ausland verbreitet wird. Unsere revolutionäre Regierung hat viel in Gesundheit investiert, nicht nur in Krankenhäuser, sondern ganz generell. Wir haben viele Ärzte ausgebildet. Die Patienten werden gratis behandelt. Sie müssen weder für Gesundheit noch Bildung bezahlen."
Alles "fake news" – Medienkampagnen gegen Venezuela? Mit diesem Argument wird auch von höchster offizieller Stelle immer wieder die Öffnung des Landes für humanitäre Lieferungen abgeschmettert. Falscher Stolz? Antiimperialismus auf die Spitze getrieben – oder verschließen die Verantwortlichen willkürlich die Augen? Denn auch die Präsidentin der Verfassungsgebenden Versammlung, Delcy Rodriguez, hat in ihrer ersten großen Rede nach ihrer Amtsübernahme die akute Unterversorgung im Land geleugnet:
"In Venezuela gibt es keinen Hunger, sondern Willenskraft, Entschlossenheit und Mut, das Land zu verteidigen. Ihr Regierungen von der Rechten hört zu: Hier gibt es keine humanitäre Krise, hier gibt es Liebe. Hier gibt es nur eine Krise einer faschistischen Rechten, die ein freies und unabhängiges Volk zerstören will. Das ist die einzige Krise, die wir haben, und wir werden sie lösen."

Hyperinflation von 1000 Prozent

Wie? Das ist die große Streitfrage. Wie kam es denn zu dem Verfall, wie kam es zu einer Hyperinflation von voraussichtlich 1000 Prozent in diesem Jahr, und wie kam es dazu, dass 60 bis 70 Prozent der Grundbedarfsgüter importiert werden müssen?
Die Thesen sind vielfältig. Einige sprechen vom Wirtschaftskrieg anderer Staaten oder der Blockade durch regierungskritische Unternehmer. Andere nennen die zu weitreichende Einflussnahme und die Enteignungen durch den Staat.

Unstrittig ist, dass zum einen der Ölpreisverfall – von über 100 auf derzeit ca. 45 US-Dollar je Barrel - eine maßgebende Rolle spielt - und zum anderen die Devisenkontrolle.

Wechselkurs-Chaos nutzen Regierung und Militär

Eine Packung Nudeln im Supermarktregal. Sie kostet soviel wie das dreifache eines Wochenarbeitslohns.
Mit 6450 Bolivar kostet eine Packung Nudeln etwas das dreifache des durchschnittlichen Wochenlohns eines Arbeiters in Venezuela.© Deutschlandradio / Burkhard Birke
Die Devisenkontrolle obliegt dem Staat. Und der bietet seinen Bürgern abenteuerliche Wechselgeschäfte an. Durch die Hyperinflation ist die eigene Währung kaum etwas wert, wird also möglichst schnell gegen die harte Währung US-Dollar getauscht. Wer nun auf dem Schwarzmarkt einen US-Dollar haben will, muss bis zu 18.000 Bolivar bezahlen. Viel Geld. Aber es gibt einen semioffiziellen Kurs, der etwas niedriger bei ca. 3000 Bolivar liegt. Und dann gibt es noch den offiziellen Kurs, bei dem man einen Dollar für nur 10 Bolivar bekommt. Aber den dürfen nur wenige nutzen, erklärt der Soziologe und Ökonom Trino Marquez:
"Dieser Präferenzkurs gilt für den Import von Nahrungsmitteln, Landwirtschaftsprodukten und Maschinen, Medikamente und Krankenhausbedarfsgütern. Zu diesem Dollarkurs von 10 zu 1 haben nur Vertreter der Regierung und Militärs Zugang sowie einige ihnen nahestehende Unternehmer."
Wer in der Regierung oder dem Militär also einen Dollar für 10 Bolivar kauft, vergrößert sein Kapital auf einen Schlag um das 1800-fache, wenn er er auf dem Schwarzmarkt wieder zurück tauscht.
Da es an Lebens- und Arzneimitteln akut mangelt, liegt der Verdacht nahe, dass genau das passiert. Trino Márquez von der Universidad Central:
"Nirgendwo auf der Welt existiert wohl ein aggressiverer und brutalerer Korruptionsmechanismus. Denn nichts wirft solche Gewinne ab, nicht einmal der Drogenhandel."

Für einen Liter Wasser gibt es 1244 Liter Benzin

Zu den Korruptionsmechanismen gehört auch der Benzinschmuggel. Denn der staatlich subventionierte Normalbenzin-Preis liegt bei nur einem Bolivar je Liter. Dagegen müssen Venezolaner im Supermarkt für eine Flasche Mineralwasser 1244 Bolivar bezahlen. Das heißt: Für den Preis einer Flasche Mineralwasser kann man in Venezuela 1244 Liter Normalbenzin tanken.
"30.000 Liter Benzin kosten umgerechnet drei Dollar. Wenn dieses Benzin über den Grenzfluss nach Kolumbien gelangt, ist es 39.000 Dollar wert."
So erläutert der ehemalige Abgeordnete der Einheitspartei German Ferrer den Schmuggel- und Korruptionsmechanismus. Wer solche Anschuldigungen gegen die eigene Regierung erhebt, ist nicht gern gesehen: Gegen Ferrer wurde wegen mutmaßlicher Korruption Haftbefehl erlassen. Mittlerweile ist er mit seiner Frau, Generalstaatsanwältin Luisa Ortega nach Kolumbien geflohen.
Burkhard Birke unterhält sich mit Mikrofon in der Hand mit einen Demonstranten in Caracas, Venezuela.
Deutschlandradio-Reporter Burkhard Birke in Caracas im Gespräch mit einem Demonstranten.© Deutschlandradio / Burkhard Birke
Den Benzinpreis verstehen – kann niemand. Die rund 30 Millionen Venezolaner erheben zwar Anspruch auf die eigenen Bodenschätze, sie wollen Teilhabe am Rohstoffreichtum, aber das Benzin verschenken? Noch absurder wird es, weil Venezuela aufgrund von eigenen Raffinerieknappheiten sogar die Hälfte des Benzins importieren muss.
Mit etwa 20 Milliarden Dollar wird der Benzinverkauf pro Jahr subventioniert, schätzen Experten.
Für dieses Geld könnte man viele Lebens- und Arzneimittel importieren. Krankenhäuser und Schulen bauen.
Selbst Chavisten - die Anhänger des verstorbenen Präsidenten Chávez, dessen Erbe der amtierende Präsident Maduro ist - prangern freilich mittlerweile an, dass Wasser unendlich viel teurer als Benzin ist.
"Sowohl Öl als auch Wasser sind fundamental in Venezuela. Es muss aber eine gerechte Preisgestaltung geben."
Fordert die Delegierte der Verfassungsgebenden Versammlung Isa Marie Matutes. Das fordert auch die Frauenrechtlerin Elisabeth Garcia. Sie stört sich vor allem an der Währungsspekulation.

Chavisten machen Kolumbien für Krise verantwortlich


Die Hoffnungen der Chavisten liegen nun auf der verfassungsgebenden Versammlung, die über allen anderen Institutionen im Land steht und die Macht an sich gerissen hat.
"Es muss eine Preisregulierung mit Sanktionen geben, vor allem auch für den ‚Dollar Today‘, den Schwarzmarktdollar. Der Dollar Today ist von unserem Nachbarland Kolumbien lanciert worden als Referenz und Spekulationsinstrument, um unseren Finanzkreislauf und unsere Wirtschaft, unsere Produktion zu sabotieren. Sogar Benzin ist schon Teil der Spekulation geworden."
Den Benzinpreis und den offiziellen Wechselkurs legt freilich nicht Kolumbien fest. Dass die heimische Produktion am Boden liegt, die Wirtschaft in eine Krise gerutscht ist, hat für den Ökonomen Luis Vicente Leon andere Gründe.
"Die Wirtschaft leidet unter einem unzureichenden, interventionistischen Modell der Kontrolle durch den Staat. Sie leidet aber auch unter den Umwälzungen, den Protestkundgebungen, den Barrikaden, die die Verteilung verhindern, und unter dem Misstrauen der Investoren und der Akteure im produktiven Bereich."

Jahrelange Staatswirtschaft ist am Boden

Kein Staatsbetrieb erzielt in Venezuela Gewinn, die Zahl der Unternehmen und Wirtschaftsbetriebe hat sich halbiert. Die massiven Verstaatlichungen haben ihre Spuren hinterlassen. Die Folgen sind unübersehbar: Im Kinderkrankenhaus und gleich gegenüber, wo sich vor einem staatlichen Laden eine enorme Schlange gebildet hat. Es gibt wieder einmal Maismehl zu kaufen. Ein Mann klagt:
"Schrecklich: Seit vier Uhr habe ich in der Schlange gewartet – aber ich habe es geschafft. Die Lage ist kritisch: Wir müssen, um vier Uhr aufstehen, um etwas zu essen zu bekommen. 1.700 Bolivar habe ich für zwei Pakete gezahlt."
Bei den Spekulanten auf der anderen Straßenseite muss man das Zehnfache zahlen: Fast der Wochenlohn eines Arbeiters.

Es mangelt an fast allen Grundnahrungsmitteln Mehl, Zucker, Reis, Öl, Bohnen, Toilettenpapier – von den erwähnten Arzneimitteln ganz zu schweigen.
Immer wieder sieht man in Caracas Menschen im Müll nach Essen wühlen.
Auf einer Straße in Caracas wühlen junge Männer in Mülltüten.
Immer mehr Menschen in Caracas müssen im Müll nach Essen suchen.© Deutschlandradio / Burkhard Birke
Zwar verkauft die Regierung noch an die Armen in bestimmten Vierteln einmal im Monat über ihre Verteil- und Produktionskomitees Lebensmittelpakete zu normalen Preisen, aber die zwei Tüten Bohnen, zwei Päckchen Mehl und Zucker, das bisschen Öl reichen meist nur für wenige Tage. Der Rest müssen die Menschen auf dem Schwarzmarkt besorgt.
"Ein Päckchen Maismehl kostet 840 Bolivar. Die Schwarzmarkthändler verlangen 12.000! Dieses Geld haben wir nicht. Für ein Kilo Zucker verlangen die bis zu
10.000 Bolivar, für 2500 bekommst Du gerade genug Zucker für zwei Tage.
Die Lage ist schlimm hier in Venezuela."
In der Tat wenn für ein Päckchen Mehl und ein Paket Zucker auf dem Schwarzmarkt fast der gesamte Wochenlohn dieser Arbeiterin draufgeht. Fast täglich steigen die Preise.

"Venezolaner haben 6,3 Kilo abgenommen"

Die Folgen sind im wahrsten Sinne des Wortes unübersehbar. Der Soziologe Trino Márquez
"Der Durchschnittsvenezolaner hat im vergangenen Jahr 6,3 Kilo abgenommen. Für dieses Jahr rechnen wir mit weiteren acht Kilo Gewichtsverlust im Schnitt, wie eine Studie des Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlichen Instituts der katholischen Universität Andres Bello, der Universität Simon Bolivar und der Universidad Central ergeben hat."
Die Inflation liegt bei geschätzten 1000 Prozent. Selbst Geldscheine sind knapp, die Bankautomaten spucken höchstens noch 10.000 Bolivar aus: Gerade Mal genug für ein Sandwich und ein Getränk in einem Schnellrestaurant. Nur Dank Kreditkarten- und Überweisungen können die Banken den Geldkreislauf am Laufen halten.
Aber wie lange können die Banken das durchalten? German Garcia Velutini ist Präsident des Banco Venezolano de Credito, einer der namhaften Privatbanken:
"Die Kostensteigerungen bei Personal und Verwaltung können nur durch eine atemberaubende Ausweitung des Kreditvolumens abgefangen werden. Wenn möglich im Umfang der Inflation. Die ermöglicht es uns mehr oder weniger zu überleben."
Wie lange noch? Das ist die große Frage, die sich viele Venezolaner stellen. Aber wie es weitergeht im Land, ist weiterhin unklar. Vier Szenarien lassen sich aufstellen:

Szenario 1 – Maduro spielt auf Zeit

Die Verfassungsgebende Versammlung steht nun über allen fünf demokratischen Institutionen des Landes. Sie soll zwei Jahre tagen und anschließend ihre Vorschläge für eine neue Verfassung dem Volk vorlegen. Maduro gewinnt so Zeit und festigt seine bröckelnde Macht, da die Versammlung ihn im Amt bestätigt und das Parlament entmachtet hat.
Der venezolanische Präsident Nicolas Maduro spricht in der Verfassungsgebenden Versammlung.
Der venezolanische Präsident Nicolas Maduro© AFP / Ronaldo Schemidt
Maduro hatte ohnehin schon seit Monaten per Dekret an dem von der Opposition kontrollierten Parlament vorbei regiert. Jetzt kann er weiterhin schalten und walten, wie es ihm beliebt.
"Sie hat nicht nur die verfassungsmäßige, legale, nationale und institutionelle Kraft, sondern sie besitzt die Legitimität, die Kraft eines Volkes, das in heldenhafter Weise unter Kriegsbedingungen hingegangen ist, um zu sagen: Wir wollen Frieden, Frieden und Ruhe."
Zwar haben offiziell 8,1 Millionen Venezolaner die Verfassungsversammlung gewählt. Kritiker und die Opposition sprechen jedoch von Wahlbetrug. Meinungsforscher glauben: Mehr als zwei Drittel der Venezolaner lehnen sie ab, wollen einen Regierungswechsel. Auf sie müsste Präsident Maduro zugehen, wenn er wirklich Ruhe und Frieden will. Es ist schwer erkennbar, wie beide Seiten zusammenkommen können. Verhandlungen unter internationaler Vermittlung blieben bislang erfolglos.

Szenario 2 – Die Kritiker im Ausland erzeugen Druck

Die Generalstaatsanwältin Luisa Ortega, einst eine alte Chavez Vertraute, wurde nun zur Gegnerin: Wegen der Toten bei den Protesten, der Wahlfälschung und der Korruption hatte sie zuletzt noch Ermittlungen gegen Maduro eingeleitet, bis sie erwartungsgemäß abgesetzt wurde.
Ihrem Mann, German Ferrer, abtrünnig gewordener Abgeordneter der Sozialistischen Einheitspartei wurde die Immunität entzogen. Beide sind nach Kolumbien geflohen. Ortega brachte jetzt gegen Maduro neue Vorwürfe vor. Der venezolanische Präsident und andere Führungskräfte sollen u. a. in den Korruptionsskandal um den brasilianischen Baukonzern Odebrecht verstrickt sein.
"Venezuela ist nicht weit entfernt und die Menschen dort leiden und sterben. Wir haben viele Möglichkeiten einzugreifen, auch militärisch."
Die Worte von US-Präsident Trump waren jedoch Wasser auf die Mühlen von Nicolas Maduro, der ohnehin stets den Yankee Imperialismus angeprangert hatte, sich gleichzeitig aber wirtschaftlich immer stärker in die Abhängigkeit Chinas und Russlands begibt.
Die Antwort des venezolanischen Präsidenten auf Trump ließ jedenfalls nicht lange auf sich warten.
"Dieses Volk ist entschlossen sich diesem rassistischen, nach Vorherrschaft strebenden Volk der Vereinigten Staaten zu stellen und es zu besiegen – durch den Mut, die Tapferkeit und die Kraft der Mestizen, die uns so stolze Venezolaner sein lässt."
Je größer der Druck aus dem Ausland, destso stärker kann Maduro seine Anti-westliche Karte ausspielen. Überall in Lateinamerika – auch bei den heftigsten Kritikern der venezolanischen Führung - stößt die Option einer Militärintervention auf strikte Ablehnung. Mit Ausnahme radikaler Kräfte im Land dürfte niemand ernsthaft hoffen oder wollen, dass US Truppen einmarschieren, um Maduro zu stürzen.
Allein die Erwähnung dieser Option hat Maduro gestärkt, der jetzt Militärübungen abhalten und sein Militär säubern lässt.
Getroffen wird er allerdings von den personenbezogenen Sanktionen, die die USA gerade verschärft und ausgeweitet haben. Die Opposition wünscht sich mehr davon und dass Europa den Druck verstärkt.

Szenario 3 – Ein Putsch durch das Militär

Ist eine mögliche, wenn auch unwahrscheinliche Variante. Die Militärs genießen zu viele Privilegien. Böse Zungen behaupten sie können sich durch den Devisenhandel, Benzinschmuggel und Drogengeschäfte derart bereichern, dass sie kein Interesse an einem Kurswechsel haben.
Der Aufstand unlängst bei Valencia könnte inszeniert gewesen sein, um mögliche Schwachstellen im Militär zu orten, glauben Experten. Sie geben allerdings zu bedenken, dass einige Führungskräfte wie Verteidigungsminister Padrino nicht mit Sanktionen belegt wurden. Sollte er die Macht übernehmen, wäre er als Partner nicht vorbelastet.

Szenario 4 – Ein Bürgerkrieg in Venezuela

Dazu gibt es unterschiedliche Auffassungen. Der Politologe Nicmer Evans fürchtet die Auflösung des Staates durch den Verlust der Funktionsfähigkeit demokratischer Institutionen.
"Das könnte die Voraussetzungen für einen Bürgerkrieg schaffen."
Die Entmachtung des Parlamentes oder Abesetzung der Generalstaatsanwältin sind Beispiele für den Zerfall der Institutionen.
"Einen Krieg kann es nur geben, wenn zwei Armeen oder zwei bewaffnete Sektoren aufeinandertreffen. In Venezuela gibt es die offiziellen Streitkräfte und die von der Regierung bewaffneten Zivilisten. Demgegenüber steht eine Zivilgesellschaft, die nur in ganz geringem Umfang Zugang zu Waffen hat."
Glaubt dieser Oppositionspolitiker. Wahrscheinlicher ist da, dass sich kleine urbane Zellen bewaffneter Resistenz bilden könnten – eine Art urbaner Guerilla, wie der Luis Vicente Leon vom Think Tank Datanalisis glaubt.
"Der Kampf ist kein konventioneller Bürgerkrieg mit zwei Armeen, sondern eine Auseinandersetzung von Guerillas, von paramilitärischen Verbänden in den Städten, die das Land völlig lähmen würden."
Angesichts solcher Aussichten – die in anderen lateinamerikanischen Ländern zu tausenden Toten geführt haben – rangen sich die großen Oppositionsparteien jetzt widerstrebend dazu durch den demokratischen Weg weiter zu versuchen und an den Gouverneurswahlen im Oktober teilzunehmen. Die Hoffnungen richten sich natürlich auf die in gut einem Jahr fällige Präsidentschaftswahl, wenn diese nicht von der Verfassungsversammlung annulliert wird.
Die Aussichten sind alles andere als rosig.
Ein Graffiti auf einer Mauer in Venezuela, das ein Ende des Tötens fordert.
Ein Graffiti in Venezoelas Hauptstadt Caracas, das ein Ende des Tötens fordert. Etwa 130 Menschen wurden bei Protesten umgebracht.© Deutschlandradio / Burkhard Birke
Nachdem die Gewalt auf den Straßen weniger geworden ist, macht vor allem die katastrophale Wirtschafts- und Versorgungslage Venezuela zu schaffen. Ein drastischer Anstieg des Ölpreises ist nicht in Sicht und an einen Kurswechsel der Politik, insbesondere der Wirtschaftspolitik, wollen Kräfte wie German Garcia Velutini, Präsident des Banco Venezolano de Credito nicht glauben, denn der käme einem Schuldeingeständnis gleich.
"Die Lösung ist die Rückkehr zur Marktwirtschaft und eine politische Führung, die das Land wieder vereint."
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